Frankfurter Allgemeine Zeitung - 28.09.2019

(Tina Sui) #1

SEITE 8·MITTWOCH, 28. AUGUST 2019·NR. 199 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


sgrenzt schon an Komik, dass nun
Chatprotokolle aus den Tagen der
Chemnitzer Ausschreitungen vor ei-
nem Jahr daraufhin durchsucht wer-
den, ob darin das Wort „Jagd“ zu fin-
den sei. Und siehe da: Es soll vorkom-
men! Hatte man von einer gewaltberei-
ten Verabredung von Hooligans und
Neonazis mit Gruppen wie „Kaotic
Chemnitz“ oder „Pro Chemnitz“ etwas
anderes erwartet? Die Knattertons, die
sich an das Wort „Jagd“ heften, sind al-
lerdings nicht ganz so naiv. Es lässt sich
damit der CDU-Spitzenkandidat Micha-
el Kretschmer in die Enge treiben. Der
Ministerpräsident hatte damals denjeni-
gen recht gegeben, die behauptet hat-
ten, es habe keine „Hetzjagden“ auf
Ausländer in Chemnitz gegeben. In der
Zwischenzeit hat Kretschmer nicht nur
gezeigt, dass er weit davon entfernt ist,
den sich ausbreitenden Rechtsextremis-
mus zu verharmlosen. Er gehört auch
zu den wenigen Politikern, die der AfD
nicht mit plumpen Parolen, sondern
mit Politik Paroli bieten. Ihm daraus
nun einen Strick zu drehen gehört zur
Doppelmoral derer, die ihren Antifa-
schismus zum Kampf gegen unliebsa-
me Demokraten nutzen. kum.


H


erkunft und Nationalität – das
ist nicht dasselbe. Wenn Nord-

rhein-Westfalen künftig stets die
Staatsangehörigkeit von Tatverdächti-
gen angeben will, so trifft das nicht
den Kern des Problems. Die Öffent-
lichkeit hat einen Anspruch darauf,
dass der Staat nichts Bedeutsames ver-
schweigt. Wenn etwa die Polizei mit-
teilt, zwei deutsche Großfamilien hät-
ten sich mit Polizisten und Rettungs-
kräften geprügelt und dass deren An-
gehörige alle die deutsche Staatsange-
hörigkeit besitzen, sollte man gegebe-
nenfalls hinzufügen, aus welchem Um-
feld die Verdächtigen stammen. Zu-
gleich sind staatliche Stellen dazu ver-
pflichtet, niemanden zu diskriminie-
ren. Das ist eine Frage der Abwägung
und der Art der Kommunikation. Der
Bürger muss aber wissen, was vorgeht.
Es geht ja bei der Öffentlichkeitsar-
beit von Behörden nicht um Sensati-
onslust, sondern um Information, und
zwar auch mit dem Ziel, dass die Be-
völkerung womöglich Lehren ziehen
kann. Oder soll künftig nur noch ge-
meldet werden: Ein Mensch hat einen
anderen verletzt? Mü.


S


elbst für Teilnehmer des G-7-Gip-
fels und erst recht für Außenstehen-
de ist es schwer zu erkennen, was vor
und hinter der Bühne in Sachen Atom-
konflikt mit Iran gespielt, welche Signa-
le gesandt, welche Andeutungen ge-
macht werden. Der französische Präsi-
dent hält die Bedingungen für ein Tref-
fen der Präsidenten Amerikas und
Irans für gegeben. Trump äußert Bereit-
schaft dazu – wenn die Umstände stim-
men. Rohani macht eine Zusammen-
kunft davon abhängig, dass zuvor die
amerikanischen Sanktionen aufgeho-
ben werden. Das kann man sich kaum
vorstellen. Allerdings hat Trump schon
manche Volte geschlagen, man denke
an Nordkorea. Doch Iran ist von ande-
rem Gewicht; und das trifft auch auf
jene zu, die für größtmöglichen Druck
auf Teheran sind. Es wäre eine Sensati-
on, sollte es zu einem Treffen (zufällig
bald in New York?) der beiden Präsiden-
ten kommen. Trump will nicht das alte
Abkommen verbessern, er will ein neu-
es, das Irans Atomprogramm dauerhaft
Beschränkungen auferlegen und des-
sen Raketenprogramm beenden soll.
Biarritz ist vorüber, die Erregung ver-
flogen, die Realität zurück. K.F.


