Der Tagesspiegel - 24.08.2019

(Nora) #1

Samstagmorgen:Klar ist Berlin der Mit-
telpunkt der Welt. Wir werfen trotzdem
zunächst einen Blick nach Dresden. Und
nicht nur einen Blick. Zwischen 8 und 9
Uhr schickt die Bahn Sonderzüge zur Un-
teilbar-Demo – und zwischen 22 und 23
Uhr zurück nach Berlin. Wahrscheinlich
ist das nur knapp zu früh, um vorher
noch einen formidablen Kaffee im Dom-
berger Brotwerk zu sich zu nehmen (Es-
sener Straße 11, ab 8 Uhr). Und zu spät,
um abends noch was von den Philharmo-
nikern mitzubekommen, die sich mit Ki-
rill Petrenko um 20.15 Uhr am Branden-
burger Tor auf den bevorstehenden ge-
meinsamen Weg einstimmen.
Samstagmittag:Einen anderen Weg geht
dieFührung imHamburgerBahnhofzum
Thema„Sprechen überKunst“. Kunst-
undMuseumspädagoginEva Sturmwill
um16.30 UhrungewöhnlicheZugänge
zurlaufendenAusstellung „JackWhitten
–Jack’s Jacks“ eröffnenundmit Ihnen
drüberreden. Eintritt8Euro, 4ermäßigt.
SovielRaum demeinen großenNamen,
sowenig den vielenkleinen: Um16Uhr
istin den Uferhallen (Uferstraße8) Aus-
stellungseröffnung zumThemaprekäre
Arbeitsbedingungen vonKunstschaffen-
denmit Werken von65 Künstlerinnen.
WieheißtesimMarketingsprech: Ein
Nameist eineGeschichte fürs Herz, 65
sindeineStatistik. Wirwollen doch hof-
fen, dass unsere Medienkompetenz uns
indieser Hinsichtetwas schlauermacht.
Samstagabend:Von den Uferhallen zum
Verhallen: Manche Musiker sind gebo-
rene Solisten, andere bessere Team-
player. Man kann Musik als soziales
Ereignis denken oder radikal essenzialis-
tisch. An ihre Grenzen kommt solche
Dialektik an Orten wie dem großen
Wasserspeicher im Prenzlauer Berg, in
dem solistisches und Zusammenspiel im
spektakulärsten Nachhall der Stadt
verschwimmen. Es ist nämlich, als spiele
man mit einer anderen, alten Version
seiner selbst, wenn man hier Musik
macht. Diese Erfahrung macht heute
Abend auch Saxofonist und Synthesist
Thomas Ankersmit. Einlass Belforter
Straße um 20 Uhr, Eintritt 10 Euro.
Bitte warm anziehen, es ist recht frisch
im Gemäuer.
Sonntagmorgen:Vom unterirdischen
Funktionsgemäuer zu Frischluft und
kühlem Wasser: An den Wannseeterras-
sen gibt es heute für 39 Euro ein Glas
Champagner samt offenem Brunch-Buf-
fet von 10 bis 14 Uhr. „Showcooking“
und ein bisschen kurzweiliges Randpro-
gramm mit Seeblick gibt es nebenbei.
Die Verfügbarkeit von Tickets unter-
streicht den Eventcharakter – zu bezie-
hen über 030 80 90 82 18 oder E-Mail
an [email protected].
Sonntagmittag:Für die Flanerie ist
Berlin klassischerweise prädestiniert.
Bei wem allerdings schondieVorstel-
lung,sichalles perpedes zu ergehen, den
Wunschnach Wadenmassagenweckt,
könnte imBerliner ZimmerimMärki-
schenMuseumeinemilde Abkürzungfin-
den– oder vielfältige Gründe,sich bei
nächstmöglicherGelegenheit doch noch
selbstaufzumachen. DieKünstlerin
Sonya Schönbergerlässt Berlinerinnen
undBerlinerin zuvor aufgezeichneten
Interviews zumThema Stadtplanungzu
Wort kommen. ImPodiumsgespräch
dazu diskutieren diePlanerJürgen Ledder-
bogeundChristian von Oppen, es mode-
riertder Berliner AutorSebastian Orlac.
DerEintrittist frei.
Sonntagabend:Es scheint paradox: Tanz
gilt als immaterielle Kunstform, weil er
keine materiellen Erzeugnisse hinter-
lässt. Zugleich ist er aber die körper-
lichste aller Künste – und welche Erfah-
rung von Materialität könnte intensiver
sein als die des eigenen Körpers? Wo
diese scheinbare Paradoxie eine Rolle
spielt, ist in der Tradition, das heißt in
der Weitergabe von Wissen über den
Tanz von Generation zu Generation.
Und eben um die Aktualität des Tanzer-
bes und darum, was der Körper erin-
nert, geht es auch bei „Fase, Four Move-
ments to the Music of Steve Reich“. Das
weltbekannte Stück stammt von Tänze-
rin und ChoreografinAnne Teresa De
Keersmaeker, die es unzählige Male auf-
geführt hat. Nun hat sie es an zwei junge
Tänzerinnen ihres Vertrauens weiterge-
reicht, und was die damit tun, ist um 20
Uhr in der AdK am Hanseatenweg gegen
28 / 18 Euro zu sehen.


