Der Tagesspiegel - 24.08.2019

(Nora) #1
Zu einem „frisch-fröhlichen Wochen-
ende“ludHans-WernerRichter1947eine
HandvollAutorenseinesZeitschriftenpro-
jekts„Skorpion“aufdasGutBannwaldsee
bei Füssen ins Haus von Frau Schnei-
der-Lengyel ein: „Wir können baden, fi-
schen, uns unterhalten, vorlesen etc.“
Doch nicht der „Skorpion“, von dem nur
ein Probeheft erschien, sondern die
Gruppe47wurdeandiesemWochenende
aus der Taufe gehoben. Richters Einla-
dung klang feudaler als die Realität vor
Ort: Das Gut bestand vor allem aus dem

einstöckigen Haus am See, das nicht alle
Teilnehmeraufnehmenkonnte,sodasssie
auchaufandereQuartiereverteiltwerden
mussten. Und das Fischen war vor allem
Sache der Gastgeberin, die morgens um
vier das Mittagessen für ihre Gäste an-
gelte:ObHechtoderZander,dagehendie
Erinnerungen auseinander.
Richter hat ihre Rolle später auf die der
Gastgeberinreduziert,obwohlIlseSchnei-
der-Lengyel mit eigenen Gedichten an
den Lesungen teilnahm und im „Skor-
pion“ mit Porträts von Sartre und Valéry
vertreten war. Sie selbst verstand sich als
Wegbegleiterin der Pariser Surrealisten
(zu denen sie großzügig auch Sartre
zählte), denen sie während ihrer Pariser
Jahre nach 1933 nahestand.
Damals war sie mit ihrem Ehemann,
dem ungarischen Juden Laszlo Lengyel,
vor den Nazis nach Frankreich ausgewi-
chen, obwohl sie in Deutschland weiter
ihre Eltern besuchen konnte, von denen
sie 1946 erbte. Zwischen Bannwaldsee
und Paris entstanden ab 1942 ihre ersten
Gedichte. Sie hatte am Lettehaus und bei
Moholy-Nagy Fotografie studiert, dane-
ben war sie Kunstethnologin aus Leiden-
schaft. Ihr erstes Buch „Die Welt der
Maske“, von Wilhelm Hausenstein ge-
rühmt,vom„VölkischenBeobachter“ver-
rissen, erschien 1934 bei Piper. In Öster-
reich, Frankreich und der Schweiz reüs-
sierte sie als Fotografin und wurde Mitar-
beiterinder Zeitschrift„Verve“.
Unter den politisch Engagierten der
Gruppe47warsieeineExotin;ihreLesun-
genstießenaufhöflichesBefremden.Nur

dererstzurzweitenTagunganwesendeAl-
fred Andersch entdeckte sie für seine
Buchreihe„studiofrankfurt“,woihreinzi-
ges Lyrikbuch „september-phase“ mit der
Ankündigung erschien, hier werde „end-
lich der wahre Surrealismus zum deut-
schen Sprachereignis.“ Andersch bot ihr
auch im Hörfunk eine Bühne für ihre
Sammlungvon„DichtungenderNaturvöl-
ker“ unter dem Titel „Totem und Trom-
mel“. Das Manuskript fand Peter Braun
jetzt im Nachlass der 1972 verstorbenen
Autorin, zusammen mit mehreren Map-

pen von Gedichten, einem unveröffent-
lichten „Atomdrama“, einer Studie über
mythische und magische Kunst und ei-
nemapokalyptischenRoman„DerGarten-
zwerg“.SchonseineersteFassungals„ex-
perimenteller Kurzroman“ erschien dem
Lektorat des Luchterhand Verlags als zu
„esoterisch, kryptisch, schlechthin ver-
wirrend“. So verlor sich ihre Spur – zum
letzten Mal besuchte sie 1960 ein Treffen
der Gruppe 47. 1958 beklagte sie sich
beim Landesentschädigungsamt, sie sei
LeidtragendedesWirtschaftswunders.In
den sechziger Jahren musste sie See und
Haus verkaufen und behielt nur noch ein
Wohnrecht imersten Stock.
1969wurdesie„völligverwirrtundver-
wahrlost“inKonstanzaufgegriffenundin
die Psychiatrie eingeliefert, wie Gerhard
Köpf ermittelte. Peter Braun fand nur
noch ihre leere Krankenakte. Sein Buch
verzeichnet ihren reichen Nachlass mit
ausgewählten Textproben. So bleibt sie
wohl weiter vor allem als „schillernde Fi-
gurdesAnfangs“imGedächtnis,wieHel-
mut Böttiger sie in seiner Geschichte der
Gruppe47nennt. Hannes Schwenger