Es gebe bestimmte Biographien, bei de-
nen es realistischer sei, dass man in der
Politik lande, sagt Aminata Touré. Und
dann gibt es eben ihre. Geboren wurde
sie Ende 1992 in Neumünster, ihre El-
tern waren aus Mali geflohen. Einige
Jahre lebte die Familie in einer Gemein-
schaftsunterkunft. Lange war nicht
klar, ob sie in Deutschland würden blei-
ben dürfen, sie waren nur geduldet. Es
waren schwierige Startbedingungen,
und trotzdem folgten: Abitur, Studium
der Politikwissenschaft, Mitgliedschaft
bei den Grünen, seit 2017 Abgeordnete
im Landtag Schleswig-Holsteins. An
diesem Mittwoch steht der nächste Hö-
hepunkt bevor: Da werden die Abgeord-
neten in Kiel Aminata Touré zur stell-
vertretenden Landtagspräsidentin wäh-
len. Sie ist gerade einmal 26 Jahre alt.
Als Touré vor kurzem in der Frank-
furter Paulskirche eine Laudatio auf
Cem Özdemir halten durfte, pries sie
ihn als Vorbild. Als sie 2012 zu den Grü-
nen gekommen ist, war er Parteivorsit-
zender, und für sie sei es sehr wichtig
gewesen, dass eine der größten Partei-
en des Landes von einem Menschen
vertreten worden sei, der so wie sie
eine Migrationsgeschichte in der Fami-
lie habe. „Für mich war es also zeit mei-
nes Erwachsenwerdens normal, zumin-
dest einen Politiker im Fernseher zu se-
hen, der womöglich meine Perspekti-
ven in der Politik vertritt“, hatte sie ge-
sagt, und auch wenn sie von sich selbst
nicht als Vorbild sprechen mag, kann
sie doch genau ein solches sein.
Aus ihrer Biographie, aus ihren Er-
fahrungen ergeben sich auch die The-
men, die sie als Politikerin beschäfti-
gen: Frauen und Gleichstellung, Flucht
und Migration. Sie will Politik erklären
und vermitteln auch dort, wo Politik
manchmal recht fern ist – und sie will
der Politik vermitteln, was Menschen
mit Biographien wie der ihren bewegt.
„Es ist nicht alles aufgebrochen, nur
weil ich da bin“, sagt sie. Es gehe nicht
um viele bunte Gesichter auf Wahlpla-
katen. „Es geht darum, dass die eige-
nen Erfahrungen die Entscheidungen
prägen, und zwar in alle Richtungen.“
Das müssen Parteien lernen, und das
fordert sie auch von ihrer eigenen Par-
tei ein. So ist sie für die Grünen gewis-
sermaßen auch eine Herausforderung


  • sie habe immer wieder gesagt: „Ich
    bin nicht euer Feigenblatt.“ Bei der Ar-
    beit am neuen Grundsatzprogramm ar-
    beitet sie in der AG „Vielfalt“ mit.
    Die ersten Jahre als Landtags-
    abgeordnete waren allerdings auch für
    sie selbst eine Herausforderung. Das
    Bündnis mit CDU und FDP stieß nicht
    überall auf Begeisterung in der Partei.
    Und auch wenn die Koalition sich man-
    ches vorgenommen hat, um Ein-
    wanderern in Deutschland zu helfen,
    verfolgt sie doch einen strikten Kurs ge-
    gen jene, die kein Recht haben, im Land
    zu bleiben. Dass es dann vor einigen
    Monaten im Landtag ausgerechnet Ami-
    nata Touré war, die Kritik der SPD an ei-
    ner geplanten Abschiebehaftanstalt ab-
    geklärt zurückwies, brachte ihr viel Re-
    spekt ein. Touré denkt und redet
    schnell, es fehlt ihr nicht an Selbstver-
    trauen. Daran wird sie, deren Mann
    Pressesprecher im von den Grünen ge-
    führten Kieler Umweltministerium ist,
    wohl auch in ihrer neuen Rolle keinen
    Zweifel lassen. Aber Biographie hin
    oder her: „Ich bin überparteilich, wenn
    ich da oben sitze.“
    MATTHIAS WYSSUWA


