Der Tagesspiegel - 24.08.2019

(Nora) #1

KIT HOLDENMEINT


„Lasst mir mein Fußball-Märchen!“


Neu-Berliner, Union-Fan,


Fußball-Hipster – na und?


Zyniker werfen mir vor,


auf eine Inszenierung


des Vereins hereinzufallen.


Für mich ist es Liebe


I


n den vergangenen Monaten stand
dieseKolumneoftkurzvorderAbset-
zung. Langjährige Leser drohten da-
mit, ihr Abo zu kündigen, sollte meiner
selbstmitleidigen Nabelschau kein Ein-
haltgebotenwerden.Undangesichtsmei-
ner geschilderten Eskapaden schien das
Jugendamt eine ständige Bedrohung zu
sein.InzwischenerhalteichvermehrtZu-
spruch. Wildfremde Menschen schrei-
ben mir ermutigende E-Mails, bedanken
sich für meine Ehrlichkeit. Das ist irgend-
wie nett, aberauch beunruhigend. Wollte
ich mich mit einem von der Geschichte
eher stiefmütterlich behandelten römi-
schen Kaiser vergleichen, würde ich
schreiben: Das Volk jubelt? Ich muss et-
was Falsches gesagt haben.
Selbstverständlich kommt es immer
noch vor, dass ich die Spielplatzbesuche
mit meiner Tochter Wanda erwachsenen-
freundlich gestalte. Indem ich zum Bei-
spiel ein paar trinkfreudige Kumpel dazu-
bestelle. Erst letzten Sonntag ist einer von
ihnen betrunken in
der Röhrenrutsche
stecken geblieben.
Doch insgesamt
binicheinweitbesse-
rer Vater, als ich es
noch vor einem Jahr
war. Vorbei sind die
Tage,andenenichdi-
rekt aus dem Berg-
hain in die Kita fuhr.
Und wo ich mich früher oft verführen
ließ, bin ich inzwischen as cold as ice.
„Kommst du heute mit feiern?“
„Ich kann nicht.“
„Warum? Ist Wanda schon wieder bei
dir?“
„Nein, aber ich muss noch ein paar Bil-
der zu Ende malen. Außerdem hab ich
angefangen, Italienisch zu lernen.“
„Ey,wirstdu endgültig zumSpießer?“
„Schon möglich. Dafür kriege ich von
denKellnern den guten Grappa, wenn ich
nächstes Mal nach Rom fahre.“
Sogar Nora, die Mutter meiner Toch-
ter, ist über meinen Sinneswandel ver-
blüfft. Gerade erst hat ein heftiger Wol-
kenbruch die Buddelkiste der Kita unter-
spült.In einer E-Mailfragten dieErzieher
vorsichtig an, ob jemand von den Eltern
am Wochenende Zeit hat, den Sand
wieder auszugleichen.
„Hast du die Mail gelesen?“, fragt Nora
am Telefon.
„Ja, ich bin gerade fertig geworden.“
„Mit dem Lesen?“
„Nein, mit der Buddelkiste.“
„Du bist echt hingefahren?“, staunt sie.
„Hast du der Kita Bescheid gesagt?“
„Ach, Quatsch.Ichmach mich doch we-
gen so was nicht wichtig.“
„Wow, du überraschst mich immerwie-
der. Ich muss mir jetzt aber keine Sorgen
machen, oder?“
All diesen Neckereien stehe ich gelas-
sen gegenüber. Und genau wie es biswei-
len lustig war, den Bürgerschreck und Fi-
lou zu markieren, schockiere ich jetzt mit
meinem vorbildhaften Verhalten. Dahin-
ter steht kein Sinneswandel. Ich probiere
lediglich neueRollen aus. DieeinzigePer-
son, der ich ohne Maske begegne, ist
nach wie vor meine Tochter.
„Papa, schreibst du noch für die Zei-
tung?“
„Nicht mehr lange. Das wird die vor-
letzte Folge.“
„Macht’s dir keinen Spaß mehr?“
„Doch. Aber man soll immer aufhören,
wenn es am besten ist.“
„Was heißt das?“ – „Weiß ich auch
nicht genau.“
Während wir reden, blicken wir beide
nicht von der Leinwand auf, über der wir
tief gebeugt malen. Mit knappen Bewe-
gungen schanzen wir uns gegenseitig die
Pinselund Farbtubenzu. Unser erstesGe-
meinschaftswerk. Papa-Kind-Kunst. Ich
weiß, wie sich das anhört. Schön, glor-
reich, dabei etwas süßlich. Aber wenn es
diese nonverbale Verbundenheit ist, die
dabei rauskommt, riskiere ich gern, für
einen Spießer gehalten zu werden.


