Frankfurter Allgemeine Zeitung - 28.09.2019

(Tina Sui) #1

SEITE 4·MITTWOCH, 28. AUGUST 2019·NR. 199 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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POTSDAM, 27. August


I


mLandtag von Brandenburg hat An-
dreas Kalbitz an diesem Morgen ei-
nen schweren Stand. Bei der Veran-
staltung „Jugend debattiert mit Spit-
zenkandidaten“ spricht der Spitzenmann
der hiesigen AfD zur Frage, ob Windräder
wegen des Schreddertods von Vögeln und
Insekten verbannt werden sollen. Er ist da-
für, eine Schülerin dagegen. Doch gegen
die Bundessiegerin beim Wettbewerb „Ju-
gend debattiert“ hat Kalbitz argumentativ
keine Chance. Das Auditorium, Oberstu-
fenschüler von Potsdamer Gymnasien, ist
ohnehin gegen ihn. Kalbitz, 46, ist kein gu-
ter Redner. Aber er setzt Provokationen ge-
zielt. Greta Thunberg, die Ikone der Klima-
schutzbewegung, beschimpft er vor den
Schülern als „zopfgesichtiges Mondge-
sicht-Mädchen“. Als ihn ein Schüler fragt,
was er von dem AfD-Politiker Björn Hö-
cke halte, der sei doch „ziemlich offen ein
Nazi“, antwortet Kalbitz, Höcke sei sein
Freund und stehe auf dem Boden der frei-
heitlich-demokratischen Grundordnung.
„Tut mir leid, dass Sie da so verblendet
sind durch die Dauerrotlichtbestrahlung,
die Sie medial an der Schule bekommen“,
sagt Kalbitz und ein Raunen geht durch
den Saal. Am Ende der Debatte gibt es
eine Abstimmung mit roten und grünen
Karten, die Zustimmung und Ablehnung
symbolisieren. Kalbitz verliert haushoch.
Nur zwei Jungen votieren für ihn, geschätz-
te 100 Schüler gegen ihn. Doch seine Be-
schimpfung von Thunberg und sein Rot-
licht-Zitat werden bald als Nachricht ge-
bracht. Kalbitz hat sein Ziel erreicht.
Wer aber ist der Mann? In München ge-
boren war er später mehr als zehn Jahre
Zeitsoldat bei den Fallschirmspringern
der Bundeswehr, viele Kontakte in der
AfD und den Kreisen der neuen Rechten
pflegt er noch aus dieser Zeit. Vor 16 Jah-
ren zog er nach Brandenburg, schrieb sich
für ein Studium der Informatik an der Fach-
hochschule in Brandenburg an der Havel
ein, wurde wegen fehlender Prüfungen ex-
matrikuliert, schloss eine Ausbildung zum
Medienkaufmann ab, betrieb einen Hör-
buchverlag, der in die Insolvenz ging, wur-
de freiberuflicher IT-Berater. Kalbitz ist
seit 2013 Mitglied der AfD, also seit den
ersten Tagen. Ein Jahr später wurde er in
die Stadtverordnetenversammlung in sei-
nem Wohnort Königs Wusterhausen ge-
wählt, im gleichen Jahr in den Landtag.
Heute ist er neben Höcke der einfluss-
reichste Mann im Flügel, der rechtsnatio-
nalistischen Strömung in der Partei. Sie
wird vom Verfassungsschutz als „Ver-
dachtsfall“ beobachtet und ist im Osten be-
sonders stark. Kalbitz ist Landesvorsitzen-
der und Fraktionschef im Potsdamer Land-
tag. Bei der Wahl am 1. September kann
die AfD laut Umfragen ihr Ergebnis von
vor fünf Jahren wohl fast verdoppeln, viel-
leicht ganz vorn liegen, mit rund 22 Pro-
zent.
Liegt das an Kalbitz? Eher nicht, zumin-
dest nicht auf den ersten Blick. Der Mann