— Eine längere Fassung dieser Wochen-
end-Kolumne von Thomas Wochnik fin-
den Sie unter checkpoint.tagesspiegel.de
.


WOCHNIKS Wochenende


Berlin, Köthener Straße, Hansa Studios.
An der Wand Goldene Schallplatten, Bil-
der von David Bowie, der hier „Heroes“
aufgenommen hat. Depeche Mode, Nick
Cave, Udo Jürgens oder Roland Kaiser ha-
ben in den Hansa Studios produziert. Er ist
hier auch zu Hause: Peter Maffay emp-
fängt und gibt Interviews am historischen
Ort. Am 30. August wird er 70, ein neues
Album („Jetzt“, bei Sony) erscheint, mit ei-
nem Konzert in der Columbiahalle wird er
in den Geburtstag hineinfeiern. Wir sitzen
im Studio zwischen Schlagzeug und Kla-
vier. Maffay wirkt gelöst, ausgeruht, reflek-
tiert. Geboren 1949 in Brasov, Rumänien,
schaut er auf eine lange und unwahrschein-
liche Karriere zurück. Über 50 Millionen
verkaufte Tonträger, 18 Nummer-eins-Al-
ben, ausverkaufte Tourneen, Vater des Ta-
baluga-Drachenmärchens, ein gemeinnüt-
ziger Verein, vier Ehen. Wenn es ewige Ju-
gend gibt, dann möchte man vielleicht so
altern.

Herr Maffay, wir haben gerade Ihr neues
Album angehört, dabei sind mir zwei Lie-
der aufgefallen, „Morgen“ und „Größer als
wir“. Das eine ist ein klassisches Protest-
lied, das andere dreht sich um ein höheres
Wesen. Beschäftigen Sie sich mit Gott?
Das habe ich eigentlich immer getan, da
gibt es über die Zeiten eine Reihe von
Songs dazu. Jetzt hat das Thema durch
die vielen religiös begründeten Konflikte
in der Welt für mich eine andere Färbung
bekommen. Ich frage mich, warum schaf-
fen wir es nicht, zu akzeptieren, dass es
den Einen gibt und keiner den Anspruch
erhebt, den Besseren zu haben.