CLINT zwischen den Fronten


Einesvorneweg.IchwuchsinEnglandals
Fan von Bayern München und West Ham
auf. Aber2013 wollte ichzu einemBerli-
nerVerein,undFußballguckeichnichtso
gerne durch das Fernglas in einem halb
leeren Leichtathletikstadion. Also ging
ich in die Alte Försterei. Seitdem bin ich,
verdammter Neu-Berliner Fußball-Hips-
ter, in den1. FCUnionverliebt.
Ichverstehe,dassderUnion-Hypeman-
che nervt. Während viele seit dem Auf-
stieg von dem „etwas anderen Klub“
schwärmen, gibt es immer mehr, die
Unionschlechtreden.AnpackenbeimSta-
dionbau, Blutspenden, Weihnachtssin-
gen – alles überromantisierte Klischees,
sagen diese Zyniker. Auch mein Kollege
Christoph Dach geißelte kürzlich an die-
serStelledieSelbstinszenierung.Schluss
mitdiesemUnion-Bashing!
Romantisiert wird Union sowieso eher
vonanderen.„WirhabenhierkeinenMy-
thos, sondern eine Geschichte mit ein
paar Erfolgen und vielen Niederlagen“,
sagtemir VereinschronistGerald Karpa.
Nicht immer gelingt Union der Ver-
such, die Fannähe mit kommerziellem
Pragmatismus zu balancieren – wie zu-
letzt im berechtigten Aufschrei um den
neuen Sponsor Aroundtown. Unaufrich-
tig ist es trotzdem nicht, einen Mittelweg
zwischen ehrlichem Amateurverein und
geldgeilem Megaklub zusuchen.
Unioner sind zwar stolz auf ihre Ge-
schichte und auf die unfassbare Stim-

mung in der Alten Försterei. Doch stolz
istmaninKöpenickeherfürsich.Manche
sind sogar erstaunt, dass sich die Außen-
welt überhaupt für Union interessiert.
AmAbenddesAufstiegsbegegneteichin
einerFankneipeeinemMann,dernichtsi-
cher war, was ihn mehr schockierte: dass
Union erstklassig war oder dass er den
Aufstieg mit einem Engländer und zwei
Australiernin der„Tanke“feierte.
Dabei sind wir keine Exoten mehr. Es
gibt jede Menge Angelsachsen-Unioner,
die mit dem schlechten Gewissen der
ewigen GentrifizierernachKöpenick pil-
gern. Wer mitfiebert, wird freundlich auf-

genommen. Zuletzt brachte ich einen
Engländer mit Deutschkenntnissen auf
Niveau A2 ins Stadion. Die Dame neben
uns wollte nicht ruhen, bis er jeden Fan-
gesang auswendig konnte.
Über solche Begegnungen freue ich
mich – und bin deshalb umso zorniger,
wenn ich von westdeutschen Freunden
höre, der Klub sei voller Nazis. Ich bin
nicht so naiv zu glauben, es gäbe keine
rechtsextremen Union-Fans. Verallge-
meinerungen sind aber falsch und helfen
nicht denen, die auf den Rängen ihre
StimmegegenRassismuserheben.Alswe-
der Ossi noch Wessi meine ich darin ei-
nenfaulenSnobismusgegenüberdemOs-
ten zu erkennen: Die Dortmunder Fan-
szene stempelt man trotz der dortigen
Probleme mitrechten Fans nicht soab.
Und erst die Hymne: „Die Mannschaft
weiß,dasswirhinterihr steh’n/ Undwer
das nicht kapiert, der soll zu Hertha
jeh’n!“ Die meisten Unioner haben kein
Problem mit Hertha. Genau wie ich.
Vielleicht falle ich mit meiner
Union-Liebe auf eine Inszenierung he-
reinund dasallesist nurein Märchen aus
Ost-Berlin. Aber dazu ist der Fußball da:
um Märchen zu schreiben. Wer das nicht
kapiert, der soll wirklich zu Hertha jeh’n.

