Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1
THERAPIESTUNDE

I


ch verbringe mit den Menschen im Ge-
fängnis seit 25 Jahren mehr Zeit als mit
den meisten anderen Menschen in mei-
nem Leben. Ich bin Therapeut für die In-
haftierten und erstelle prognostische Stel-
lungnahmen über deren zu erwartendes
mögliches Verhalten in der Zukunft.
Oft werde ich gefragt, wie man für ei-
nen Kindesmörder ein positives Gefühl
entwickeln kann. Kann man Mitgefühl
mit einem Täter haben? Darf man das?
Kann man den Täter verstehen, ohne die
Tat zu rechtfertigen oder zu entschuldigen?
Herr K. verbüßte eine lebenslange Frei-
heitsstrafe wegen zweifachen Mordes. Er
hatte im Auftrag seines Arbeitgebers des-
sen von ihm schwangere Geliebte und ih-
re gemeinsame zweijährige Tochter getö-
tet, indem er die beiden in ihrer Wohnung
mit einem Messer erstach. Hierfür sollte
er von seinem Arbeitgeber 8000 Mark er-
halten.
Laut Gerichtsbeschluss betrug die Min-
destverbüßdauer 22 Jahre, da bei Herrn K.
die besondere Schwere der Schuld fest-
gestellt wurde. Er stammte aus der ehe-
maligen DDR und war seit seinem zweiten
Lebensjahr immer wieder in Kinderhei-

men, Jugendwerkhöfen und Gefängnissen
untergebracht. Nach seiner Über siedlung
nach Westberlin 1988 fühlte er sich zu-
nächst verloren, fremd und gänzlich über-
fordert. Das westliche System verführte
ihn dazu, sich viele Dinge anzuschaffen,
von denen er lange geträumt hatte – und
er verschuldete sich schnell. Eine regel-
mäßige Arbeit fand er trotz intensiver Be-
mühungen lange nicht. Dann wurde ihm
seine Unerfahrenheit zum Verhängnis: Er
geriet an skrupellose Arbeitgeber, die ihn
um seine Bezahlung prellten. Immer in-
tensiver wurde die Angst, wegen nicht zu
begleichender Schulden in einen Strudel
von Verurteilungen und Inhaftierungen
zu geraten und sein Leben weiter in – dies-
mal westdeutschen – Verwahrinstitutio-
nen verbringen zu müssen.
Herr K. hatte zum Zeitpunkt des De-
liktes einen Arbeitgeber gefunden, der ihm
erstmalig ein Gefühl von Freundschaft
vermittelte. Allerdings wurde er auch die-
ses Mal missbraucht. Bald war er gefangen
in einem Netz materieller und emotiona-
ler Abhängigkeiten – am Ende stand die
Erfüllung eines Auftragsmordes für seinen
Chef. Mehr noch als das Geld war für ihn

MITGEFÜHL FÜR EINEN MÖRDER?


Der Klient hat ein
zweijähriges Kind und
dessen Mutter getötet.
Wie kann der Gefängnis-
psycho loge – selbst
Vater eines Kleinkindes


  •  eine therapeutische
    Beziehung zu ihm
    aufbauen?


Uwe Kazenmaier ist Stations-
leiter der Sozialtherapeutischen
Anstalt in der JVA Tegel in
Berlin und betreut dort als
Gefängnispsychologe inhaftierte
Schwerkriminelle ILLUSTRATION: MICHEL STREICH
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