Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

IM FOKUS


In Ihrem Buch stellen Sie Landkarten der Gewalt
vor, die Sie etwa für die USA erstellt haben. An-
hand derer zeigen Sie, dass es einen Zusammen-
hang gibt zwischen der Gewaltakzeptanz gegen-
über Kindern – Eltern sagen etwa „Schlagen ist
okay“ – und politischer Gesinnung. Es zeigte sich:
US-Bundesstaaten mit mehr Gewaltnormalität
waren meistens die, in denen der Rechtspopulist
Donald Trump auch mehr Wählerstimmen bei
der Kongresswahl einheimsen konnte.
Diese Karten zeigen, dass das politische Klima auch
das Familienklima widerspiegelt. Ich verstehe dabei
die Gewalt als einen Marker, als Ausdruck einer be-
schädigten Kindheit im weiteren Sinne. Auch ande-
re Entwicklungserfahrungen – etwa der Mangel an
verlässlichen Bindungen und Beziehungsabbrüche



  • sind Ausdruck einer beschädigten Kindheit. Dass
    auch diese Erfahrungen ein Klima für Autoritaris-
    mus bereitstellen, zeigt der Blick auf eine andere
    Landkarte: die der ehemals geteilten Nachkriegsstaa-
    ten DDR und BRD. In den neuen Bundesländern
    sehen wir heute ebenfalls eine deutliche Neigung zum
    Autoritarismus. Dabei gibt es keinen Hinweis, dass
    in der DDR im Vergleich zur BRD mehr körperliche
    Gewalt gegen Kinder ausgeübt wurde, im Gegenteil.
    Was war der Unterschied zwischen Kindheiten
    in Ost und West?
    Er lag weniger in der familiären Erziehung als viel-
    mehr in der institutionellen Säuglings- und Klein-
    kindbetreuung in der DDR. Zum Ende der 1980er
    Jahre waren mehr als 80 Prozent der Ein- bis Drei-
    jährigen in einer Krippe untergebracht. Zum Ver-
    gleich: In Westdeutschland wurden vor der Wende
    nur rund zwei Prozent der Kleinkinder außerhäusig
    betreut. Nun liegt die Flucht ins Autoritäre für mich
    nicht an der außerhäusigen Betreuung per se, son-
    dern an der Weise, wie diese Betreuung dort ablief.
    Die Gruppen waren groß, daher war die Betreuung
    oft nur mit entsprechendem Druck und in einem
    hierarchischen Gefüge zu schaffen. Die Kinder waren


meist über acht bis zehn Stunden am Stück dort un-
tergebracht. Die wenigsten von ihnen hatten eine
verlässliche Bezugsperson. Eine Hinwendung der Er-
zieherinnen zu Einzelnen war offiziell verpönt: Die
Kinder sollten nicht ihren eigenen Willen entwickeln,
sondern lernen, sich in das Kollektiv einzufügen. Ei-
ne Eingewöhnung der Kinder seitens der Eltern in
die Krippe fand nicht statt. Überhaupt war die An-
wesenheit der Mütter dort untersagt, und sogar
Kuscheltiere waren den Kindern meist verboten.
Das klingt nach sehr einsamen, emotional belas-
teten Kindheiten.
Ja, das waren Belastungen, auch dann, wenn viele
Familien dem ihr Bestes entgegensetzten. Am meis-
ten litten wohl die Kinder in den Wochenbetreuun-
gen. Das war nicht die Regelunterbringung, aber es
betraf nicht wenige: 1966 gab es Wochenkrippen-
plätze für fast 40 00 0 Kinder. 1980 waren es noch
17 00 0 Plätze. Viele der Kinder in den Wochen-
betreuungen, aber auch manche in den Tageskrippen
zeigten ein auffälliges Verhalten. Man nannte es Ad-
aptationssyndrom: Die Kinder zogen sich depressiv
zurück, verweigerten die Nahrung, hatten Schlafstö-
rungen und Entwicklungsverzögerungen.
Ich schließe mich deshalb den Forschungsergeb-
nissen der Psychiaterin und Psychoanalytikerin
Agathe Israel an, mit dem Fazit: In der DDR herrsch-
te ein autoritäres Erziehungssystem. Unter solchen
Umständen, die verlässliche Bindungen stark beein-
trächtigen, fällt es Kindern schwer, emotionale Si-
cherheit auszubilden und ein positives Selbstbild zu
erlangen. Das gilt auch, wenn körperliche Gewalt
nicht im Spiel ist. Sie lernen eher, sich anzupassen.
Die Folge ist vor allem: Angst. Dass diese bei gesell-
schaftlichen Umbrüchen aktiviert wird, ist kein Wun-
der.
Dann sind es doch die äußeren Umstände, die
Menschen dazu bringen, rechtspopulistische Par-
teien zu wählen?
Es gibt verschiedene Hypothesen, wie Menschen zu
einer rechtspopulistischen Gesinnung kommen. Die
einen sehen sozioökonomische Gründe, danach sind
die Anhänger der Rechtspopulisten die Abgehängten,
Menschen, die arbeitslos geworden sind, die den so-
zialen Abstieg fürchten. Die anderen stellen kultu-
relle Entfremdungserfahrungen wie einen Wertewan-
del in den Vordergrund. Danach sind die Rechtspo-
pulisten Menschen, die beklagen, dass alte Werte und
Rollenbilder nicht mehr gelten würden. Etwa die
klare Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern.
Für diese Menschen bedeutet der Wandel eine Krän-
kung, und darum wählen sie weit rechts.

Die Kinder sollten nicht ihre


eigenen Wünsche entwickeln,


sondern lernen, sich in das


Kollektiv einzufügen

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