Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

G


ut, dass bald Winter ist. Denn es
gibt viel, worüber man sich aufre-
gen müsste. Aber das fällt im
Sommer ja so schwer, denn eine Frau
kann nicht wütend aufstampfen, wenn
sie nichts an den Füßen trägt als eine
leichte Ledersohle mit Bändern. Es ist
also höchste Zeit, die Sandalen gedank-
lich einzupacken und sich mit dem wich-
tigsten Schuhtrend für den Herbst zu
befassen: schweren Springerstiefeln, am
besten mit traktorenreifendicken Soh-
len. Viele Designer ließen ihre Models in
solchem Kampfschuhwerk über den
Laufsteg marschieren, allen voran Miuc-
cia Prada. Allerdings sah der Rest ihres
Looks überhaupt nicht aggressiv aus.
Sondern so: obenrum verliebte Lady mit
weiblichen Ausschnitten, untenrum
Soldatin. Zu alledem wuchsen auch noch
fast verwelkte Stoffblumen aus Kleidern
und Accessoires. Aber eben nur fast. Was
man als seidenes Symbol lesen kann,
dass es echt fünf vor zwölf ist, und wir
uns jetzt mal lieber schnell bei den Frei-
tagmorgen-Demos der Kids einreihen
sollten. Im Aufbegehren liegt nämlich
etwas Tiefromantisches. Es bedeutet,
dass man die Hoffnung noch lange nicht
aufgegeben hat. Man muss dafür nicht
gleich in Combat-Garderobe in den Un-
tergrund gehen, man braucht nur das
passende Schuhwerk! Also rein in die
kiloschweren Boots und den Planeten
retten. Dass man in diesen Schuhen aber
auch tiefenentspannt durchs hundekot-
bedeckte Paris flanieren kann, ist natür-
lich ein weiteres Plus.julia werner

von silke wichert

I


m Dezember 2015 wunderte sich die
Washington Post, warum die Luxus-
branche, wenn sie denn schon ökolo-
gischer werde, das eigentlich nicht
an die große Glocke hänge. Gucci hat-
te gerade PVC von seinen Canvas-Handta-
schen verbannt und es durch den umwelt-
freundlichen Kunststoff Polyurethan er-
setzt. Es folgte aber nicht etwa eine beweih-
räuchernde Pressemitteilung mit sprießen-
den Blumen aus Doppel-GG-Taschen. Auf
der Webseite war unter den Materialanga-
ben nun lediglich von einem „earth-consci-
ous process“ die Rede. Auch das britische
MagazinDazed schlussfolgerte damals,
Nachhaltigkeit sei als Thema eben hoff-
nungslos unsexy, all die Artikel darüber
klickten nicht. Besser nicht darüber reden.
Das zumindest ist vorbei. Das Nicht-Ge-
schwätz von gestern ist das Dauerthema
der Stunde. Kein Tag vergeht, an dem
nicht eine weitere „Sustainable Capsule
Collection“ lanciert oder neue Umweltziele
ankündigt werden, flankiert von der dazu-
gehörigen Marketing-Artillerie. Prada et-
wa bringt mit „Re-Nylon“ eine Kollektion
seiner ikonischen Rucksäcke
und Taschen auf den Markt,
die aus recyceltem Nylon gefer-
tigt sind. Bis Ende 2021 will
man ganz auf das nachhaltige
Material umsteigen, die auf-
wendigen Videos dazu sind
vonNational Geographicpro-
duziert. Nach Adidas werben
jetzt auch Camper und Timber-
land mit Schuhen aus recycel-
tem Plastik, das Magazini-D
hob die Klimaaktivistin Greta
Thunberg aufs Cover. Im Salva-
tore-Ferragamo-Museum in
Florenz läuft gerade die Aus-
stellung „Sustainable Thin-
king“. Nachhaltigkeit ist offen-
bar sexy geworden.
So sehr, dass eine Top-
shop-Mitarbeiterin bei einem
Pressetermin neulich eupho-
risch die neuen „veganen“
Schuhe anpries. Auf die Frage,
aus welcher spannenden Lederalternative
die gemacht seien, antwortete sie verle-
gen: „Na ja – Plastik.“
Dabei sein ist alles.
Wer nicht dabei ist, sieht im wörtlichs-
ten Sinne nicht gut aus. Zu sehr hat sich her-
umgesprochen, dass die glamouröse Tex-
tilindustrie einer der größten Umweltver-
schmutzer überhaupt ist. Laut einem Be-
richt der Ellen McArthur Foundation war
sie 2015 für den Verbrauch von 93 Milliar-
den Kubikmeter Wasser und 1,2 Milliarden