Sind Sie religiös aufgewachsen?
Eigentlich nicht. In Rumänien bin ich in
die atheistische Staatssicht hineingebo-
ren worden. Kirchliche Aktivitäten wur-
den bestenfalls toleriert. Ich hatte mit
Religion nicht viel zu tun. Mein Anteil
am Gottesdienst beschränkte sich da-
rauf, dass ich mit zwölf, 13 Jahren auf
dem Blasebalg herumhüpfte, damit der
Organist in der Martinskirche spielen
konnte.
Mit Ihrem gemeinnützigen Verein Horizon
e. V. haben Sie vor einigen Jahren diese Kir-
che restauriert.
Ja, das Dach und die Orgel. Ich war jetzt
wieder einmal dort.
Es zieht Sie immer wieder zurück. Man
reist wohl nie ganz aus?
Das Datum der Ausreise weiß ich genau.
Es war am 23. August 1963, da gingen
wir nach Deutschland. Aber so einfach
war es nicht. Wenn man einen Ausreise-
antrag gestellt hatte, outete man sich als
jemand, der den Staat ablehnte. Und der
Staat reagierte damit, dass man für die
Rückgabe der Staatsbürgerschaft bezah-
len musste. Die hatten in ihre Bürger in-
vestiert, so wurde das gesehen. Sie woll-
ten Geld, Valuta. Sie verdienten an den
Auswanderern. Meine Großmutter hat
ihre Ersparnisse dafür gegeben. Mein Va-
ter musste etliche Male bei der Securitate
antreten und erklären, warum die Familie
ausreisen wollte. Und schon vorher hatte
er mit der Staatssicherheit zu tun, weil
ihn die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
eingezogen hatte. Er war auf der falschen
Seite, mit 17! Kanonenfutter! Es dauerte
anderthalb Jahre vom Antrag bis zur Aus-
reise, so lange mussten wir warten. Mein
Vater wurde arbeitslos, meine Mutter
konnte nichtarbeitengehen.Um zu über-
leben, verkauften wir das wenige, das wir
besaßen.

Auch Herta Müller, die Literaturnobel-
preisträgerin, stammt aus Siebenbürgen.
Sie reiste erst 1987 in die Bundesrepublik
aus. Haben Sie sich einmal darüber ausge-
tauscht?
Wir haben uns einmal in Berlin getroffen.
Herta Müller war erschreckend ehrlich.
Sie sagte: „Ich habe lange Zeit überhaupt
nichts von Ihnen gehalten.“
Sie mochte wohl Ihre Musik nicht?
Ich war sprachlos. Sie meinte: „Sie hatten
doch so viele Gelegenheiten, sich über
die Verhältnisse in Rumänien zu äußern,
und haben es nicht getan.“ Ich gebe zu,
der Vorwurf war damals gar nicht unbe-
rechtigt. Sie ist radikal, sie nimmt kein
Blatt vor den Mund. Ich aber war, als ich
aus Rumänien kam, politisch überhaupt
nicht informiert. Ich musste mir erst
draufschaffen, was sie schon lange drauf-
hatte. Es hat bei mir etwas gedauert, bis

ich begriffen habe, dass man mit Musik
auch etwas anderes transportieren kann
als „Ich liebe dich“.

Es war also Sommer, sie waren 14, als die
Ausreise in den Westen endlich klappte.
Wir zogen nach Bayern, nach Waldkrai-
burg, in eine neue Stadt, die auf Bun-
kern und ehemaligen Munitionsfabriken
gebaut war. Dort wohnten viele neue
Bürger, die aus Böhmen oder Rumänien
kamen. Ich stieg in eine Schülerband
ein und verlor das Interesse an allen
anderen schulischen Themen. Im letzten
Jahr im Gymnasium habe ich 85 Tage ge-
fehlt.

Und es wurde nichts mit dem Abitur?
Mein Vater schickte mich nach München
in eine Lehre als Chemigraf, die ich auch
nicht zu Ende gebracht habe. Mir war
klar, dass ich Musik machen wollte.
Meine Eltern hat das erschreckt, mich
nicht. Ich dachte nicht darüber nach,
dass eine Musikkarriere auch sehr kurz
sein kann.

Das trifft auf etliche Ihrer Kollegen von da-
mals zu. Sie sind nicht mehr da oder müs-
sen kämpfen. Sie gehören zu den wenigen
Überlebenden dieser Schlager- und
„ZDF-Hitparade“-Zeit.
Naja, einpaar Dinosaurier gibtesnoch in
diesem Zirkus.