  • kahlrasierter Schädel, dünne Brille, wei-
    ßes Hemd, blauer Anzug – ist laut Umfra-
    gen der Hälfte der Wähler in Brandenburg
    unbekannt. Auf Plakaten ist er kaum zu se-
    hen. Ein Volkstribun ist er nicht, niemand
    schwärmt für ihn, ganz anders als bei Hö-
    cke. Und dennoch gilt Kalbitz in der Bran-
    denburger Politik und darüber hinaus als
    der Mann, den man fürchten muss. Klug
    sei er und gefährlich, sagen seine Gegner
    aus anderen Parteien – und auch die Kriti-
    ker aus der AfD, die aber nicht zitiert wer-
    den wollen. Klug ist Kalbitz etwa, weil er
    verstanden hat, dass die AfD nur mit har-
    ten Parolen zur Einwanderungspolitik
    nicht bestehen kann. Dass sie beim Sozia-
    len etwas bieten muss, in der Familienpoli-
    tik, beim Tierschutz. Ein zinsfreies Famili-
    endarlehen in Höhe von 25 000 Euro, das
    mit der Geburt jedes Kindes um 25 Pro-
    zent getilgt und beim dritten Kind ganz er-
    lassen wird, gehört ebenso zum Programm
    wie die Erhöhung des Mindestlohns und


das Verbot der betäubungslosen Ferkelkas-
tration.
Die Gefährlichkeit ist nicht so leicht zu
erkennen. Kalbitz, mit einer Britin verhei-
ratet und Vater dreier Kinder, gibt gern
den biederen Bürger. Doch der Familien-
mensch übt sehr geschickt, manche sagen
skrupellos, Macht aus. Er hat sich ein ein-
flussreiches Netzwerk in der Partei aufge-
baut. „Es gelingt keinem in der AfD, so ge-
zielt Mehrheiten zu organisieren wie Kal-
bitz“, sagt Steffen Königer über ihn. Köni-
ger ist ein fraktionsloser Landtagsabgeord-
neter, im vorigen Jahr trat er aus der AfD
aus. Als Grund nannte er neben Höcke vor
allem Kalbitz, der Gefolgschaft verlange,
Konkurrenten ausboote. Kalbitz hat seine
innerparteilichen Gegner weitgehend kalt-
gestellt. Auf der Landesliste wurden nur
Getreue aufgestellt. Allein die große Zahl
an Direktmandaten, mit der die AfD rech-
nen kann, könnte dafür sorgen, dass die
nächste AfD-Fraktion nicht sofort unter
seiner absoluten Kontrolle stehen wird.
Kontrolle ist für Kalbitz aber wichtiger
als alles andere. Er agiert selbst meist kon-
trolliert, liebt die Attacke, weiß aber, wann
er zurückrudern muss. Er kann mit Spra-
che so umgehen, dass eine extreme Bot-
schaft überbracht wird, ohne dass er dafür
belangt werden kann. Bei einem Kyffhäu-
ser-Treffen des „Flügels“ sagte er: „Die
AfD ist die letzte evolutionäre Chance für
dieses Land. Danach kommt nur noch
‚Helm auf‘.“ Doch er fügte hinzu: „Und das
möchte ich nicht.“ Rhetorisch den Bogen
zu überspannen, wie Höcke es tut, das leis-
tet er sich nicht. Während Höcke geradezu
himmlische Verehrung erfährt, ist Kalbitz
der Mann, der die Fäden zieht. Und dabei
meist gar nicht auftaucht, weil er andere
für sich agieren lässt. „Kalbitz bedient die
Schalter der Macht, ohne dass Spuren zu
ihm zurückführen“, sagt Königer. Anstatt
sich in sozialen Netzwerken auszubreiten,
regiert Kalbitz mit seinem Telefon, um-
garnt Leute, bringt andere gegeneinander
auf, teilt und herrscht. Seinen Machiavelli
habe er schon früh gelesen und verstan-
den, ist einer seiner Sätze, die er Partei-
freunden gern mitgibt.
Um sich herum geschart hat er einen
kleinen Kreis von Mitgliedern der Jungen
Alternative (JA), die weitgehend mit de-
ren Landesvorstand Brandenburg iden-
tisch sind und von denen viele als Mitarbei-
ter der Fraktion oder einzelner AfD-Abge-