Tonnen CO2-Ausstoß verantwortlich – das
ist sogar mehr als alle internationalen Flü-
ge. Bis 2030 soll der Wert um 49 Prozent
steigen.
Seit Jahren fordern deshalb Umweltor-
ganisationen, Aktivisten und sogar die bri-
tische Modeschöpferin Vivienne West-
wood: „Kauft weniger!“ Doch während
Second-Hand-Plattformen boomen, wird
der weltweite Modekonsum, nicht nur von
neuen Märkten getrieben, bis 2030 um vor-
aussichtlich noch einmal 63 Prozent stei-
gen. Aktuell liegt er bei beinahe unglaubli-
chen 150 Milliarden Kleidungsstücken pro
Jahr; 2012 waren es noch etwa halb so vie-
le. Letztlich müssten alle weniger konsu-
mieren und die Hersteller weniger produ-
zieren. Dies hat erwartungsgemäß aber
noch keine Marke angekündigt. Die gro-
ßen Luxuslabels knackten 2018 einen Um-
satzrekord nach dem anderen. Der Kapita-
lismus ist auf Wachstum angelegt – freiwil-
liges Schrumpfen? Null sexy.
Was also ist die Alternative? Derzeit set-
zen sich immer mehr Unternehmen ambiti-
onierte Ziele. Nachdem Adidas bereits ver-
gangenes Jahr angekündigt hat, von 2024
an nur noch recyceltes Polyester zu verwen-
den, zog die Fast-Fashion-Kette
Zara nach und gab im Juli be-
kannt, bis 2025 nur noch recycel-
te oder „nachhaltiger“ produzier-
te Materialen zu verarbeiten und
ihre Läden klimaneutral zu be-
treiben. Burberry und Levi’s wol-
len Emissionen an kontrollierten
Standorten bis 2030 um ganze
90 Prozent reduzieren.
„Diese Vorsätze haben lang-
fristig sicher die Chance, etwas
zu bewegen. Allerdings bilden
große Versprechungen nicht
zwangsläufig ein Umdenken der
ganzen Branche ab. Es gibt im-
mer noch viele Bereiche, die
kaum involviert sind“, sagt Sarah
Kent von der BranchenseiteBusi-
ness of Fashion. Ihr Jobtitel: „Sus-
tainability Correspondent“. Dass
im vergangenen Jahr bei einer
Modepublikation eine solche
Stelle geschaffen wurde, sagt
eigentlich alles aus über die Tragweite des
Themas. Aber auch einiges über dessen
Komplexität. Die Modewelt mit ihrer weit
verzweigten Lieferkette gilt traditionell als
„Black Box“. Wer, wo, was unter welchen
Bedingungen fertigen lässt, lässt sich
meist schwer nachvollziehen. Bis es gele-
gentlich zu einer Meldung kommt wie je-
ner von vor zwei Jahren, als der britische
Guardianaufdeckte, die „Made in Ita-
ly“-Schuhe von Louis Vuitton würden, von
der Sohle abgesehen, in einer Fabrik in

Transsylvanien gefertigt. „Letztlich brau-
chen wir überall mehr Transparenz“, sagt
Kent, „sonst kann man die Nachhaltigkeit
der Branche kaum bewerten.“
Das Problem ist: Bislang lassen sich laut
dem „Transparency Index“ nur wenige Un-
ternehmen in die Karten schauen, was Fer-
tigung, Verbrauch oder Verbleib von Über-
produktion angeht. Immerhin mehr als
60 Prozent der möglichen Punktzahl errei-
chen Adidas, Reebok, Patagonia, Esprit
und H&M. Chanel liegt bei zehn Prozent,
MaxMara bei weniger als zwei Prozent,
Tom Ford bei null. (Letzterer wurde dieses
Jahr zum Vorsitzenden des US-Designer-
verbandes CFDA gewählt.)
Irgendwann werden die Marken bele-
gen müssen, wie grün sie wirklich sind.
Laut einer Studie der Boston Consulting
Group geben 75 Prozent der Konsumenten
an, nachhaltige Mode sei ihnen „sehr wich-
tig“ oder „extrem wichtig“. Hauptkriteri-
um bei der Kaufentscheidung war dies
zwar bei nur sieben Prozent der Befragten.
Dafür wechselten bereits 38 Prozent zu an-
deren Marken, wenn sie deren Umwelt-
oder soziale Standards für vertrauenswür-
diger hielten. Auch Analysten für den Lu-
xussektor glauben, dass Nachhaltigkeit
zum Wirtschaftsfaktor werden wird.
Chanel gab im Juni bekannt, dass es
sich an dem Bostoner Start-up Evolved by
Nature beteiligt, das mit Seidenproteinen