Jagd


Aminata TOURÉ Foto dpa


BERLIN, 27. August


D


er Amazonas-Regenwald erstreckt
sich über sechs Millionen Quadrat-
kilometer. Der größte Teil, etwa
sechzig Prozent, wächst auf brasiliani-
schem Boden. Er gehört den Brasilia-
nern. Aber heißt das, dass die anderen
Staaten dabei zusehen müssen, wie sich
dort Waldbrände ausbreiten und die größ-
te CO 2 -Senke der Welt zerstören? Dürfen
sie gegen den Willen Brasiliens Löschflug-
zeuge schicken? Erlaubt das Völkerrecht
im Extremfall sogar einen militärischen
Einsatz zum Schutz des Waldes?
Paris und Berlinhaben jüngst immer
wieder deutlich gemacht, dass der Regen-
wald nicht nur Sache der Brasilianer sei –
und damit den Zorn der Regierung Bolso-
naro auf sich gezogen. Die Bundesregie-
rung bezeichnete Amazonien als „Mensch-
heitsthema“, der Regenwald habe „Bedeu-
tung für alle und nicht nur für die Region
in Südamerika“. Der französische Präsi-
dent Emmanuel Macron sprach auf dem
G-7-Gipfel von „Gemeingut“ und appel-
lierte an die Verantwortung der internatio-
nalen Gemeinschaft für den Regenwald.
Die Regierung von Jair Bolsonaro pocht
auf Brasiliens Souveränität und verbittet
sich jegliche Einmischung aus dem Aus-
land. Brasília erachtete es bereits als Provo-
kation, dass die G-7-Staaten ihre Sorge
über die fortschreitende Zerstörung des Re-
genwalds durch Abholzungen und Brände
zum Ausdruck brachten. Nicht einmal die
Soforthilfe von 20 Millionen Dollar für den
Kampf gegen die verheerenden Waldbrän-
de, die die G-7-Staaten in Biarritz zugesagt
haben, will das Land haben. Brasilien sei
keine Kolonie oder ein Niemandsland, so
Bolsonaro.
Die staatliche Souveränität ist nach wie
vor das Grundelement der völkerrechtli-
chen Ordnung. Der Einmischung gegen
den Willen eines Staates sind enge Gren-
zen gesetzt. Eine ausdrückliche Erlaubnis
findet sich in Kapitel VII der Charta der
Vereinten Nationen: Wenn der Weltfrie-
den bedroht ist, kann der Sicherheitsrat
aus einer ganzen Palette von Maßnahmen
auswählen: von einer bloßen Aufforde-
rung über Sanktionen wie etwa die Unter-
brechung der Wirtschaftsbeziehungen bis
zum Militäreinsatz. Ist der Weltfrieden be-
droht, wenn der Regenwald brennt?
Bereits in den neunziger Jahren schrieb
Martin Nettesheim, der heute Völkerrecht
in Tübingen lehrt, vom „ökologischen Po-
tential“ der UN-Instrumentarien. Auslöser

für die Bedrohung von Frieden und Sicher-
heit sei zwar in der Regel eine Rechtsverlet-
zung, zwingend sei das aber nicht. „Durch
diese Entkoppelung von Recht und Politik
eröffnet sich den UN-Organen die Macht,
den Defiziten des geltenden Umweltvölker-
rechts die Spitze zu nehmen“, so Nettes-
heim 1996 in der Fachzeitschrift „Archiv
des Völkerrechts“. Heute könne man die
Frage, ob eine Umweltkatastrophe den
Weltfrieden bedrohe, noch eindeutiger be-
jahen als damals, sagt der Rechtswissen-
schaftler 23 Jahre nach der Veröffentli-
chung seines Textes zur Frage der Zulässig-
keit ökologischer Interventionen. Erlaubt
wäre auf dieser Grundlage jedenfalls der
Einsatz von Löschflugzeugen. Darf man
auch Soldaten schicken, um Brandstiftun-
gen in Zukunft zu unterbinden oder gar Ro-
dungen zu verbieten? Hier wird das völker-
rechtliche Eis dünn, ganz abgesehen vom
politischen Schaden und dem zweifelhaf-
ten Nutzen dieser Idee.
Kaum überwindbar ist freilich ein ande-
res Hindernis: die erforderliche Einigkeit
im Sicherheitsrat. Dies gilt umso mehr im
Kontext des Umweltschutzes. Die Sicher-
heitsratsmitglieder China, die Vereinigten
Staaten und Russland zählen zur Gruppe
der fünf größten Emittenten von Treib-
hausgasen. Sie haben wohl kein Interesse
daran, Umweltsünden als Anwendungsfall
von Kapitel VII zu etablieren.