Sie feiern mit einem Konzert in Berlin in
Ihren 70. Geburtstag hinein, und 2020 ge-
hen Sie auf 50-Jahre-Jubiläumstour. Das
ist eine gewaltige Zeitspanne. Erinnern Sie
sich noch, was Sie an Ihrem 20. Geburtstag
gemacht haben?
Nein, keine Ahnung. Aber es war das ent-
scheidende Jahr. Michael Kunze hatte
mireinenPlattenvertragbesorgt, wirnah-
men „Du“ auf. Und dann ging es los.
Über die Konsequenzen des Daseins als
Schlagersänger habe ich natürlich damals
nicht nachgedacht. Es war ein großes
Abenteuer. In München hausten wir zu
viert in einer Bruchbude, ich hatte in der
Lehre 125 Mark monatlich. Und plötz-
lich fahre ich mit einem alten VW-Käfer,
den ich mir gekauft hatte, mit meiner Gi-
tarre,zweiPlaybacks undmeinemSchlaf-
sack durch Deutschland und fange an zu
tingeln. Und verdiene am Abend, was ich
bis dahin im Monat hatte. So fuhr ich von
einer Disko zur nächsten, klopfte an der
Türund sagte:Hallo,ich binPeterMaffay
und soll heute hier spielen – na, dann
komm mal rein. So lief das damals. Am
nächsten Morgen war ich wieder auf der
Autobahn. So lernte ich Land und Leute
kennen.

Und Sie haben eigentlich immer auf
Deutsch gesungen.
Das war eine frühe Entscheidung. Es gab
auch Projekte, wo ich englisch gesungen

habe. Aber mein Publikum ist ein deut-
sches und versteht mich in dieser Spra-
che am besten. Nun gut, man hat lange
gesagt, dass das Deutsche für die anglo-
amerikanische Musik, die wir adaptiert
haben, ein bisschen sperrig ist. Es dau-
erte eine Weile, bis klar wurde, dass man
genauso gut auf Deutsch singen kann.

Wir sprechen jetzt von den 70er Jahren?
Da kam plötzlich einer, das war Udo Lin-
denberg, der benutzte die deutsche
Sprache so, dass sie mit der Musik ein-
herging und kompatibel war. Mit seinen
Formulierungen, seiner Diktion, seinen
typischen Wendungen klang das alles
ganz anders. Die deutsche Sprache ist
so reichhaltig, man muss nur lernen,
damit umzugehen.

Man hört es beim „Morgen“-Lied auf Ih-
rem neuen Album. Es steckt voller Wut und
Furcht, das Video zeigt Hitler und
Nazi-Aufmärsche, Donald Trump und zer-
störte Umwelt. Sie singen einen harten
Text: „Bilder von Kindern mit durstigen Au-
gen/Fanatiker töten mit Messern und nen-
nen das Glauben/Jeder schmeißt Bomben
für den eigenen Frieden/Und Menschen
werden umgebracht/Weil sie die Falschen
lieben ...“ Wie ist dieses Lied entstanden?
Es ist das härteste Video, das wir je ge-
macht haben. Es zeigt aber nur einen Teil
der Realität, die jeden Tag stattfindet.
Mein Sohn ist 16 Jahre und meine kleine
Tochter ist neun Monate alt. Mich be-
schäftigt deren Zukunft immens, und ich

kann mir keine Mutter und keinen Vater
vorstellen, denen es nicht auch so geht.
Wegducken ist keine Alternative. Wir
müssen etwas tun, uns zusammenschlie-
ßen, Mehrheiten bilden und auf die Ent-
wicklung positiv einwirken. Die Klima-
verschiebung ist da. Wer das negiert, hat
den Schuss nicht gehört.
Das Video soll schockieren?
Es geht nicht darum, einen Song interes-
sant zu machen, es geht uns in der Band
darum, unser Empfinden widerzuspie-
geln. Die Welt draußen ist viel brutaler
alsdiepaarBilder,diewir dazeigen.Wol-
len wir wieder warten und zusehen, wie
Hakenkreuze an die Wand geschmiert
werden, bis es wieder zu spät ist?

Ich erinnere mich an Ihren recht plakati-
ven Song „Eiszeit“.
Das war Mitte der achtziger Jahre, die
Zeitder atomaren Bedrohung und Aufrüs-
tung, und wir sind keinen Schritt weiter,
im Gegenteil. Das Album heißt „Jetzt“.
Also: Machen wir zum Jubiläum irgend-
welche Remakes oder positionieren wir
uns in der Gegenwart? Diese Frage haben
wir uns in der Band gestellt.