ordneter im Landtag tätig sind. Kalbitz hat
so eine gehorsame, formbare Truppe un-
ter sich. Sie fahren ihn zu Veranstaltun-
gen, denn Kalbitz besitzt keinen Führer-
schein, sie begleiten ihn auf Wahlveranstal-
tungen. Die JA ist ein Arm, der weit in die
Partei hineinreicht und Stimmung machen
kann. „Die Junge Alternative gehört zu
den wichtigsten Instrumenten von Kal-
bitz, um Einfluss auszuüben“, sagt Köni-
ger. Das sei nicht nur in Brandenburg so,
sondern auch im Bund, weil Kalbitz im
Bundesvorstand für die JA zuständig ist.
Während Kalbitz diese Funktion innehat-
te, kam es zu einer Selbstradikalisierung
von Teilen der Jugendorganisation. Den
Beschlüssen des Bundesvorstands, die Rei-
hen der JA nach Extremisten zu überprü-
fen, hat er zugestimmt. Verlorene Schlach-
ten kämpft Kalbitz nicht.

V


on seinen Anhängern fordert er
Gehorsam, Effizienz und proak-
tive Loyalität. Wer sie ihm nicht
entgegenbringt, sich nicht kon-
trollieren lässt, der verliert seine Gunst.
Kalbitz kann Leute psychisch unter
Druck setzen, drohen, einschüchtern, be-
schimpfen. Dass man ohne ihn keine Zu-
kunft in der AfD habe, das gehöre zu den
Sätzen, die er im Vertrauen wohl öfter
sagt, berichten AfD-Politiker, die nicht ge-
nannt werden wollen. Nur der frühere
AfD-Mann Königer sagt offen, Kalbitz
habe ihm gedroht. „Vor dem Europa-Par-
teitag der AfD im November letzten Jah-
res hat Kalbitz zu mir gesagt: Du stehst
auf keiner Liste, du bist mir schon zu ge-
fährlich.“ Königer wurde nicht gewählt.
„Wenn man den ,Flügel‘ gegen sich hat,
braucht man bei Wahlen gar nicht erst an-
zutreten“, sagt er dazu. Über den „Flügel“
hat Kalbitz weitreichenden Einfluss in
der Bundespartei, er kann Kandidaturen
befördern und verhindern. Er sammle sys-
tematisch Informationen über andere
und rege auch seine Mitarbeiter und Ver-
trauten dazu an, heißt es. Nachweisen las-
sen sich die Absprachen in der Regel
nicht, auch wenn klar ist, dass Kalbitz ein
straffes Regiment führt. „Mister Teflon“
ist ein Spitzname von Kalbitz in Branden-
burg – der Mann, an dem alles abperlt.
Das Teflon-Prinzip versucht Kalbitz
auch auf seine rechtsextremistischen Akti-
vitäten anzuwenden, die sich über einen
Zeitraum von 25 Jahren wie auf einer Per-

lenkette aneinanderreihen. Politisch dock-
te er zunächst bei der Jungen Union und
der CSU an, mit 21 ging er zu den Republi-
kanern, als jene noch vom Verfassungs-
schutz beobachtet wurden. Er war Mit-
glied des völkischen Witikobundes,
schrieb in deren Publikation vom „Ethno-
zid am deutschen Volk“. Von 2010 bis
2015 war er Vorsitzender der rechtsextre-
men „Vereinigung Kultur- und Zeitge-
schichte – Archiv der Zeit e. V.“, die von ei-
nem ehemaligen SS-Hauptsturmführer
und NPD-Funktionär gegründet worden

