Lisa - 14. August 2019

(Nora) #1
Report
Acht Jahre lang wurde Tanja* (32) von ihrem Stiefopa missbraucht – und Mutter Christel* (67) ahnte nichts

Infos und Fakten


Missbrauch erkennen
und dem Kind helfen

Manchmal, wie im Fall von Christel,
bemerkt man selbst als engste Ver-
traute nichts. Hat man jedoch einen
Verdacht, sollte man schnell handeln.
✽ Gibt es Warnsignale? Grundsätz-
lich sei gesagt, dass die Anzeichen für
sexuellen Missbrauch bei Kindern je
nach Alter und Persönlichkeit sehr
unterschiedlich sind. Spezifische
Merkmale oder körperliche Symptome
gibt es nicht. Manchen Kindern merkt
man überhaupt nichts an, während an-
dere sich verändern, sich zunehmend
zurückziehen oder Auffälligkeiten, wie
Schlafstörungen, Einnässen, Ängste
oder Aggressionen, zeigen. Auch das
Nachspielen
von sexuel-
len Hand-
lungen oder
sexualisierte
Sprache
können
Anzeichen
sein.
✽ Wie reagiert man bei einem
Verdacht? Auch wenn die genannten
Auffälligkeiten andere Ursachen haben
können, sollte jede Verhaltens änderung
bei Kindern aufmerksam beobachtet
werden. Wenn Sie einen Verdacht
haben, dann suchen Sie sich als Erstes
eine Vertrauensperson, mit der Sie sich
austauschen können. Aber Vorsicht:
Streuen Sie keine Gerüchte, bevor Sie
keinen sicheren Verdacht haben.
Signalisieren Sie als Nächstes dem
betroffenen Kind Gesprächsbereit-
schaft. Generell sollte Sexualität kein
Tabuthema sein. Drängen Sie jedoch
das Mädchen oder den Jungen nicht
zu Aussagen – denn Druck macht
wahrscheinlich auch der Täter oder die
Täterin. Vermitteln Sie dem Kind, dass
Sie ihm glauben und dass Hilfe holen
kein Petzen oder Verrat ist.
Bestätigt sich der Verdacht? Dann
holen Sie sich Hilfe. Tipps sowie Ad-
ressen von Beratungsstellen in Ihrer
Nähe oder von Onlineportalen erhalten
Sie z. B. über die Internetseite: http://www.
hilfeportal-missbrauch.de. Zudem gibt
es das bundesweite, kostenfreie und
anonyme Hilfetelefon „Sexueller
Missbrauch“, Tel.: 0800/2 25 55 30.

„Immer wieder fragte ich mich: Wieso habe ich nichts gemerkt?“


Erst als sich ihre Tochter mit


18 Jahren öffnete, begann


für beide Frauen der lange


Weg der Verarbeitung


Inzwischen weiß
Christel, dass Tanja
lebenslang gezeichnet
sein wird

Bis Tanja sich
ihr öffnete,
lebte Christel
in dem
Glauben, dass
ihre Tochter
eine behütete
Kindheit hatte

D

er Opa hat mich meine gesamte
Kindheit über missbraucht!“ Ein
Satz wie ein Schlag, der die Düs-
seldorferin Christel (67) vor fast
14 Jahren atemlos und verzweifelt
macht und ihre bis dahin heile Welt krachend
zusammenbrechen lässt.
Es ist ein kalter Oktoberabend 2005, als ihre
damals 18-jährige Tochter im Wohnzimmer sitzt
und diesen unfassbaren Satz ausspricht. Chris-
tel sagt: „Ich brauchte Minuten, um das wirklich
zu realisieren. Mein Herz raste, mir wurde
schwindelig. In meinem Kopf hämmerte es: Das
kann doch nicht sein, nicht bei uns.“

Tausend Fragen im Kopf Tanja und ihr neun
Jahre älterer Bruder sind behütet aufgewach-
sen. Christel hat extra im Nachtdienst gearbei-
tet, um tagsüber bei den Kindern sein zu kön-
nen. Abends, wenn sie zur Arbeit ging, war ihr
Mann, ein städtischer Angestellter, zu Hause.
Da ist doch kein Raum für Missbrauch.
„Im Kopf war ein riesengroßes Durcheinan-
der. Ich hatte auf einen Schlag tausend Fragen.
Wann ist das passiert? Wieso habe ich nichts ge-
merkt? Und warum hat meine Tochter nicht we-
nigstens mir, die immer ihre engste Vertraute
war, etwas erzählt?“

Brutale Vergangenheit Tanja gibt ihr die
Antworten. Sie spricht ruhig, offen. Ihr Freund
hat sie ermutigt, sich endlich den Eltern zu of-
fenbaren. Was sie erzählt, ist furchtbar. Der Stief-
opa hat das Kind immer wieder brutal vergewal-
tigt und gequält, dabei so unter Druck gesetzt,
dass sich die Kleine nie getraut hatte, etwas zu

sagen. Als sie vier Jahre alt war, ging alles los und
endete erst, als der Stiefopa starb. Da war Tanja
zwölf. Weitere sechs Jahre hat sie sich nieman-
dem anvertraut.
Erst jetzt, mit 18 Jahren, bröckelt der Panzer, den
sich das Mädchen zugelegt hat, um überleben
zu können. Wenn die Mutter zum Nachtdienst
war, hat ihr Vater sie zu seinen Eltern gebracht,
die mit im Haus lebten. Meistens, weil er ausge-
hen wollte. Den Bruder ließ er einfach in seinem
Zimmer schlafen.