Ein bisschen Retrospektive ist jetzt aber
schon dabei. Das Lied „Tausend Wege“
könnte Ihre Version von Sinatras „My
Way“ sein, oder?
„Tausend Wege“, das ist ein Bild. Ich will
Ihnen die Geschichte erzählen. Sie hat
mit einem Aquarium zu tun, das damals
inKronstadt in unserem Wohnzimmer
stand. Als kleiner Junge saß ich davor
und träumte, wir hatten ja keinen Fernse-
her. „Tausend Wege“ bin ich seitdem ge-
gangen, mit diesen Träumen. Jetzt
schließtsich jetztder Kreis. Alles ist erle-
digt. Und es beginnen die nächsten tau-
send Wege in die Zukunft.
Das klingt versöhnlich. Aber Sie sind lau-
ter geworden, härter im Text und auch in
der Musik.
Ich bin nicht unglücklich darüber, dass
ich nicht am Anfang schon laut war und
amEnde leise. Manplant dasja nicht. Mu-
sik entsteht nicht am Reißbrett.

Sie hatten früh eine Nummer eins im Schla-
ger, eben mit dem großen „Du“ im Jahr

1970. 1979 erschien das „Steppenwolf“-Al-
bum, ein anderer Maffay. Wie schwierig
war Ihr Wandel zum Rockmusiker?

Diese Metamorphose war enorm wich-
tig. Sie hat bei mir Renitenz erzeugt. Au-
gen zu und durch: Es musste sein.


Als wir vor zehn Jahren, zu Ihrem 60. Ge-
burtstag, ein Gespräch führten, sagten Sie,
in Ihrem Leben sei im Grunde alles gut ge-
laufen, und Sie fügten hinzu: „Erdgeschicht-
lich betrachtet ist das alles sowieso nicht
relevant“. Treffen wir uns in zehn Jahren
wieder, zum 80.?
Gerne! Lassen wir es auf uns zukommen.

— Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.

Der nachdenkliche Rocker. Das Motorrad steht vor der Tür, die Tattoos sitzen bei Peter
Maffay immer noch gut. Foto: W. Köhler