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„Den Typus des Flaneurs schuf Paris“ –
so heißt es bei Walter Benjamin in sei-
nem fragmentarisch gebliebenen und
posthum erschienenen „Passagen-Werk“,
daser währendseinerPariserExilzeit ver-
fasste. „Gehen und Sehen wurde zu mei-
ner aufregendsten Beschäftigung“ – so
heißt es bei der Malerin, Fotografin und
Filmemacherin Ulrike Ottinger im Kata-
logtext „Mémoires de Paris: eine kleine
Flânerie“, in dem sie an ihre Stadterkun-
dungen in den 1960er Jahren erinnert.
In der Tradition der Flânerie sucht die
Ausstellung „Paris Calligrammes. EineEr-
innerungslandschaft von Ulrike Ottin-
ger“ Orte auf, die für die Künstlerin per-
sönlichbedeutsamwaren. Als Protagonis-
tin der Ausstellung
ist die Stadt Paris für
Ottinger zugleich
materiell und mär-
chenhaft,in ihrkreu-
zen sich Wirklich-
keits- und Imaginati-
onsräume: „Beim
Flanieren durch die
Stadt überlagern
sich die reale Topo-
grafie der Straßen,
Quaisund Plätze mit
ihren Spuren der französischen Dekolo-
nialisierung, des Algerienkrieges und der
Studentenrevolte von 1968 mit meiner
imaginierten Stadt der bildenden Künste,
der Musik und Literatur.“
Für die Ausstellung hat Ulrike Ottinger
ein schönes Display entworfen, eine Art
stilisierte Straßenlandschaft, in der sich
die Wege weiten und verengen, in eine
Passage und drei unterschiedliche, teil-
weise auch farblich voneinander abge-
setzte Ausstellungsräume führen. Dieser
Boulevard ist auch eine Metapher für
ständig wechselnde Blickpunkte, aus de-
nen sich sukzessiv Geschichten bilden.
Ottingers Erinnerungslandschaft ist
nicht linear und nicht stringent.
„Paris Calligrammes“ ist eine große
Mixed Media Show, variiert diverse Prä-
sentationsformen und trägt unterschied-
lichste Materialien zusammen: alte Film-
fragmente mit und ohne Ton, Schwarz-
weißfotografien, Filmplakate, Intervie-
waufnahmen, Zeitungen als vergrößerte
Faksimiles, Drehbuchauszüge zum Film
„Paris Calligrammes“, eine umfangreiche
Sammlung kolonialer Bildpostkarten und
vieleBücher ausOttingers Bibliothek, wo-
bei besonders das Gästebuch der von
Fritz Picard geführten Librairie Calli-
grammesmit seinenEinträgen und Zeich-
nungen deutscher und französischer
Avantgardisten aus Literatur und Kunst
bezaubert.
Ein Ausstellungsraum widmet sich die-
ser kleinen Buchhandlung in Saint-Ger-
main-des-Prés, die vornehmlich antiqua-
rische und deutschsprachige Literatur
führte und in der Ottinger zurückge-
kehrtedeutscheEmigrantenund französi-
sche Künstler und Intellektuelle traf. Ein
der Buchhandlung nachempfundenes
Schaufenster ist wie zu Zeiten von Picard
mit Ottingers Büchern eingerichtet und
zeigt einige Interviews mit Picard und
mit dem Schriftsteller Walter Mehring,