war. Kürzlich wurde bekannt, dass Kalbitz
zusammen mit seinem Schwiegervater Stu-
art Russel vor einigen Jahren das Skript
für zwei Filme geschrieben hat, einen über
Hitlers Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg
und einen über die 1. Gebirgsdivision der
Wehrmacht, die 1941 bis 1942 am Über-
fall auf die Sowjetunion beteiligt war. Ein
Historiker äußerte in der Zeitung „Die
Welt“, der erste Film mache auf ihn den
Eindruck „einer geschickten Hitler-Ver-
herrlichung“. Im zweiten Film wird über
die späteren Kriegsverbrechen der Ge-
birgsdivision kein Wort verloren.
Die wohl größte Belastung für Kalbitz
ist seine Verbindung zur neonazistischen
„Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ).
Anfang März 2018 wurde bekannt, dass
Kalbitz sich 2007 in einem HDJ-Zeltlager
aufgehalten hatte, er war damals Mitte 30.
Als Jugendsünde lässt sich das schwerlich
entschuldigen. „Ich war als Gast dort, mut-
maßlich, um mir das mal anzuschauen“,
sagte Kalbitz dem Sender, der die Sache
aufdeckte. Solchen Äußerungen wird
selbst in der AfD nicht geglaubt. In eine Or-
ganisation wie die HDJ, die 2009 verboten
wurde, sei man nicht einfach so reingekom-
men, Kalbitz habe da sehr viel tiefer drin-
gesteckt, heißt es in der Partei. Noch nach
dem Verbot der HDJ erhielt Kalbitz im
Mai 2009 eine E-Mail von dem letzten
„Bundesführer“ der HDJ, die nur an sie-
ben Personen ging, berichtete nun die Zeit-
schrift „Spiegel“.

D

ie Aufregung um Kalbitz und
die HDJ dauerte im vergange-
nen Jahr allerdings nicht lange
an. Eine andere Meldung löste
sie ab. Ein Mitarbeiter vom Parteivorsit-
zenden Alexander Gauland, der mit ihm
aus dem Landtag in den Bundestag wech-
selte, war mit 19 Jahren ebenfalls Mit-
glied der HDJ, hatte das Gauland aller-
dings nicht mitgeteilt. Für den Job in der
AfD-Fraktion in Brandenburg soll Kal-
bitz den Mann geworben haben. Hat Kal-
bitz die Information über dessen Mitglied-
schaft in der HDJ selbst gestreut, um von
seinem eigenem HDJ-Fall abzulenken?
Das zumindest glauben viele in Gaulands
Umfeld. Belegen lässt sich das nicht. Kal-
bitz selbst lehnte ein Gespräch mit dieser
Zeitung ab.
Gauland selbst hat dennoch stets eine
schützende Hand über Kalbitz gehalten,
der sein Nachfolger in Brandenburg wur-
de, als der heutige AfD-Vorsitzende in den
Bundestag gewählt worden war. Unter den
AfD-Abgeordneten in Brandenburg hielt
er Kalbitz wohl für den fähigsten. Er orga-
nisierte für Gauland den Landesverband,
sorgte dafür, dass er nach außen nicht als
zerstritten dastand. Auch heute noch kann
ein Strippenzieher für einen Parteivorsit-
zenden, der sich für Organisationsfragen
nicht interessiert, eine gute Sache sein. So-
lange er nicht aus dem Ruder läuft.
Das tat in letzter Zeit eher Höcke. Er
wandte sich dagegen, dass der Bundesvor-
stand die AfD-Politikerin Doris von Sayn-
Wittgenstein aus der AfD ausschließen
will, weil sie den Holocaust geleugnet ha-
ben soll. Im Bundesvorstand aber votier-
ten alle für den Ausschluss, nur einer ent-
hielt sich: Kalbitz. Es war eine Entschei-
dung, um sich nicht gegen den Vorstand zu
stellen und zugleich nicht gegen Höcke
und den „Flügel“.
Kalbitz kann dem 1. September ent-
spannt entgegenschauen. Wenn die AfD
bei der Wahl mit 20 Prozent oder mehr ab-
schneidet, dann wird auch der „Flügel“
beim AfD-Parteitag Anfang Dezember
mindestens einen der zwei Chefposten für
sich beanspruchen. Höcke wäre zwar gern
Bundesvorsitzender, aber er gilt als „medi-
al verbrannt“, wie es in der AfD-Spitze
heißt, er ist in Thüringen gefangen. Bliebe
Kalbitz. Doch auch er wird nicht für die
Spitzenposition kandidieren, das hat er
selbst schon mehrfach angekündigt. Es
sind seine rechtsextremistischen Verbin-
dungen, die einstweilen dagegen spre-
chen. Er wird sich wahrscheinlich mit dem
Posten eines Beisitzers begnügen, den er
jetzt schon innehat. Andere „Flügel“-Leu-
te, wie etwa der stellvertretende Fraktions-
vorsitzende im Bundestag, Tino Chrupalla
aus Sachsen, könnten zum Zuge kommen.
Doch den Chefposten braucht Kalbitz
gar nicht, um über den „Flügel“ die Geschi-
cke der AfD weiter maßgeblich zu bestim-
men. Sein Einfluss wird auch so steigen, er
strebt wohl eher in den Bundestag. Wenn
die große Koalition in Berlin sich nicht
kurz nach der Wahl in Brandenburg auf-
löst, sondern bis 2021 durchhält, dann
könnte er diesen Sprung wagen. In zwei
Jahren wird Gauland achtzig Jahre alt
sein, dann wird der jetzige Partei- und
Fraktionschef der AfD seine politische
Karriere wahrscheinlich beenden. Kalbitz
aber hat Zeit.