Zwei Verluste auf einmal Ob ihr Mann wuss-
te, was sich in der Wohnung der Großeltern ab-
spielte? Christel hakt nach. Der Vater verhaspelt
sich. Irgendwann ist sie sich sicher: „Er hat das
Grauen hingenommen, aus Schwäche und Be-
quemlichkeit, vermutlich auch, um die Mutter zu
schützen, die ihren Mann unstrittig gedeckt hat.“
Mit dem Verlust der heilen Welt stirbt an diesem
Abend auch Christels Ehe. Sie will sofort die
Trennung, setzt den Ehemann vor die Tür.

Ohnmacht und Wut Nun ist sie allein mit
ihren Gedanken. „Ich habe monatelang gegrü-
belt, bin gefühlt jede Sekunde der letzten Jahre
durchgegangen. Was hätte ich besser machen
können? Wie hätte ich das verhindern können?
Aber ich fand keinen Hebel, an dem ich ansetzen
konnte.“ Ihre Gefühlswelt kommt völlig aus dem
Takt. Mal quält sie sich damit, den Täter nicht
mehr zur Rechenschaft ziehen zu können. Mal
nimmt sie der Tochter insgeheim übel, sich ihr
nicht früher anvertraut zu haben. Christel fühlt
sich ohnmächtig in ihrer Wut und stürzt sich in
die Arbeit, macht als Fachschwester Karriere.

Oberflächliche Verarbeitung Auch Tanja
versucht, sich die belastenden Bilder im Kopf

wegzuarbeiten, studiert Sozialpädagogik, arbei-
tet als Betreuerin. Doch die Welt der beiden
Frauen ist nur oberflächlich gekittet.
Christel muss hilflos mit ansehen, wie die
schlimme Vergangenheit die Tochter zuneh-
mend aus der Bahn wirft. Therapien helfen
nichts. „Sie wurde irgendwie unberechenbar,
war mal lieb, mal aggressiv, häufig sehr ängst-
lich.“ Christel kann das Verhalten nicht einord-
nen. Die Beziehung verschlechtert sich. Ver-
mutlich, weil beide Frauen in ihrer Gefühlswelt
gefangen sind.

Erneuter Zusammenbruch 2015 dann der
Wendepunkt. Tanja wird am Arbeitsplatz kör-
perlich angegriffen. Die erlebte Gewalt wühlt
das Verschüttete wieder auf. Sie bricht zusam-
men, wird krankgeschrieben, beginnt danach
eine Langzeittherapie. Auch für Christel wird
der Angriff zum Einschnitt. Sie versteht jetzt,
dass ihre Tochter lebenslang gezeichnet sein
wird. „Bei mir fiel der Groschen. Ich verstand,
dass es nichts bringt, weiter in der Vergangen-
heit zu bohren, sondern es besser ist, in die Zu-
kunft zu sehen.“ Sie informiert sich, liest im
Internet, spricht mit Fachleuten, will alles wis-
sen, was der Tochter helfen kann.

Enges Verhältnis Heute
ist das Miteinander in-
tensiver denn je. Tanja
lebt mit ihrem Part-
ner zusammen,
aber Mutter und
Tochter telefo-
nieren mehr-
mals täglich,
treffen sich re-
gelmäßig.
Dann bum-
meln sie durch
Düsseldorf,
trinken Kaffee,
versuchen, einen
normalen Alltag zu
leben.

Bilder im Kopf Doch
Tanja ist gezeichnet, schwer
traumatisiert. Es reicht der Geruch von
alter Haut, eine bestimmte Musik, eine falsche
körperliche Berührung und dann tauchen die
Bilder der Vergangenheit wieder vor ihren Au-
gen auf. Tanja schaltet sich dann weg, lebt für
Minuten in ihrer eigenen Welt, meistens als klei-
nes Kind. Sie spricht dann wie ein hilfloses
Mädchen, das Angst hat vor dem bösen Opa,
der ihr wieder Schmerzen zufügen will.

Seite an Seite „Es tut weh, das mitzuerle-
ben“, so Christel. „Ich kann aber mittlerweile
damit umgehen. Das Beste ist es, einfach abzu-
warten, bis sie wieder zurückkommt in die
Gegenwart.“ Aber sie ist längst realistisch: „Mei-
ne Tochter wird lebenslang von den schlimmen
Gewalttaten gezeichnet sein. Die Vergangenheit

wird sie nie loslassen. Ich konnte ihr damals
nicht beistehen, dafür bin ich jetzt an ihrer Seite
und nutze jede Chance, um ihr zu helfen.“

Blick nach vorne Anderen Müttern rät sie:
„Betroffene Kinder sind Künstler im Verdecken,
man hat nie die Garantie, Missbrauch mitzube-
kommen, selbst in den eigenen vier Wänden
nicht.“ Christel glaubt: „Die meisten Mütter
haben keine Ahnung, was wirklich passiert. Sie
können sich nicht vorstellen, dass sich das Un-
glaubliche in ihrem eigenen Umfeld abspielt.
Aber wenn man etwas erfährt, kann man nur
nach vorn sehen und den Kindern helfen, wie-
der eine Zukunft zu finden.“

Man hat nie die


Garantie, Missbrauch


mitzubekommen


Heute


weiß ich,


dass es


wichtig ist,


in die


Zukunft zu


blicken
Fotos: istock, Andrea Micus (3); *Namen von der Redaktion geändert

Für Christel
ist es schwer
zu verkraften,
dass ihre
gesamte
Vergangenheit
eine einzige
Lüge ist

ü 34/2019^73
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