Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

tische Methode noch die vom Klienten angesproche-
nen Themen taugliche Prädiktoren waren, sondern
wie stark sich Klienten auf ihr noch wortloses gegen-
wärtiges Erleben beziehen und versuchen, es in Wor-
te zu fassen. Gendlin entwickelte darauf hin Trai-
ningsprogramme – eine Frühform von Focusing – für
die Klienten, die das nicht von sich aus taten, und
siehe da, sie profitierten danach signifikant mehr
von ihren Therapien.
Im Focusing soll man in seinen Körper hinein-
spüren. Wieso sollten dort Lösungsschritte zu fin-
den sein?
Weil sich unser Körper, wohlverstanden als lebendi-
ger, von innen fühlbarer „Leib“, von allem Anfang
an in fortdauernder Interaktion mit seiner Umwelt
gebildet hat. Er besteht also aus einem riesigen Er-
fahrungsschatz von Problemlösungsmöglichkeiten.
Und er wird – als Wesensmerkmal des Lebendigseins



  • immer versuchen, den bestmöglichen nächsten
    Schritt des Weiterlebens zu implizieren. Dieses Kör-
    per-Wissen oder Seins-Wissen wird populärerweise
    häufig Bauchgefühl oder in den Kognitionswissen-
    schaften implicit knowing genannt. Die Frage ist, wie
    wir zu diesem impliziten Wissen Zugang finden kön-
    nen. Focusing ist der methodische Weg, diesen Zu-
    gang zu öffnen.
    Und wie macht man das?
    Indem Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen lenken
    und dort bemerken, was Sie schon spüren, aber noch
    nicht sagen können. Dieses Gespür nennen wir „Felt
    Sense“. Es geht über das hinaus, was wir schon be-
    wusst wissen, denken und sagen können – ein prä-
    konzeptuelles Fühlen, eine Ahnung, eine Stimmung.
    Ein solches „Felt Sense“-haftes Erleben bildet sich zu
    jedem Thema, jeder Fragestellung, zu jedem Prob-
    lem. In ihm ist implizit enthalten, was wir als kör-
    perliches Wesen schon alles „wissen“, ohne es bewusst
    zur Verfügung zu haben. Statt über das Problem in
    strukturgebundener, also immer in gleicher Art und
    Weise nachzugrübeln, verweilen wir mit dem „Felt
    Sense“ des Problems, und zwar in einer möglichst
    wohlwollenden und absichtsfreien Haltung. Dann
    können sich die impliziten Bedeutungen des „Felt
    Sense“ explizieren, also in Worten, inneren Bildern
    oder Handlungsimpulsen entfalten.
    Kann jeder zum „Felt Sense“ gelangen?
    Ja. Was so geheimnisvoll klingt, ist gar nichts Beson-
    deres. Jeder kann es bemerken, wenn sie oder er auf-
    merksam wird auf die noch wortlosen subtilen Emp-
    findungen, die in jeder Situation und angesichts jedes
    sogenannten Problems immer spürbar sind – oft un-


scheinbar, vielleicht wie ein feines Unbehagen. Was
die meisten Menschen allerdings nicht wissen, ist:
Es lohnt sich, mit diesem noch vagen Unbehagen ein
wenig Zeit zu verbringen, auch wenn das zunächst
nicht viel verspricht. Denn es ist die Quelle für Neu-
es, Überraschendes, Nicht-Antizipierbares. Und ge-
nau das wird ja für jede Problemlösung gebraucht!
Die Aufmerksamkeit vom Problem abzuziehen
und in sich hineinzulenken, dorthin, wo etwas noch
Ungeformtes, Unklares spürbar ist, kann ungewohnt
und auch ein wenig beängstigend sein. Man weiß ja
noch nicht, was es ist beziehungsweise was daraus
werden könnte.
Ist die Angst, dass Unheilvolles aus einem her-
auskommen könnte, nicht berechtigt?
Das hängt ganz davon ab, wie man sich auf einen
„Felt Sense“ bezieht. Das ist ein geradezu universales
Gesetz, aus der Physik ebenso bekannt wie aus der
Psychologie: Was ich erlebe, hängt davon ab, wie ich
damit in Beziehung trete. Focusing zeigt uns, wie
wir in einer akzeptierenden, achtsamen und absichts-
losen Haltung mit dem, was wir erleben, in Beziehung
treten können. Das erfordert Praxis und Übung. Man
kann das nicht aus Büchern lernen. Deshalb ist es
sehr sinnvoll, Focusing in kleinen Weiterbildungs-
gruppen zu erlernen.
Die Methode wird von den Krankenkassen nicht
als Psychotherapiemethode anerkannt. Mangelt
es an wissenschaftlicher Validierung?
Um eine solche Anerkennung durch Krankenkassen
oder berufsständische Organisationen haben wir uns
bewusst in keinem der deutschsprachigen Länder
bemüht. Eine Anerkennung bringt immer externe
Auf lagen und Kontrolle mit sich. Wir wollen uns den
Freiraum erhalten, den auch der Focusing-Prozess
benötigt, um sich entfalten zu können. Unsere Aus-
bildungsinstitute sind dennoch von den Psychothe-
rapeutenkammern akkreditiert. Mit der sogenann-
ten wissenschaftlichen Validierung ist das eine etwas
ähnlich gelagerte Sache. Durch die in diesen Verfah-
ren erforderliche Operationalisierung geht die den
Prozess ausmachende Subtilität verloren. Wir setzen
bei den Phänomen, die wir im Focusing erfahren
und ref lektieren, auf Evidenzbasierung, nicht in der
angloamerikanischen, sondern in der ursprünglichen
Bedeutung des Wortes „Evidenz“, nämlich – nach
Kant – der „anschaulichen Gewissheit“. Und: In
jüngster Zeit werden Theorie und Praxis von Focu-
sing in zahlreichen neurowissenschaftlichen Unter-
suchungen bestätigt. PH
INTERVIEW: ANNE KRATZER

Johannes Wiltschko
ist Psychologischer
Psychotherapeut und
Leiter der Akade-
mie für Focusing,
Focusing-Therapie
und Prozessphilo-
sophie. Er lernte
Focusing bei dessen
Begründer Eugene
T. Gendlin und hat
mehrere Bücher
dazu verfasst, zuletzt
Hilflosigkeit in Stärke
verwandeln. Focusing
als Basis einer Meta-
psychotherapie
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