bub./oge. BERLIN/FRANKFURT,



  1. August. Nach dem Bekanntwerden
    weiterer Einzelheiten der rechtsextre-
    men Ausschreitungen in Chemnitz im
    Herbst 2018 haben die Grünen Aufklä-
    rung gefordert. Die Ermittlungsergeb-
    nisse des Landeskriminalamtes zu
    Chatprotokollen von Demonstrations-
    teilnehmern müssten umgehend veröf-
    fentlicht werden, sagte der Grünen-Ab-
    geordnete Valentin Lippmann am
    Dienstag. Es müsse zudem klargestellt
    werden, seit wann der Polizei bekannt
    gewesen sei, dass es in Chemnitz ge-
    zielt vorbereitete und durchgeführte
    Gewalttaten gegen Migranten gegeben
    habe. Vom sächsischen Ministerpräsi-
    denten Michael Kretschmer (CDU) ver-
    langten Grüne und Linke, seine „ver-
    harmlosende Äußerung“ zu den Ge-
    schehnissen vor einem Jahr zurückzu-
    nehmen. Laut einem Bericht von „Süd-
    deutscher Zeitung“, WDR und NDR lie-
    gen dem sächsischen Landeskriminal-
    amt Handy-Chats von Demonstrations-
    teilnehmern vor. Die Dokumente le-
    gen nahe, dass es zu Verabredungen
    über Gewalt gegen Migranten gekom-
    men sei, Chatteilnehmer sollen auch
    den Begriff „Jagd“ verwendet haben.
    In der Öffentlichkeit war in den Wo-
    chen nach den Ausschreitungen über
    die Verwendung des Begriffs „Hetz-
    jagd“ gestritten worden. Der frühere
    Präsident des Bundesamtes für Verfas-
    sungsschutz Hans-Georg Maaßen hat-
    te damals in Abrede gestellt, dass
    „Hetzjagden“ stattgefundenhätten.
    Auf die Berichte reagierte er zurückhal-
    tend. „Ich kann nicht beurteilen, ob
    die in dem Chat-Auszug getroffenen
    Aussagen den Rückschluss zulassen,
    dass es in Chemnitz Hetzjagden gab.
    Dies müssen die mit dem Vorgang be-
    fassten Polizeibehörden tun, die für
    die Beurteilung zuständig sind“, sagte
    Maaßen dieser Zeitung. Seine Aussa-
    gen im vergangenen Jahr verteidigte er
    damit, dass die Polizeibehörden und
    die Generalstaatsanwaltschaft zu dem
    gleichen Ergebnis gekommen seien.