der über sein Leben im Exil und sein
Buch „Die verlorene Bibliothek“ spricht.
Beim Betreten springen die leuchten-
den Farben der Wandteppiche vor ultra-
marinblauen Wänden sofort ins Auge.
Für die Ausstellung hat Ottinger ihre frü-
hen, in den 1960er Jahren entstandenen
Siebdrucke als Wandteppiche nähen las-
sen: In knalligen Farben bezieht sich die
Bildererzählung „Journée d’un G.I.“ auf
den Vietnamkrieg. In textlosen Sprech-
blasen übt die episodenartige Erzählung
humorvoll Kritik an Gewalt, Sexismus
und kultureller Vormachtstellung.
Darüber hinaus zeigt die comicstripar-
tige Serie Ottingers frühes Interesse am
nichtlinearenErzählen undan ausdrucks-
starken Bildkompositionen. Der textile
Ausgriff in die dritte Dimension mit Pail-
letten und Perlen, mit Filz, Fell und Flo-
katilässtdasVerspielte und Verschmitzte
noch stärker in den Vordergrund treten.
In Variation und Vergrößerung bekom-
men nicht nur die Motive eine neue
Form, auch die Erinnerung wird transfor-
miert. In Korrespondenz mit diesen

Wandteppichen präsentiert Ottinger im
Rahmen des Rencontres-Festivals Wil-
liam Kleins filmische Politsatire „Mr.
Freedom“, die mit Pop Art und Comic-
strips einen schrillen Blick auf das militä-
rische Engagement der USA wirft.
Einin beigegehaltenerSchau-undDen-
kraumkreistum Ethnologisches,beschäf-
tigt sich mit dem kolonialen Erbe und
zeigt unter anderem einen Dialog zwi-
schen Jean Rouch und Jacques Lanzmann
über den Tarzan-Mythos, einen „Dreh-
buchauszug Calligrammes – Kolonien“
und algerische Stadt- und Landansichten,
die Pierre Bourdieu als Soldat im Alge-
rienkrieg aufnahm und denen Ottinger
ein interessantes Interview über das Ver-
hältnis von Ethnologie und Fotografie
mit dem Soziologen beigesellt.
Noch beeindruckender sind die Tu-
nis-Aufnahmen aus dem „Quartier ré-
servé“ der Bauhäuslerin, Modeschöpfe-
rinund Fotografin RéSoupault,deren Le-
bensgefährte Philippe Soupault 1938
vomersten sozialistischen Premierminis-
ter Frankreichs Léon Blum beauftragt

wurde, in Tunis einen antifaschistischen
Radiosender gegen Mussolinis propagan-
distische Mittelmeerbeschallung aufzu-
bauen. Mit Sondergenehmigung fotogra-
fierte Ré Soupault im „Verbotenen Vier-
tel“ undhielt die Gesichterder dort leben-
den verstoßenen Frauen fest. Die
Schwarzweißfotografien sind nüchtern
und klar und wirken dennoch nicht ge-
stellt. Der Auszug aus Soupaults Band
„Eine Frau allein gehört allen“ beschreibt
die menschenunwürdige Gesellschafts-
und Geschlechterordnung.
„Paris Calligrammes“ fügt sich zu
nichts Ganzem. Schon der Filmtitel deu-
tete auf Zerstreuung hin, sie spiegelt sich
auch in der Ausstellung. Mit ihrer wun-
derbarenMaterialsammlung istsie gleich-
wohl etwas Eigenständiges und viel mehr
als eine installative Verräumlichung der
Filmrecherchen.

— Haus der Kulturen der Welt, bis 13. Okto-
ber, Mi–Mo 12–19h, Do bis 22 Uhr. Jeden
Donnerstag filmisches Begleitprogramm.
Mehr unter hkw.de

— Peter Braun:Ilse
Schneider-Lengyel.
Fotografin, Ethnologin,
Dichterin. Ein Porträt.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2019.
286 Seiten, 24,90 €.

Die Frau vom See


Gastgeberin der Gruppe 47: Peter Braun begibt sich


auf die Spur der rätselhaften Ilse Schneider-Lengyel


Hauptperson


ist die Stadt,


wie Ottinger


sie in den


60er Jahren


erlebte


Weltensammlerin an der Seine


„Paris Calligrammes“: Das Haus der Kulturen zeigt eine Mixed Media Show von Ulrike Ottinger


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Mit Blick auf den Vietnamkrieg. „Journee d’un G.I.“, Siebdruck von Ulrike Ottinger aus dem Jahr 1967. Foto: Ottinger/Lenbachhaus München

26 DER TAGESSPIEGEL KULTUR NR. 23 924 / SONNABEND, 24. AUGUST 2019


Von Friederike Horstmann

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