Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

ILLUSTRATIONEN: DANIEL BALZER


A


ls Markus Becker klein war, fühlte
er sich oft allein. „Mir fehlte Nest-
wärme“, sagt er. Keine Umarmun-
gen, wenig Nähe. Die Mutter kam
einfach nicht mit ihm zurecht. Mar-
kus hatte zu allem eine Meinung. Immer fragte er
nach, wollte Neues wissen und lernen. „Sie hat gespürt,
dass ich ein schlaues Bürschchen war. Aber sie fand
mich merkwürdig.“ Auch mit anderen Kindern tat
sich der Junge schwer. Verstanden fühlte er sich erst,
als er in die Grundschule kam. Hier durfte er neugie-
rig sein und einen eigenen Kopf haben. „Das war eine
Art Paradies für mich“, erzählt der heute 52-Jährige.
Seine Lehrerin war vom alten Schlag, die 40 Kin-
der der Klasse führte sie mit starker Hand. Und doch
hatte sie etwas Mütterliches, Zugewandtes. „Sie er-
kannte, dass ich es zu Hause nicht leicht hatte. Dar-
um war sie besonders nett zu mir. Und ich habe mich
immer bemüht, ihr zu gefallen.“ Markus wischte die
Tafel sauberer als sauber. Meldete sich, wann immer
er konnte. Eine ganz besondere Bindung empfand er
zu ihr. Und sie, vermutet er, zu ihm. „Sie schenkte
mir die Anerkennung, die ich brauchte.“
15 00 0 Stunden seines Lebens verbringt der durch-
schnittliche Deutsche in Klassenzimmern. Etwa fünf-
zig Lehrer versuchen in dieser Zeit, ihm etwas bei-
zubringen. In Erinnerung bleiben nur wenige. Aber

VON MONIKA GOETSCH

Die Lehrer unseres Lebens


Auch wenn die Schulzeit länger zurückliegt, erinnert sich wohl
jeder an ein paar ganz besondere Lehrer. Leider sind das oft
solche, die mit ihren Marotten oder ihrem einschläfernden
Unterricht ein zweifelhaftes Andenken hinterlassen haben. Doch
es gibt auch Lehrer, die Vorbild waren und uns fürs Leben
prägten. Was zeichnet solche Persönlichkeiten aus?

manche Lehrer prägen uns für immer. Sie unterrich-
ten nicht nur Fachwissen, sie schenken Zuversicht.
Ihnen ist es zu verdanken, dass wir uns an Neues
heranwagen. Uns erlauben, Fehler zu machen. Und
unseren Fähigkeiten vertrauen.
Ursula Sturm trägt ihre Gymnasiallehrerin noch
heute, mit 88 Jahren, im Herzen. Sechs Jahre lang
wurde sie von einer Nonne in Deutsch, Latein und
Englisch unterrichtet. Kein Kind mochte die strenge,
hässliche Frau, deren Augen dicke Brillengläser ver-
bargen. „Aber einmal, als Zehnjährige, bin ich aus-
gerutscht und habe mir das Knie aufgeschlagen. Die
Lehrerin kam zu mir, setzte ihre Brille ab und trös-
tete mich. Und ich sah, was für gütige Augen sie hat-
te!“
Das Taschentuch, das sie dem Mädchen ums Knie
band, war blütenweiß und aus Seide. Ursula Sturm
durfte es behalten. Von da an hatte sie keine Angst
mehr vor ihrer Lehrerin. Nur noch Respekt. Das Kind
entdeckte, dass diese Frau zwar viel von ihren Schü-
lerinnen verlangte, aber freundlich war und half,
wenn man eine Frage hatte. Ihre Lehrerin konnte
zwar nicht verhindern, dass Ursula Sturms Vater die
Tochter nach der zehnten Klasse von der Schule nahm.
Aber sie gab ihr einen Satz mit auf den Weg, den sich
die alte Dame in all den Jahrzehnten immer wieder
vergegenwärtigt hat: „Sei stark und kämpfe es durch!“
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