Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

TITEL


A


ls Mark Twain an seinem Roman Die
Abenteuer des Tom Sawyer schrieb,
saß er in einem Pavillon auf dem
Grundstück, so weit vom Haupthaus
entfernt, dass die Familie in ein Horn
blies, wenn sie auf sich aufmerksam machen musste.
Dort, auf der Quarry Farm in New York, verbrachte
Mark Twain einige Sommer mit seiner Frau und den
Töchtern. „Ich reiße alle Türen und Fenster auf, be-
schwere meine Unterlagen mit Ziegeln und schreibe
mitten im Orkan“, so soll er seine Arbeitsatmosphä-
re an heißen Tagen beschrieben haben. Dabei ent-
stand ein bedeutsamer Jugendroman. Als To m S a w ­
yer 1876 erschien, bereicherte er Amerika durch die
Verwendung von Jugendsprache um einen neuen Stil.
Der Fortsetzungsroman Die Abenteuer des Huckle­
berry Finn gilt gar als Schlüsselwerk der US-Literatur.
Wie Mark Twain vollziehen viele Schriftsteller und
Künstler ungewöhnliche Rituale, um sich zu kon-
zentrieren, häufig solche der Abgrenzung. Ihre Sehn-
sucht danach, sich ganz einer Sache zu widmen, ken-
nen wir alle. Nicht nur weil wir das brauchen, um
unseren Alltag und die Arbeit geregelt zu bekommen.
Und auch nicht bloß deshalb, weil es sich gut anfühlt.
Bei der Fähigkeit zur Konzentration geht es – beson-
ders heute – um viel mehr.
Werbung, Facebook und andere soziale Medien
beeinf lussen, mit was wir uns beschäftigen. Ihre Al-
gorithmen versuchen, möglichst viel von unserer li-
mitierten Aufmerksamkeit abzugreifen, und lenken
sie auf die von ihnen gewünschten Themen. Damit
bleibt weniger Raum für die Gedanken, die uns wo-
möglich ernsthaft bewegen, oder die Menschen, die
uns wichtig sind. Wenn wir uns im Gegensatz dazu
auf die eigenen Bedürfnisse und selbst gewählten
Ziele konzentrieren, bedeutet das fast schon eine Form
von Widerstand. Ganz sicher ist es Selbstbestimmung.
Doch was ist Konzentration? Und wie gelangen wir
zu ihr?

Tun, was man will – und nur das
Im Alltag sei ein Mensch dann konzentriert, wenn
er absichtsvoll das – und nur das – tue, was er sich
zu tun vorgenommen hat, so heißt es im Dorsch –
Lexikon der Psychologie. „Konzentration bedeutet,
dass ich mich einer Sache explizit widme und dafür
andere Aspekte außer Acht lasse“, sagt Tilo Strobach,
Professor für allgemeine Psychologie an der Medical
School Hamburg. Während das Konzept der Acht-
samkeit vorsehe, dass der Gegenstand der Fokussie-
rung wechseln könne – ein Objekt, ein Gedanke ei-
ne Wahrnehmung –, bleibe man bei der Konzentra-
tion auf eine Sache fixiert.
Der Begriff „Konzentration“ wird in der Psycho-
logie nicht ganz einheitlich verwendet. Einigkeit be-
steht allerdings darin, dass Konzentration immer die
Abschirmung gegen störende Reize beinhaltet. Ich
nehme beispielsweise wahr, was jemand sagt, und
lasse mich nicht davon abbringen, dass das Smart-
phone klingelt oder weil ich mich langweile und lie-
ber von Panama träume. Wir müssen unsere Auf-
merksamkeit also ständig kontrollieren. Das tun wir,
wenn wir mit dem Auto an einer Kreuzung stehen,
auf die Ampel achten und die Kinder, die auf der
Rückbank quengeln, kurzzeitig ausblenden. Wenn
wir einen Zeitungsartikel lesen und verstehen wollen


  • statt die Sätze nur zu überf liegen und dabei ans
    Mittagessen zu denken.


Eine Fähigkeit, die man lernen kann
Die gute Nachricht für alle, die ihre Gedanken ein
wenig öfter sammeln möchten: Wir können diese
Fähigkeit schulen. Mit der Konzentration ist es wie
mit einem Muskel: Durch viel Übung wird sie grö-
ßer. Mit klassischen Achtsamkeitsübungen und Me-
ditation können wir die allgemeine Konzentrations-
fähigkeit steigern. Wer sie bei einer konkreten Tätig-
keit erhöhen will – etwa beim Cello- oder Compu-
terspielen –, sollte am besten genau diese Handlung

Alle wollen unsere Aufmerksamkeit.


Sich zu konzentrieren ist ein Akt der


Selbstbestimmung

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