Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Zumindest im Jahr 1996, als 10 00 0 österreichi-
sche Schüler der Klassen 7 bis 13 befragt wurden,
gehörte öffentliche Demütigung noch zum Reper-
toire mancher Lehrkräfte: 17 Prozent der Be-
fragten berichteten, dass sie in den vorange-
gangenen vier Wochen von ihren Lehrern
ungerecht behandelt, geärgert oder ge-
kränkt worden seien. Dumm, unfähig, hirn-
verbrannt oder blöd seien die Schüler, sie
könnten nicht logisch denken, seien hohl im
Kopf oder unbegabt: So beschimpften die Päd-
agogen ihre Schützlinge. Andere Lehrer kleide-
ten ihre Aggressionen in eine vermeintlich wit-
zige Bemerkung wie „Du hast ein Hirn wie
ein Nudelsieb“, das allgemeine Gelächter
kränkte umso mehr. Die Betroffenen be-
richteten von Niedergeschlagenheit und
Angst, von Bauchschmerzen und Rachege-
fühlen.
„Verbale Gewalt durch Lehrer ist in Bremer
Klassenräumen offensichtlich Normalität“, bestä-
tigte im Jahr 2003 eine Studie aus der Hansestadt.
Ein Drittel der Befragten erklärte, im vorangegan-
genen Schuljahr von Lehrern „mit Worten fertigge-
macht“ worden zu sein. Verbale Gewalt durch Leh-
rer gegen Schüler sei mindestens so verbreitet wie
verbale Gewalt unter Schülern, schlossen die Forscher
seinerzeit. Es ist zu befürchten, dass sich daran seit-
her nichts Grundlegendes geändert hat.
Das ist durchaus keine Bagatelle. Beschämung tut
weh. Und sie verdirbt die Freude am Lernen. „Es gibt
Menschen, die behalten die Schule als ein Meer der
Demütigung in Erinnerung“, so der Pädagogikpro-
fessor und Psychoanalytiker Kurt Singer in seinem
Buch Die Schulkatastrophe.
Welchen Schaden solche Demütigungen genau
anrichten, ist allerdings nicht hinreichend erforscht.
Es fehle an repräsentativen Langzeitstudien über die
Folgen schlechter Lehrer-Schüler-Beziehungen, klagt
Diana Raufelder, Professorin für Schulpädagogik an
der Universität Greifswald. „Klar ist aber: Sie wirken
sich ungünstig auf das Selbstkonzept, die Motivati-
on und die schulischen Leistungen der Kinder aus.“
Vor allem bei jungen Schülern wögen entmutigende
Lehrersätze schwer.
Jugendliche gehen schon eher auf Opposition.
Maximilian Kerner, heute 58 Jahre alt, erinnert sich
lebhaft an einen Religionslehrer in der Mittelstufe.
„Der Mann hat es fertiggebracht, mich und etliche
andere Schüler gegen die Kirche aufzubringen. Durch
engstirniges Beharren auf Dogmen, Diskussionsun-
fähigkeit und Strenge.“ Wer fragte, provozierte.


Kritik war
verboten. Immerhin:
An diesem Lehrer schulte Kerner sei-
nen Widerspruchsgeist. „Wenn ich
heute Menschen begegne, die nur ihre
eigene Wahrheit gelten lassen, ist mir dieser Lehrer
erinnerlich. Das ist ein Typus, dem man relativ häu-
fig begegnet, bei Linken wie Rechten – gerade heute.“

Fehler sind angstbesetzt
Eine zeitgemäße Pädagogik sollte alles daransetzen,
Lehrer fit zu machen für einen Unterricht, der Of-
fenheit und Vertrauen fördert, Individualität wert-
schätzt und den Schülern das Gefühl gibt: Hier sind
wir richtig. Die Lehrer unseres Lebens fördern nicht
nur unseren Wissensauf bau, sie fördern uns dabei,
uns als Persönlichkeit zu entfalten.
Eine ehrgeizige Studie des Erziehungswissen-
schaftlers John Hattie belegt die Bedeutung des Leh-
rers für den Lernerfolg auf empirischem Weg. Der
Neuseeländer erfasste mehr als 1400 Metaanalysen,
die sich wiederum auf 85 00 0 empirische Studien mit
geschätzt 300 Millionen Lernenden stützen, und un-
terzog all diese Daten seinerseits einer zusammen-
fassenden Analyse. Ein Mammutprojekt. Und ein
Meilenstein in der empirischen Forschung.
Hattie wollte wissen, worauf es im Unterricht wirk-
lich ankommt. Unter welchen Umständen lernen
Schüler am besten? Das Ergebnis: Nicht die viel-
diskutierten Klassengrößen, nicht der altersge-
mischte oder geschlechtergetrennte Unterricht, nicht
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