als Chemieersatz bei der Behandlung von
Textilien experimentiert. Vergangenes
Jahr investierten die Franzosen bereits in
die finnische Marke Sulapac, die einen voll-
ständig abbaubaren Ersatz für Plastikver-
packungen entwickelt. Ideen gibt es ge-
nug, Sponsoren wenig. 2017 hat sich in
Amsterdam die Organisation „Fashion for
Good“ gegründet, eine Art Inkubator für
den Wandel. „Wir glauben, dass Modein-
dustrie und Nachhaltigkeit sich nicht aus-
schließen müssen“, sagt die Geschäftsfüh-
rerin Katrin Ley. „Aber die Branche hat tra-
ditionell nie viel in Innovationen inves-
tiert.“ Kreativität und Handwerk waren
stets wichtiger als neue Technologien und
Prozesse. „Sportmarken dagegen sind viel
stärker auf diesem Gebiet, sie hatten im-
mer eine Entwicklungsabteilung“, sagt
Ley. Fashion for Good fördert Start-ups,
die an nachhaltigen Lösungen arbeiten
und vernetzt sie mit Partnern, darunter
Stella McCartney, Kering, die C&A Founda-
tion und PVH Corp, Mutterkonzern von
Tommy Hilfiger und Calvin Klein.
Hinter Bext360 steckt beispielsweise
eine Blockchain, mit der die Herkunft von
Bio-Baumwolle lückenlos nachverfolgt
werden kann. „Weil hier ganz
offensichtlich betrogen wird“,
sagt Ley. „Jedenfalls ist deut-
lich mehr angebliche Bio-
Baumwolle im Umlauf, als an-
gebaut wird.“ Außerdem geför-
dert wurde Mycotex, ein ab-
baubares Pilzleder, oder Colo-
rifix, dessen natürlich gewon-
nene Färbemittel ohne Chemi-
kalien zehn Mal weniger Was-
ser verbrauchen als herkömm-
liche Methoden.
Dass nachhaltiges Denken
nicht nur gut fürs Image, son-
dern auch durchaus profitabel
sein kann, beweist die erfolg-
reiche französische Marke Ve-
ja. Die Gründer lassen ihre
Turnschuhe mit dem markan-
ten „V“ unter fairen Bedingun-
gen in Brasilien herstellen, be-
nutzen Naturkautschuk für
die Gummisohlen, achten dar-
auf, dass das Leder nicht aus dem Amazo-
nasgebiet kommt und umweltfreundlich
gefärbt wird, experimentieren mit Maisle-
der. Woher man das alles weiß? Steht alles
transparent und detailliert auf der Inter-
netseite. Im September bringt Veja den ers-
ten ökologischen „post Petroleum“-Turn-
schuh heraus, der zur Hälfte aus biologi-
schen und recycelten Materialien besteht.
Stella McCartney, die Tier- und Umwelt-
schutz von Anfang an zum Kern ihres La-
bels machte, ist nach wie vor die prominen-

