Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1
auszuwählen. Auf den Schwarz-Weiß-Bildern waren
die Augen von Schauspielern zu sehen, denen man
emotionale Zustände vorgegeben hatte, die sie mi-
misch ausdrücken sollten.
Über 700 Probanden absolvierten den Test, davon
knapp 130 Tänzer. Die ursprüngliche Hypothese be-
wahrheitete sich allerdings nicht. Denn im Wesent-
lichen konnte man keine nennenswerten Unterschie-
de zwischen den drei Gruppen beobachten. Die Tän-
zer sind also, auch wenn man es von ihnen erwarte-
te, in ihren empathischen und augenleserischen
Fähigkeiten den übrigen Sportlern und auch den
Nichtsportlern keineswegs überlegen.
Das ist insofern bemerkenswert, als es in der Öf-
fentlichkeit immer wieder alarmierte Stimmen gibt,
die davor warnen, dass wir viel zu lange auf Smart-
phones und andere Monitore starren und viel zu sel-
ten in die Gesichter der Menschen, die uns umgeben.
Das werde noch dazu führen, dass wir das Gesich-
terlesen allmählich verlernten, heißt es dann mah-

nend. Doch diese Befürchtung scheint unbegründet
zu sein. Das zeigt sich auch daran, dass die neuen
Befunde aus Lübeck in etwa denen einer älteren Stu-
die entsprechen, die schon um die Jahrtausendwende
an der University of Cambridge durchgeführt wurde


  • und zu dieser Zeit gab es noch keine Smartphones.
    Dass deren permanenter Gebrauch uns zu schlech-
    teren Mind-Readern macht, „ist genauso wenig belegt
    wie die oft zu hörende Hypothese, wonach unsere
    Kinder durch Smartphone, Laptop, PC und derglei-
    chen immer dümmer würden“, sagt Sprenger.


Blicke stören beim Denken
Unsere Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen, scheint al-
so eine ziemlich stabile Größe zu sein. „Vermutlich
ist sie einfach zu wichtig für uns, als dass wir darin
große Schwankungen hinnehmen könnten“, meint
Juliana Wiechert. Tatsächlich sind wir im Alltag fort-
während damit beschäftigt, Blickkontakt mit ande-
ren Menschen aufzunehmen. Egal ob dies beim Früh-
stück mit dem Partner und den Kindern, beim Ein-
kaufen an der Kasse oder auch beim Skypen im In-
ternet (auf dem Monitor!) geschieht. Beim Gespräch
schauen wir immer wieder ins Gesicht unseres Ge-
genübers, um zu überprüfen, wie das Gesagte bei
ihm ankommt, und auch um das, was er uns sagt,
mit seinem Gesichtsausdruck abzugleichen und zu
einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Wenn wir freilich intensiv über etwas nachdenken,
müssen wir vorübergehend den Blickkontakt lösen.
Das zeigt, wie viel Kapazität das Face-Reading in un-
serem Gehirn beansprucht. „Wir sind offenbar damit
überfordert, beides zu tun“, erläutert Wiechert. „Wir
können nicht angestrengt nachdenken und parallel
auch noch versuchen, im Gesicht des anderen Men-
schen zu lesen.“
Für die Priorität der Empathie von Angesicht zu
Angesicht spricht auch die Tatsache, dass wir – zu-
sammen mit Schimpansen, Gorillas und anderen
Primaten – überhaupt ein echtes Gesicht haben. An-
dere Säugetiere – selbst jene, die über ausgeprägte
soziale Strukturen verfügen – haben keines. Allenfalls
Hunde haben sich im Laufe ihrer Domestizierung
den „Dackelblick“ und andere mimische Fertigkeiten
zugelegt, damit ihr zweibeiniger Lebenspartner sie
besser versteht. Doch zur innerartlichen Kommuni-
kation nutzen sie wie andere Tiere auch vor allem
Körpergerüche, Körperhaltungen und Lautäußerun-
gen, ihre Mimik beschränkt sich auf den Ausdruck
von Basisemotionen wie Aggression und Angst. Der
Mensch hingegen hat ein Gesicht, das sich von Indi-
viduum zu Individuum unterscheidet und in dem

WIE LANGE HÄLT MAN'S AUS?


Um in den Augen eines Menschen lesen zu können, müs-
sen wir zwangsläufig Blickkontakt mit ihm aufnehmen.
Doch wie lange halten wir das aus? Wie lange dauert es,
bis wir den Blick eines Menschen als unangenehmes Glot-
zen empfinden? Ein Forscherteam des University College
in London hat sich dieser Frage angenommen.
Die englischen Forscher spielten ihren knapp 500 Proban-
den die Videos von Schauspielern vor, die ihrem Gegen-
über, also dem Betrachter des Films direkt in die Augen
schauten. Es zeigte sich: Wie lang ein Blickkontakt als
angenehm empfunden wurde, war individuell verschieden.
Bei den meisten Probanden dauerte es zwei bis fünf, im
Durchschnitt etwas mehr als drei Sekunden. Kein einziger
wollte den Schauspielern länger als neun Sekunden in die
Augen schauen. War ein Teilnehmer angetan vom Blick
seines virtuellen Gegenübers, weiteten sich seine Pupillen;
war er es nicht, verengten sie sich.
Bleibt festzuhalten, dass Menschen, die sich gut kennen,
deutlich länger Augenkontakt halten können. Und umge-
kehrt gibt es Krankheiten, die das fast unmöglich machen.
So meiden Autisten in der Regel den direkten Blickkontakt.
Schizophreniepatienten dagegen fällt er nicht schwer. Sie
können die Augen und andere Areale im Gesicht ihres Ge-
genübers sogar besonders lange fixieren, was von diesem
wiederum schon bald als unangenehm empfunden wird.
JZ

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