Teile und herrsche: AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz macht Wahlkampf in Eberswalde. Foto Laif


oll.BERLIN, 27. August. Die Allianz
der Wissenschaftsorganisationen hat
sich dazu verpflichtet, Wissenschaft-
lern, die in ihren Heimatländern als Re-
gimegegner verfolgt werden, Schutz
und Hilfe zu gewähren. Aber auch in
Deutschland kann die Wissenschafts-
freiheit dadurch bedroht werden, dass
sich Betrugsfälle in Dissertationen und
wissenschaftlichen Aufsätzen, Macht-
missbrauch oder „Fake Science“ häufen
und so das Vertrauen der Gesellschaft
untergraben. „Hochschulen und For-
schungseinrichtungen werden ihrer Ver-
antwortung gerecht, indem sie hohe
Standards guter wissenschaftlicher Pra-
xis, Integrität, Compliance, Rechtssi-
cherheit und Mitarbeiterschutz erfül-
len“, heißt es im Memorandum zur Wis-
senschaftsfreiheit, das von allen wichti-
gen Wissenschaftsorganisationen in
Deutschland getragen wird. Freie Wis-
senschaft stehe außerdem nicht über
dem Gesetz. Rechtliche und ethische
Grenzen spielten gerade in der huma-
nen Genomforschung, bei Tierversu-
chen oder Künstlicher Intelligenz eine
entscheidende Rolle. „Wissenschaftler
müssen bei ethisch sensibler Forschung
stets sorgfältig Chancen und Risiken ih-
res Tuns abwägen.“ Dazu gibt es Ethik-
kommissionen und Beratungsstruktu-
ren in den Einrichtungen. Bei Koopera-
tionen mit Unternehmen und anderen
Akteuren, die im Interesse der Innova-
tionsfähigkeit nötig sind, müssten die
in der Zusammenarbeit entstandenen
Forschungsergebnisse und deren Unab-
hängigkeit gewährleistet sein. Die Alli-
anz bezieht sich dabei auf Einzelfälle,
bei denen Unternehmen den Versuch
machten, sich in die Forschung einzu-
mischen. Angesichts der zunehmenden
Versuche, missliebige Meinungen in
Universitäten zu unterdrücken, erin-
nern die Wissenschaftsorganisationen
daran, dass die Auseinandersetzung
mit Andersdenkenden ein wesentliches
Fundament der Wissenschaftsfreiheit
sei.Außerdem ruft die Allianz dazu
auf, die Qualität wissenschaftlicher
Forschung nicht allein quantitativ zu
bemessen. Zahlreiche Anreiz- und Be-
lohnungssysteme könnten die Wissen-
schaftsfreiheit sonst einschränken.

Grüne fordern


Offenlegung von


Chatprotokollen


Klug und gefährlich


Betrug bedroht die


Forschungsfreiheit


Für die Herstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet.


Andreas Kalbitz


verlangt Gehorsam und


Loyalität. Nach seinem


wahrscheinlichen


Wahlerfolg in


Brandenburg wird der


inoffizielle Chef des


„Flügels“ der AfD noch


mächtiger werden.


Von Markus Wehner


Die AfD bei früheren Wahlen

1) ggf. Zweitstimmen.
Quelle: Bundeswahlleiter F.A.Z.-Grafik Heumann

Jüngste Landtags-, Bundestags-, Europawahlen
Prozent der Stimmen1)
Bremen
26.5.
Europa
26.5.
Hessen
28.10.
Bayern
14.10.
Niedersachsen
15.10.
Bundestag
24.9.
Nordrhein-Westfalen
14.5.
Schleswig-Holstein
7.5.
Saarland
26.3.
Berlin
18.9.
Mecklenburg
Vorpommern
4.9.

-


Baden-Württemberg
13.3.
Rheinland-Pfalz
13.3.
Sachsen-Anhalt
13.3.
Hamburg
15.2.
Brandenburg
14.9.
Thüringen
14.9.
Sachsen
31.8.

15,

12,

24,

6,

12,

10,

9,

20,

14,

6,

5,

7,

12,

6,

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11,

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