Mehr Berlin! Mitarbeit: Katja Füchsel, Sidney Gennies, Sabine Wilms (Gestaltung), Fanpost: [email protected]

Schockierend


vorbildlich


RUHE DAHINTEN
„Täglich kommen locker
100 Kilometer zusammen.
Meine Fahrer beschweren
sich nur, wenn ich beim
Schlager zu laut mitsinge.“

SONNABEND, 24. AUGUST 2019|WWW.TAGESSPIEGEL.DE

VON TISCH ZU TISCH
„Nach dem Naschen
schnappen wir uns die
Kellen und schwitzen
einige Kalorien gleich
wieder runter.“

TEXTARBEIT
„Als Fraktionschef
muss ich sehr viel
lesen. Das zeigen die
Stapel auf meinem
Schreibtisch im
Abgeordnetenhaus.“

Soll man Unionbashen oder lieben? Oder sollen
die erst malein Bundesligaspiel gewinnen?
http://www.tagesspiegel.de/rant

RUNDUM FROH
„Wo ich nur kann,
verbringe ich Zeit mit
meinen Kindern.
Wo sie nur können,
verbringen sie Zeit
mit dem Ball.“

GUT KUCHEN ESSEN
„Bei uns in der Familie gibt es ziemlich gute Köche
und Bäckerinnen. Aber Vorsicht, gefährlich!“

WAS SICH


SCHICKT
Immer zur Mitte des Monats taucht sie
auf. Hut, Handtasche, Ohrringe. Die
Haare weiß und das Gesicht mit Falten
durchsetzt, sie wird vielleicht 80 Jahre alt
sein. Bahnhof Neukölln, da, wo die Trep-
pen von der S-Bahn zur U-Bahn führen,
das ist ihr Platz. Ihre Hand hält sie vor
sich. Sie zittert ein bisschen. „20 Cent.
Können Sie 20 Cent entbehren?“ Ihre
Stimme ist viel zu leise. Die meisten zie-
henvorbei, ohne sie wahrzunehmen. Man-
che schauen mitleidig, manche geben
was. Wenn man morgens zur Arbeit geht,
steht sie da. Wenn manabends von der
Arbeit kommt, steht sie immer noch da.
Warum steht sie hier? Sie schaut scheu,
vorsichtig. „Wegen der Medikamente.“
Die kann sie sich nicht leisten, braucht
sie aber. Ob man ihr was einkaufen soll?
Nein, sagt sie. Kartoffeln hatsie ja zu
Hause. Ob man ihr nicht jeden Monat et-
was Geld überweisen kann? Nein, sagt
sie. Bisher geht es ja. Ob man sie zu ei-
nemguten Essen einladen kann. Nein,
sagt sie, dann kann sie ja hier nicht ste-
hen. Außerdem lebt sie ja alleine, und
da schickt es sich nicht, einfach mit je-
mand Fremdem essen zu gehen. „Vie-
len Dank“, sagt sie noch, aber sie will
hier einfach nur stehen, bis sie genü-
gend zusammenhat. Nicht mehr und
nicht weniger. Karl Grünberg

FRAGEN
SICH ZWEI
„Bei meinem
Podcast drehe ich
einfach mal den
Spieß um:
Hier interviewe ich
den Journalisten
Peter Brinkmann.“

Raed Saleh, 42, lebt seit sei-
nem fünften Lebensjahr in
Spandau und wuchs als sechs-
tes von neun Geschwistern im
Hochhausviertel Heerstraße
Nord auf. Geboren wurde der
Vater von zwei Söhnen in Pa-
lästina. 1995 trat er in die
SPD ein, seit 2011 ist er Vor-
sitzender der sozialdemokrati-
schen Fraktion im Berliner
Abgeordnetenhaus. In dieser
Funktion arbeitet Raed Saleh
zurzeit vor allem daran, Berlin
„zur familienfreundlichsten
Stadt der Welt zu machen“,
wie er gerne betont.

Clint Lukas über sein
Doppelleben als Vater und Clubgänger

VON NAOMI FEARN


Nur meiner


Tochter


trete ich


ohne Maske


gegenüber


5


DAS IST


MEIN BERLIN


Fotos: Mike Wolff (2)

NOCH MEHR


MINUTENSTADT

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