Die Idee, für den Kampf gegen das Feu-
er im Amazonasbecken die Grundsätze
zur Schutzverantwortung („Responsibili-
ty to protect“) heranzuziehen, dürfte in
der Praxis ebenfalls an diesem Erforder-
nis scheitern. Daneben stellt sich die Fra-
ge, ob eine Umweltkatastrophe, selbst
größten Ausmaßes, als Verbrechen gegen
die Menschlichkeit angesehen werden
kann. Gibt es einen Nachweis, dass die
Brände durch menschliche Handlungen
verursacht wurden, „mit denen vorsätz-
lich große Leiden oder eine schwere Be-
einträchtigung der körperlichen Unver-
sehrtheit... verursacht werden“, wie es
das Rom-Statut verlangt? Nettesheim ist
hier zurückhaltend. Diese Regelung müs-
se „souveränitätsschonend“ ausgelegt
werden, sagt er. Für das globale Klimasys-
tem sind die Brände zwar bedrohlich,
doch erforderlich wäre, dass Menschen ei-
ner konkreten Gefahr ausgesetzt sind. Es
ist allerdings nicht auszuschließen, dass
sich das Umweltvölkerrecht noch in die-
ser Richtung weiterentwickelt.
Kann ein Staat auch außerhalb von Ka-
pitel VII der UN-Charta zum Schutz der
Umwelt tätig werden? Nettesheim spricht
hier vom „altruistischen Weltökopolizis-
ten“. Jede Art von militärischer Maßnah-
me gegen Umwelteingriffe, die ein ande-
rer Staat auf seinem Boden vornimmt, fal-
len unter das völkerrechtliche Gewaltver-

bot. Löschflugzeuge fallen zwar nicht di-
rekt unter den Gewaltbegriff, im Völker-
recht wird darunter primär der Einsatz
von Waffengewalt verstanden. Doch Flug-
zeuge, die große Mengen an Wasser ab-
werfen, sind funktional ähnlich wie ein Po-
lizeieinsatz zu bewerten – zumindest also
sehr nah am Einsatz von Gewalt.
Lediglich eine Ausnahme kommt hier in
Betracht: das völkerrechtliche Selbstvertei-
digungsrecht. Denkbar wäre ein Szenario,
dass ein Nachbarstaat Brasiliens sich gegen
das Übergreifen das Feuers auf sein Territo-
rium zur Wehr setzt. Ein bewaffneter An-
griff im Sinne der UN-Charta wäre das
nicht. Ein loderndes Feuer ist aber ähnlich
gefährlich und könnte nach dem Sinn und
Zweck der Regelung ebenso behandelt wer-
den. Die Europäer jedenfalls können sich
nicht auf die Selbstverteidigung berufen.
Bleibt die Frage, inwiefern Staaten auf
anderem Wege als mit Gewalt intervenie-
ren dürfen. Mahnende Worte, so könnte
man denken, sind in der Diplomatie im-
mer erlaubt. Doch so einfach ist es nicht, je-
denfalls nicht, wenn damit der Versuch po-
litischer Einflussnahme, etwa direkte Kri-
tik an hoheitlichen Entscheidungen, ein-
hergeht. Das allerdings ist nur der Grund-
satz, der von Ausnahmen überlagert wird.
Wenn ein Land in einem Rechtsakt – sogar
einem unverbindlichen –, dem Schutz der
Umwelt zugestimmt hat, wäre es rechts-
missbräuchlich, sich die verbale Einmi-
schung anderer Staaten zu verbitten. Da
Brasilien dem Pariser Klimaschutzabkom-
men zugestimmt hat, dürfen andere Län-
der die Regierung auch daran erinnern.
Die zweite, nichtmilitärische Form der
Einmischung sind die wirtschaftlichen
Sanktionen. Das Völkerrecht eröffnet den
Staaten große Freiheit, durch wirtschaftspo-
litische Maßnahmen ökologischen Druck
auszuüben. Nur innerhalb von geschlosse-
nen Regimen wie der WTO oder der EU ist
das nicht zulässig. Zudem ist die „Domaine
réservé“ zu beachten, also die inneren, aus-
schließlichen Angelegenheiten eines Staa-
tes, die einem Interventionsverbot unterlie-
gen. Wenn die Wasserqualität in einem be-
stimmten Gebiet leidet, dürfte ein anderer
Staat deshalb keine Maßnahmen ergreifen.
Handelt es sich allerdings um ein „Weltpro-
blem“ – Stichwort globales Klimasystem –,
ist die „Domaine réservé“ nicht berührt.
Die Abgrenzung ist zuweilen schwierig.
Klar ist aber, dass es völkerrechtlich unbe-
denklich ist, wenn Paris und Dublin das
Freihandelsabkommen zwischen der EU
und Mercosur vorerst nicht ratifizieren.