teste Vertreterin nachhaltigen Luxus. In ih-
rer aktuellen Anzeigenkampagne ruft sie
zum Klimaschutz auf und fotografierte als
Models auch Mitglieder der Bewegung „Ex-
tinction Rebellion“. Größere Schlagzeilen
machte allerdings eine andere Nachricht:
Nachdem McCartney sich vergangenes
Jahr überraschend vom Kering-Konzern
getrennt hat, ist nun der Erzrivale LVMH
bei ihr eingestiegen. Details des Deals wer-
den noch bekanntgegeben, aber offensicht-
lich soll die Britin auch Beraterin von Fir-
menchef Bernard Arnault werden.
LVMH, zu dem Labels wie Louis Vuitton,
Celine und Givenchy gehören, will sein grü-
nes Gewissen offensichtlich aufpolieren,
was nicht nur Imagegründe haben dürfte.
Umdenken ist längst auch eine Frage des
Überlebens: Der Klimawandel beeinträch-
tigt stellenweise bereits die Baumwollern-
te und Kaschmirproduktion, Lieferengpäs-
se und Preissteigerungen von weiteren
Rohstoffen werden folgen.
Relativ neu ist, dass sich die Politik ein-
mischt. Im britischen Parlament wurde
ein „Environmental Audit Committee“ be-
rufen, um die Textilindustrie durch höhere
Abgaben zu mehr Nachhaltigkeit und weni-
ger Abfällen zu bewegen. Der
französische Präsident Macron
beauftragte den Kering-Chef
François-Henri Pinault, Unter-
nehmen zusammenzubringen
und Ziele zum Klimaschutz zu de-
finieren. Auf dem G-7-Gipfel in
Biarritz sollen erste Ergebnisse
diskutiert werden; die Modebran-
che steht, eher unfreiwillig, ganz
oben auf der politischen Agenda.
Gerade Kering wird in Ran-
kings häufig als „Sustainability
Champion“ im Luxusbereich be-
zeichnet, der sich in ätherischen
Imagevideos seiner Verantwor-
tung rühmt. Allerdings gehört
zum Konzern auch das Label
Saint Laurent, das für seine jüngs-
te Männershow Anfang Juni das
Modepublikum nicht wie bisher
nach Paris, sondern an einen
Strand in Malibu karrte, obwohl
ein Laufsteg dort offensichtlich
gegen die Umweltauflagen verstieß. Spä-
testens da kam dann doch mal die Frage
auf, wie nachhaltig eigentlich diese Außer-
der-Reihe-Modeschauen sind, die an im-
mer noch exklusiveren Orten stattfinden
und für ein paar Minuten Millionenbeträ-
ge sowie Tausende Flugmeilen kosten.
Just an jenem Abend war an dem betref-
fenden Strand außerdem eine seltene
Fischart zum Laichen erwartet worden.
Stattdessen liefen dann Models in schil-
lernden Anzügen über den Sand.

Für sie: Auf in


den Kampf


Für ihn: Boden


unter den Füßen


W


o die Damen diesen Herbst
überall mit Springerstiefeln
flirten können, tun sich die
Herren ein wenig schwer – egal wie fa-
shionable der Schuh gerade geworden
ist. Aber vor allem in England und
Deutschland hat diese Stiefelgattung
eben immer noch eine schwierige Stahl-
kappen-Vergangenheit und ist aus der
Gemengelage von Punk-, Skin- und
Neonazi-Kultur nur schwer zu lösen.
Gut, dass viele Häuser deswegen jetzt
eine etwas entschärfte Version dieser
„Bovver Boots“ zeigten – wie hier etwa
die Marke Hermès. Ziemlich klobig und
schwarz bleiben die Stiefel auf jeden Fall,
aber eben nicht unbedingt so aggressiv
wie die Vorfahren. Was für Sneakers und
Sandalen schon galt, gilt eben auch hier
wieder: Ohne brutalistische Formgebung
geht es derzeit am Fuß nicht. Aber wenn
man sich die dicken Rahmen und wuchti-
gen Sohlen ein bisschen wegdenkt – und
bei schwarzen Schuhen geht das ganz
gut – nähert sich die Mode damit eigent-
lich dem historischen Herrenschuh an.
Denn der war ja ursprünglich keines-
wegs ein Halbschuh, sondern bedeckte
selbstverständlich den Fuß bis weit über
den Knöchel. Gut so! Nicht nur für einen
sicheren Auftritt und einen gewissen
Schutz gegen rabiate E-Scooter-Fahrer.
Auch die Landplage der flippigen
Strümpfe, die aus jeder zweiten Herren-
hose ragen, wäre damit ein bisschen
einzudämmen. Streng, schwarz, stark –
der Mann versucht diesen Winter jeden-
falls, ein bisschen sicheren Boden zurück-
zugewinnen. max scharnigg

Sogar die
britische
Designerin
Vivienne
Westwood
fordert:
Kauft
weniger!

LADIES & GENTLEMEN


Das ganze
Thema ist
nicht nur
gut fürs
Image,
sondern
auch
profitabel

Irgendwann werden
die Marken belegen
müssen, wie grün
sie wirklich sind.
Laut einer Studie
der Boston Consulting
Group geben 75 Prozent
der Konsumenten an,
nachhaltige Mode sei
ihnen „sehr wichtig“
oder „extrem wichtig“.
Allerdings kaufen
sie immer noch nach
anderen Kriterien ein.
FOTO: STELLA MCCARTNEY

Planet Mode


Die Textilindustrie ist einer der größten Umweltverschmutzer. Mittlerweile bemühen sich


viele Firmen um Nachhaltigkeit, denn irgendwann macht der Kunde nicht mehr mit


DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 57


STIL


Beim Design von Schulranzen haben
Eltern undKinder sehr unter-
schiedliche Vorstellungen  Seite 58

Tragwerk


RELEASED


BY

"What's

News"

VK.COM/WSNWS

t.me/whatsnws
Free download pdf