Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

TITEL


orientiert annähern. Und auch ein spielerisches He-
rantasten baut Hemmungen ab: „Wenn mich das
Kapitel drei interessiert, kann ich das erst einmal
durchblättern – oder mir mit sinnlicher Stimme von
meinem Freund oder meiner Freundin vorlesen las-
sen.“ Rü ckert meint, viele Leute hätten eine starre
Herangehensweise an Probleme. „Wenn man statt-
dessen eine Vielfalt von Handlungsoptionen hat, sind
die Dinge nicht so unangenehm.“
Auch der richtige Ort erleichtert die Konzentra-
tion. Die meisten Menschen brauchten ein mittleres
Erregungsniveau, um sich gut konzentrieren zu kön-
nen, sagt Andrea Kiesel, Professorin für allgemeine
Psychologie an der Universität Freiburg. Dabei be-
deutet Erregungsniveau, vereinfacht gesagt, die phy-
siologische Aktivierung. Eine niedrige hat man, wenn
man schläft, und eine hohe bei Stress. Sowohl bei zu
viel als auch bei zu wenig Anspannung fällt die Leis-
tung ab, besagt das sogenannten Yerkes-Dodson-
Gesetz. Dabei ist für leichte Aufgaben etwas mehr
Erregung optimal, denn sie verengt den Aufmerk-
samkeitsfokus und verhindert Ablenkungen; für
schwierige Anforderungen eignet sich hingegen eine
etwas niedrigere: Sie weitet den Fokus und lässt einen
dadurch mehr Informationen betrachten. Das ist für
das Verständnis komplexer Situationen unabdingbar.
Wie hoch das Erregungsniveau in einer Situation ist,
hängt von inneren Faktoren ab – der Atemfrequenz
oder Angst – und ebenso von äußeren, etwa Lärm
oder Licht. Daher ist es je nach Person und Situation
unterschiedlich, wie viel äußere Ruhe oder im Ge-
genteil Betriebsamkeit die Konzentration fördert –
also bieten sich unterschiedliche Arbeitsorte an. Den
passenden findet man am besten durch Ausprobieren.
Von David Roy Shackleton Bailey, einem bedeu-
tenden klassischen Philologen, hält sich die Legende,
er habe sich, wenn er wirklich nachdenken wollte, in
einen Teppich gerollt. Mark Twain brauchte eine Hüt-
te für sich allein, andere bevorzugen eine Bibliothek
oder ein Café, viele können sich im ICE gut konzen-
trieren. „Die Gestaltpsychologen nennen das Feld-
abhängigkeit“, sagt Rückert. „Verschiedene Orte ha-

ben für verschiedene Menschen einen unterschied-
lichen Aufforderungscharakter.“ Während sich der
eine konzentriert über Bücher beugt, sobald er die
Bibliothek betritt, analysiert der andere, was die Men-
schen um ihn herum tun.
Doch wirkt die Suche nach den perfekten Um-
ständen nicht ein wenig übertrieben? Ist die Maxi-
mierung der Konzentration überhaupt erstrebens-
wert? Konzentration hat etwas Hartes. Wer sich auf
die Arbeit konzentriert, f lüchtet manchmal vor den
wichtigen Fragen des Lebens. Oft vernachlässigt er
andere Interessen, seinen Körper, seine Familie oder
seine Freunde. Ärzte, so beschreibt es der Psycholo-
ge Daniel Goleman, mindern ihre Gehirnaktivität,
die mit Empathie zu tun hat. Das täten sie im Laufe
ihres Berufslebens automatisch, um sich besser zu
konzentrieren. Für die Dauer einer Operation mag
das hilfreich sein, doch als Dauerzustand wäre es
schlimm. „Die große Frage ist, wie wir die Balance
finden“, meint Tilo Strobach. „Im Extremfall maxi-
maler Fokussierung würde ich nicht hören, wenn
jemand um Hilfe ruft.“ Eine Gesellschaft, in der sich
jeder nur auf seine Ziele konzentriert und nicht sieht,
was um ihn herum geschieht, kann brutal enden.
Und auch für die Arbeit, gerade bei komplexen Zu-
sammenhängen, ist ein nicht ganz konzentrierter,
sondern offenerer, kreativer Blick bereichernd. Er
entsteht häufig bei positiver Stimmung jenseits der
Konzentration. Ebenso wie positive beeinträchtigt
negative Stimmung die Konzentration – und berei-
chert das Denken auf eine andere Art. „Wenn wir
nicht so glücklich sind, ref lektieren wir mehr“, sagt
Tilo Strobach. Man tendiert dann zu analytischerem,
kritischerem, hinterfragendem Denken.
Es ist auch ein Schutz, dass wir nur ein begrenztes
Maß an Konzentration auf bringen können. Denn
Lebendigsein bedeutet, den Tunnelblick aufzubre-
chen und nach links und rechts zu sehen, sich warnen
und verführen lassen. Es verlangt danach, mit der
Umwelt mitzuschwingen, Veränderungen und neue
Möglichkeiten zu entdecken. Wir sollten die Kon-
zentrationsphasen nicht endlos verlängern, sondern
sie als Mittel sehen, das wir eben manchmal bewusst
einsetzen müssen. Auch Mark Twain zog sich nicht
ständig und nur für ein sehr hohes Ziel zurück. Er
erschuf Tom Sawyer und Huckleberry Finn, kleine
Herumtreiber, denen man heute ADHS diagnosti-
zieren würde. Über Kinder, die fokussiert ihre Haus-
aufgaben erledigen, gibt es keine Romane.

Die Quellen zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website:
psychologie-heute.de/literatur

Wer sich auf die Arbeit


konzentriert, flüchtet


manchmal vor den wichtigen


Fragen des Lebens

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