Wem gehört der Regenwald?


Gewaltverbot versus Umweltschutz: Welche ökologischen Interventionen erlaubt sind / Von Helene Bubrowski


Wissen, was ist


Kaltes Wasser


Herausforderung


DÜSSELDORF, 27. August
Dortmund ist für die SPD ein besonderer
Ort. In ihrer Herzkammer, wie Herbert
Wehner formulierte, feierten die Sozialde-
mokraten viele rauschende Siege und hiel-
ten regelmäßig große Kundgebungen und
Parteitage ab. Der bisher letzte Dortmun-
der Bundesparteitag der SPD fand im
Juni 2017 statt. Der damals schon ange-
schlagene SPD-Kanzlerkandidat Martin
Schulz grenzte sich in seiner Rede scharf
von der Union ab. Nach der Bundestags-
wahl und dem Scheitern der Jamaika-Son-
dierungen warb Schulz dann aber doch
für eine Neuauflage der großen Koalition


  • unter anderem auch bei einer Versamm-
    lung in Dortmund. Als Schulz Anfang
    2018 entgegen früherer Aussagen Minis-
    ter unter Kanzlerin Merkel werden woll-
    te, konnte er sich nicht im Amt des Bun-
    desvorsitzenden halten. Ihm folgte An-
    drea Nahles nach – die mittlerweile auch
    schon nicht mehr im Amt ist. Am Freitag-
    abend findet in Dortmund ebendeshalb
    wieder ein wichtiger sozialdemokrati-
    scher Termin statt: Der Landesvorstand
    der nordrhein-westfälischen SPD will dar-
    über beraten, wie sich der mit Abstand
    größte Landesverband im Ringen um die
    Nahles-Nachfolge positioniert. In die Ge-
    schichte der glanzvollen sozialdemokrati-
    schen Dortmund-Termine dürfte die Sit-
    zung nicht eingehen.
    Eigentlich ist der mit Abstand größte
    Landesverband eine Kraft, ohne oder ge-
    gen die in der deutschen Sozialdemokra-
    tie kaum etwas funktioniert. Die nord-
    rhein-westfälische SPD hat die meisten


Mitglieder, die meisten Mandatsträger,
stellt die meisten Parteitagsdelegierten.
Doch was zählt diese Macht noch, wer
weiß sie zu nutzen? Selbst ob der Landes-
vorstand am Freitag in Dortmund eine
Wahlempfehlung ausspricht, ist unklar.
„Ob wir ein Team nominieren, wird sich
am Freitag zeigen“, sagt Nadja Lüders,
die aus Dortmund stammende Generalse-
kretärin der Landes-SPD. Der stellvertre-
tende Landesvorsitzende Veith Lemmen
ergänzt: „Grundsätzlich steht einem star-
ken Landesverband eine Nominierung
nicht schlecht zu Gesicht, allerdings ent-
scheidet sich das am Bewerberfeld.“
Und das ist so unübersichtlich wie die
Lage der SPD. In einem langwierigen Ver-
fahren will die Partei in den kommenden
Wochen ihre neue Spitze bestimmen.
Schien sich zunächst niemand das Amt zu-
zutrauen, das Franz Müntefering einmal
als „das schönste Amt neben Papst“ be-
zeichnete, gibt es mittlerweile sieben
Zweierteams und drei Einzelbewerber.
Im September und Oktober werden die In-
teressenten auf Deutschlandtour gehen –
insgesamt 23 Vorstellungstermine sind ge-
plant. Danach stimmt die Basis ab. For-
mal gewählt wird die neue Spitze dann
Anfang Dezember auf einem Parteitag.
Aus Nordrhein-Westfalen gibt es mitt-
lerweile zwei Bewerber. Die ostwestfäli-
sche Landtagsabgeordnete und kurzzeiti-
ge nordrhein-westfälische Familienminis-
terin Christina Kampmann tritt im Paar-
lauf mit Michael Roth an, dem aus Hes-
sen stammenden Europa-Staatsminister
im Auswärtigen Amt. Der Kölner Bundes-

