Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1
dabei die Loyalität zu seinem Arbeitgeber
bedeutsam, für den er zwischenzeitlich
bereit war, alles zu tun, um sich dessen
Zuneigung zu sichern.

Bin ich der richtige Therapeut?
Ich lernte Herrn K. in seinem 20. Haftjahr
kennen und traf auf einen Menschen, ver-
sunken in eine tiefe Gleichgültigkeit und
Resignation. Zu Beginn der Arbeit waren
seine präzisen, kühlen Beschreibungen
der Tötungen seiner Opfer zeitweise na-
hezu unerträglich für mich, da ich zu die-
sem Zeitpunkt ein Kind im gleichen Alter
hatte und sich die Bilder meines Kindes
und des Opfers in mir immer wieder über-
einanderlegten, wenn ich die Tatortfotos
aus den Ermittlungsakten und den schwer
verwundeten Leib eines kleinen Kindes
sah. Obwohl ich in meiner beruf lichen
Tätigkeit schon vieles gehört und gesehen
hatte, war ich in diesem Fall unsicher, ob
ich zu diesem Zeitpunkt als Vater eines
Kleinkindes der Richtige für die thera-
peutische Arbeit mit einem solchen Täter
sein könnte.
Es war klar, dass Herr K. auch gar nichts
anderes erwartete als Abscheu, Abwertung
und Zurückweisung seiner Person, die
durch eine monströse Tat zum Monster
geworden war. Ich habe schon früher die
Erfahrung gemacht, dass es meinem Kli-
enten und mir in diesen Situationen hel-
fen kann, meine Empfindungen gegen-
über dem Täter in Hinblick auf seine Tat
sehr ehrlich zu offenbaren und ihm dabei
zugleich zu vermitteln, dass ich weiter mit
ihm als Mensch im Kontakt bleiben möch-
te. Entscheidend dabei ist, ob der andere
dieses Interesse annehmen kann. Tatsäch-
lich konnte sich Schritt für Schritt eine
Beziehung entwickeln, bei der die Tat im-
mer weniger als Barriere zwischen uns
stehen musste.
Seine Erzählungen waren zunächst in
der Sachlichkeit, mit der er über die mör-
derische Gleichgültigkeit seiner Eltern
sprach, erschütternd. Er redete ohne auch
nur eine Spur von Wut oder Trauer. Die
zunächst als Abwehr gegenüber Wün-
schen nach Wärme, Zuwendung und Halt
erlebte Fassade weichte aber langsam auf.

Ich erinnere insbesondere eine Stunde,
in der Herr K. davon berichtete, dass er
im Alter von vier Jahren immer wieder
im Dorf bei Nachbarn nach Essen für sich
und seine kleineren Geschwister bettelte,
während seine Eltern zu Hause völlig be-
trunken herumlagen. An einem dieser
Tage fand er eines seiner Geschwisterchen,
das zu klein war, um sein Gitterbettchen
zu verlassen, tot vor. Es war erstickt bei
dem Versuch, aus Hunger die Federn sei-
nes Kissens zu essen.

Scham „vor den Menschen
da draußen“
Als er seine Schilderung beendet hatte,
schwieg er. Sein Blick schien leer und nach
innen gerichtet. Ich blickte auf diesen klei-
nen müden Mann mit fadem Teint, mit
den tiefen Augenringen und dem zerzaus-
ten Haar. Seine Kleider waren altmodisch
und schienen aus der Zeit vor der Inhaf-
tierung zu stammen. In diesem Moment
war ich zutiefst berührt und voller Mitge-
fühl und Wärme für den kleinen Jungen,
der vor mir saß und doch zugleich der Er-
wachsene war, der Unsägliches getan hat-
te. Diese Stunde werde ich nie vergessen.
Ich habe selten einen Menschen erlebt, der
so erfüllt war von wahrhaftigen Schuld-
gefühlen und Verzweif lung – nicht über
sein eigenes Schicksal, sondern über das,
was er anderen Menschen angetan hatte.
Er hatte seit langem das Gefühl angesichts
seiner Tat, nicht das Recht zu haben, über
sein Leben Trauer empfinden zu dürfen.
Herr K. absolvierte in Haft eine Lehre
als Kfz-Mechaniker. Er wurde bald als
„unverzichtbarer Mitarbeiter“ beschrie-
ben und erarbeitete sich – wie auch in der
Wohngruppe – durch seine Hilfsbereit-
schaft und seine technischen Kompeten-
zen einen besonderen Status. Im letzten
Haftjahr ergab sich eine Möglichkeit, auf
finanziellen Schadensersatz vom Land
Berlin zu klagen, da sich herausgestellt
hatte, dass einige Inhaftierte ein paar Mo-
nate in zu kleinen und deswegen nicht
zulässigen Hafträumen untergebracht ge-
wesen waren. Herr K. gehörte zu dieser
Gruppe. Als ich ihn fragte, ob er sich die-
ser Klage anschließen werde, antwortete

er mir mit fester Klarheit, dass er sich
schämen würde, „vor den Menschen da
draußen“ Geld dafür zu verlangen, und
dass er zu Recht eingesperrt worden sei
für das, was er getan habe. Ich hatte da-
mals kurz überlegt, ob er dies in manipu-
lativer Absicht gesagt hat, ich glaube aber
bis heute, dass es Anstand war.
Herr K. wurde nach 24 Jahren Haft ent-
lassen, und wir verabschiedeten uns mit
Achtung füreinander. Es gab keine Ent-
schuldigung oder Vergebung für Herrn K.,
aber es gab Momente der Wärme und des
Trostes für einen kleinen Jungen.
Wir sind Jahre danach noch gelegent-
lich im Kontakt gewesen. Herr K. hat den
Führerschein gemacht, arbeitet in einem
kleinen Betrieb, hat eine kleine Wohnung
und ein Auto. Manchmal, wenn er U-Bahn
fährt und eine Mutter mit einem kleinen
Kind einsteigt, muss er aussteigen. Die
Schuld, die er trägt, ist dann zu viel. PH

ILLUSTRATION: MICHEL STREICH


Ich bin


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Petra Salfer
Heilpraktikerin für
Psychotherapie, Praxis
in Mühldorf am Inn
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