In dem Begriff „konservativ“ schwingen
Recht und Ordnung mit, Sicherheit und
Sekundärtugenden, heteronormative
Kleinfamilien, religiöser Glaube, etwas
Spießertum und die schwäbische Haus-
frau, von der Angela Merkel einst sprach.
Aus dem Lateinischen übersetzt heißt
das Wort „conservare“ „bewahren“ und
„beibehalten“. In der Medizin ist mit ei-
ner konservativen Behandlung eine scho-
nende, vorsichtige Therapie gemeint,
möglichst ohne chirurgische Eingriffe.
In seinem ersten Brief an die Thessalo-
nicher empfiehlt der Apostel Paulus:
„Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“
Der Brief liest sich wie eine Urform des
Konservatismus. „Tröstet die Kleinmüti-
gen, tragt die Schwachen, seid geduldig
mit jedermann, seht zu, dass keiner dem
andern Böses mit Bösem vergelte.“
DerKonservative ist nicht gern radikal,
Neuerungen steht er zunächst ablehnend
bisskeptischgegenüber. DerBegriff„kon-
servative Revolution“, wie er in der Wei-
marer Republik entstand und dezidiert
völkische, antidemokratische und antili-
berale Strömungen bezeichnete, die spä-
ter in die Ideologie des Nationalsozialis-
mus mündeten, ist ein Widerspruch in
sich. Der Konservative ist vieles, nur kein
Umstürzler. Lieber eine schlechte stabile
Ordnung als gar keine.
Eine andere, pointierte Definition der
konservativen Grundhaltung stammt von
demenglischenPhilosophenMichael Oa-
keshott. Der Konservative, schreibt Oa-
keshott, „zieht das Vertraute dem Unbe-
kannten vor, das Bewährte dem Unbe-
währten, die Tatsache dem Mysterium,
das Vorhandene dem Möglichen, das Be-
grenzte dem Unbegrenzten, das Nahe
dem Fernen, das Ausreichende der Über-
fülle, das Zweckmäßige dem Perfekten
und die Freude im Jetzt dem utopischen
Heil“.
Insofern sind Konservative das genaue
Gegenteil von sogenannten Rechtspopu-
listen. Eine gigantisch hohe Staatsver-
schuldungsrate,wiesieUS-PräsidentDo-
nald Trump zu verantworten hat, lehnen
sie ab. Vor den Unwägbarkeiten eines
No-Deal-Brexits, mit dem der britische
Premierminister Boris Johnson liebäu-
gelt,grautihnen.Dieoftantiwissenschaft-
liche Einstellung von Klimawandelleug-
nern und Impfgegnern ist ihnen zuwider.
In der Islamfeindlichkeit der AfD wittern
sieeinenAngriffaufdieReligionsfreiheit.
Das Sprunghafte und Unernste, mit dem
TrumpundJohnsoninderPolitikkokettie-
ren, ist ihnen charakterlich zuwider. Als
ebensoabstoßendempfindensiediefrau-
enfeindlichen und rassistischen Bemer-
kungen eines Trump. Verschwörungs-
theorien über angebliche Machenschaf-
teneines„tiefenStaates“haltensiefürun-
belegt,wennnicht gar absurd.
Links-undRechtspopulisteneintdiera-
dikale Attitüde, die Härte im Ausdruck,
dieBereitschaftzurRevolution,diePolari-
sierungslust, der ideologisch motivierte
Furor. Nach dem alten Sponti-Motto:
Machtkaputt,waseuchkaputtmacht.Die
Ziele mögen unterschiedlich sein, doch
die Wege dahin ähneln sich. Oskar Lafon-
taine und Alexander
Gauland stehen sich
jedenfalls näher als
AliceWeidelundAn-
negret Kramp-Kar-
renbauer.
Denn rechts hat
mit konservativ
nichts zu tun. Ein
Rechtspopulist, der
sich konservativ
nennt, lügt. Er stellt
sich in eine Tradi-
tion, die ihm nicht gehört. Er bean-
sprucht Tugenden für sich, gegen die er
agitiert. Rechtspopulisten verachten die
bürgerliche Ordnung, die Konservative
bewahren wollen.
Im Osten Deutschlands nehmen
AfD-Anhänger Anleihenbei Bürgerrecht-
lern und Willy Brandt. Sie wissen, dass
sie den politischen Gegner damit kräftig
ärgern können. Auch Ronald Reagan
wird gern herbeizitiert, wennRechte sich
als Konservative ausgeben. Der US-Bot-
schafter in Deutschland wiederum, Ri-
chard Grenell, führt Besucher gern zur
neuen Ronald-Reagan-Terrasse mit Blick
über das Brandenburger Tor.
Reagan schätzte eine freie Presse und
den Wert von Einwanderung. Seine letzte
Rede als Präsident war eine Art Liebeser-
klärung an Migranten. „Wir sind führend
in der Welt, weil die Stärke unseres Lan-
des und unserer Nation aus jedem Land
und jeder Ecke dieser Welt stammt“,
sagte Reagan. „Jeder Mensch von überall-
her kann nach Amerika kommen und
Amerikaner werden.“ Malte Lehming

„Paris Calligrammes“: Ulrike Ottinger im Haus der Kulturen – Seite 26


KULTUR


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Das


Sprunghafte
von Trump ist

echten
Bewahrern

zuwider


48 Stunden Berlin


SONNABEND, 24. AUGUST 2019 / NR. 23 924 WWW.TAGESSPIEGEL.DE/KULTUR SEITE 25


Konservativ


ist nicht


gleich rechts


Warum man die Begriffe


auseinanderhalten sollte


„Wollen wir warten und zusehen?“


Peter Maffay wird 70. Er hat als Pop-Künstler fast alles erreicht. Und er ist wütend. Ein Gespräch


über Gott und die bedrohte Welt, die Kindheit in Rumänien – und Herta Müller


Klimaverschiebung, Neonazis:
Das neue Album ruft
zum Handeln auf

Er spielte in einer
Schülerband und schwänzte

ausgiebig den Unterricht


JETZT IM KINO

VOMREGISSEURVONEIN FLIEHENDES PFERD
#1 UNDDEMAUTORVONFAMILIENFEST

DER^
ARTHOUSE-
CHARTS

„Über diesen Film sprechen (Ehe-)Paare
in ganz Deutschland!“

MARTINA
GEDECK

ULRICH
TUKUR
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