tagsabgeordnete Karl Lauterbach hat mit
seiner Fraktionskollegin Nina Scheer ein
dezidiert linksorientiertes Team gebildet.
Dass Lauterbach und Scheer sich beson-
ders klar für einen Bruch mit der Union
aussprechen, kommt bei den Groko-Geg-
nern in der nordrhein-westfälischen SPD
gut an. Zu ihnen zählen Funktionäre und
vor allem auch die Jusos, die mittlerweile
aktiv Anti-Wahlkampf gegen Bundesfi-
nanzminister Olaf Scholz machen, der ge-
meinsam mit der Brandenburger Land-
tagsabgeordneten Klara Geywitz antritt.
Laut Umfragen hat das Gespann Scholz/
Geywitz aber die besten Chancen. Beide
Politiker gelten als rational und nüchtern,
was vor allem bei den eher strukturkonser-
vativen Genossen an der Ruhrgebietsba-
sis gut ankommen dürfte, die sich nach
dem monatelangen Chaos nach Stabilität
und Ordnung sehnen. „Der Landesvor-
stand besteht nicht nur aus Jusos“, stellt
SPD-Generalsekretärin Lüders scherz-
haft klar. „Von daher werden wir sicher-
lich auch über diese Kandidatur reden
und beraten.“ Gleichwohl ist es kaum vor-
stellbar, dass sich der Landesvorstand der
nordrhein-westfälischen SPD am Freitag-
abend hinter dem aus Hamburg stammen-
den Scholz und seiner Mitkandidatin ver-
sammelt. Ebenso unwahrscheinlich ist
ein Votum für den niedersächsischen In-
nenminister Boris Pistorius, der gemein-
sam mit der sächsischen Integrationsmi-
nisterin Petra Köpping antritt.
Die einst so selbstbewusste nordrhein-
westfälische SPD ist ein Schatten ihrer
selbst. Nach der bitteren Niederlage bei

der Landtagswahl 2017 versprachen die
Spitzengenossen eine umfassende Er-
neuerung. Daraus ist nicht nur deshalb
nichts geworden, weil kurz darauf das lan-
ge Ringen um die Frage begann, ob die
SPD in Berlin noch einmal eine große Ko-
alition eingehen sollte. Hinzu kam das Un-
vermögen, die Machtfrage auf Landesebe-
ne zu lösen. Seit 2018 die nordrhein-west-
fälische Doppelspitze aus Thomas Kut-
schaty (Fraktion) und Sebastian Hart-
mann (Parteivorsitz) eher zufällig zustan-
de kam, ist die SPD an Rhein und Ruhr
durch zwei regelmäßig miteinander rin-
gende Machtzentren gelähmt. Der bisher
skurrilste Höhepunkt war erreicht, als
Kutschaty laut mit dem Gedanken spiel-
te, sich vielleicht auch für den Bundesvor-
sitz zu bewerben, und ihn Hartmann
prompt in die Schranken wies. In der
schlimmsten Krise der Sozialdemokratie
seit Gründung der Bundesrepublik
Deutschland fällt ihr größter Landesver-
band einstweilen als stabilisierende Kraft
aus.
In diesem diffusen Zustand dürfte der
Vorstand der nordrhein-westfälischen
SPD am Freitagabend entscheiden, lieber
keinen Führungsimpuls aus Dortmund an
die Gesamtpartei zu senden. Herzkam-
mer der deutschen Sozialdemokratie ist
Dortmund ohnehin nicht mehr: Bei der
Europawahl im Mai wurden die Grünen
in der Stadt stärkste Kraft. Und bei der
Kommunalwahl in einem Jahr muss die
SPD damit rechnen, dass erstmals seit
1946 nicht mehr ihr Kandidat Oberbürger-
meister in Dortmund wird.

In der Herzkammer des Niedergangs


Warum die nordrhein-westfälische SPD als stabilisierende Kraft für die Bundespartei ausfällt / Von Reiner Burger


Bedrohung für den Weltfrieden? Der Wald in Brasilien brennt. Foto dpa


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