Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

D


ie jungen Frauenaugen schauen ge-
rade in die Kamera. Als würden sie
ihren Betrachter durchbohren wol-
len. Ich würde also „durchdringend“
angeben, wenn man mir diesen Be-
griff als Attribut für den Augenausdruck auf dem
Foto anbieten würde. Macht man aber nicht. Statt-
dessen kommen als Vorschläge: „schockiert“, „amü-
siert“, „entschlossen“ und „gelangweilt“. Was jetzt?
Ich kreuze „entschlossen“ an und klicke zum nächs-
ten Foto. Da blinzelt ein Paar älterer Augenschlitze
seitwärts an der Kamera vorbei. Schaut es verträumt?
Wohl nicht, denn als Begriffsvorschläge werden hier
„befreit“, „niedergeschlagen“, „aufgeregt“ und
„schüchtern“ genannt. Ernste Zweifel kommen jetzt
bei mir auf, ob ich überhaupt irgendeinen Gesichts-
ausdruck richtig erkennen kann. Bin ich zu unem-
pathisch? Vielleicht sogar ein verkappter Autist? Oder
habe ich zu lang in Smartphones und Laptops ge-
starrt, so dass meine Fähigkeit zum Gesichterlesen
versiegt ist?
Andreas Sprenger kann mich beruhigen. „Die Au-
gen sind zwar wichtig für uns, um den Ausdruck in
einem Gesicht lesen zu können“, erklärt er. „Aber es
fällt uns natürlich leichter, wenn wir auch noch an-
dere Gesichtsareale sehen, wie etwa den Mund und
die Stirn.“ Wenn es darum geht, im Gesichtsausdruck
die Gefühlslage der abgebildeten Person zu erkennen,
liege die Trefferquote beim bloßen Blick auf die Au-
gen bei 25 von 36 Bildern. „Man liegt also in seiner
Einschätzung immerhin mit 11 von 36, also bei fast
jedem dritten Bild daneben“, erklärt der Psychologe.
Sprenger hat sich zusammen mit seinen Kollegin-
nen Juliana Wiechert und Soé Neuwerk von der Uni-
versität Lübeck der Frage angenommen, ob alle Men-
schen weitgehend gleich gut darin sind, von den Au-
gen ihres Gegenübers auf dessen emotionalen Zu-
stand zu schließen. Sie verglichen dabei Paar- und
Gruppentänzer mit Menschen, die auf sonstige Wei-
se sportlich aktiv waren, sowie Nichtsportlern. Von
den Tänzern erwarteten die Forscher, dass sie beson-
ders gut im Augenlesen seien. Denn sie brauchen
nicht nur ein Gespür für die Bewegungen ihres Part-
ners, sie schauen ihm auch ständig in die Augen.

Ich seh's in deinen Augen!
Die Lübecker Forscher stellten einen Test ins Internet
(survey.neuro.uni-luebeck.de), in dem man nicht nur
die Empathiefähigkeiten der Probanden abfragte,
sondern diese auch darum bat, sich die Fotos von un-
terschiedlichen Augenausdrücken anzuschauen und
dazu eine von vier vorgegebenen Interpretationen

VON JÖRG ZITTLAU

Wie wir in


Gesichtern


lesen


Nichts in unserer visuellen Welt
ist für uns Menschen so wichtig

wie Gesichter. Wir sind Meister im


Gesichtererkennen. Nicht einmal
das ständige Starren auf
Smartphones und andere
Monitore konnte uns dieser
Fähigkeit entwöhnen. Das
verdanken wir zum Beispiel dem
Jennifer-Aniston-Neuron
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