Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

nehmlich Studien über die menschliche Seite der
Sucht. Es funktioniert wie bei der Alkoholindustrie.
Die wirbt mit dem Slogan: „Die Sucht wohnt nicht
in der Flasche. Sie wohnt im Menschen.“
Die Studien sind gefälscht?
Nein, nein, im Gegenteil. Die meisten Studien sind
exzellente Arbeiten. Ich sehe aber, dass manche Fra-
gen gar nicht erst gestellt werden. Man sagt: Die Sucht
steckt in den Menschen. Und schon kümmert man
sich ausschließlich um die Gene oder die schlimme
Kindheit der Spielsüchtigen. Die andere Seite der Ge-
schichte bleibt im Dunkeln.
Früher funktionierten die Automaten so: Drei
oder vier Walzen drehen sich. Für einen Gewinn
müssen alle Walzen dasselbe Symbol zeigen. Ist
das noch immer so?
Im Prinzip schon. Aber die Betreiber haben aufge-
rüstet. Inzwischen gibt es Automaten, die 25 solcher
Reihen gleichzeitig anzeigen. Oder sogar 50.
Mit welchem Effekt?
Wenn man früher verloren hat, blieb die Maschine
stumm. Wenn man gewonnen hat, gab der Automat
ein Siegesgeräusch von sich: „Ding, ding, ding!“ Wenn
man heute 50 Reihen gleichzeitig spielt, geschieht
Folgendes: Einige Reihen gewinnen immer. Man hat
fünf Dollar investiert und drei Dollar zurückgewon-
nen. Die Maschine macht: „Ding, ding, ding!“ Man
hat unterm Strich zwar zwei Dollar verloren, dennoch
gibt einem der Automat das Signal einer audiovisu-
ellen Verstärkung.
Clever!
Mein kanadischer Kollege Kevin Harrigan hat in sei-
nen Studien gezeigt, dass unser Gehirn diese Signa-
le ganz genauso verarbeitet, als hätten wir tatsächlich
gewonnen. Man fühlt sich, als würde alles super lau-
fen – während man in Wahrheit permanent verliert.
Und all das läuft so schnell ab, dass man die Mathe-
matik dieser Pseudogewinne kaum bewusst mitbe-
kommt.
Wie beginnt eine Spielsucht?
Bei den meisten durch Zufall. Freunde kommen zu
Besuch, und aus irgendeinem Grund landet man in
der Spielhalle. Fast alle meine Interviewpartner sa-
gen: „Ich hatte keine Ahnung, was die Maschine für
mich tun kann!“ Sie fühlen sich super beim Spielen



  • und dann kommen sie wieder, weil sie das Gefühl
    noch einmal erleben wollen. Der Automat ist ein Weg,
    die eigenen Affekte zu kontrollieren. Und jetzt mal
    ehrlich: Seit alle ein Smartphone in der Tasche ha-
    ben, ist so etwas jedem schon einmal passiert, wenn
    auch in einer schwächeren Form. Man verliert sich
    darin, Textbotschaften zu versenden, auf Facebook


zu surfen oder Candy Crush zu spielen. All das sind
letztlich nur Affektmodulatoren, also Wege, um sich
in eine bessere Stimmung zu bringen.
Ich denke beim Thema Spielsucht immer an den
russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski, der
in der Spielbank von Baden-Baden Haus und Hof
verzockt hat. Angeblich landete sogar sein Ehe-
ring beim Pfandleiher. Er konnte einfach nicht
aufhören.
Diese Form des Glücksspiels gibt es. Man kann in
kurzer Zeit sehr viel Geld gewinnen oder verlieren.
Da geht es um Risiko und Nervenkitzel. Die meisten
meiner Interviewpartner haben aber eine völlig an-
dere Geschichte erzählt. Sie spielten nicht in den
Hochglanzcasinos, sondern an scheinbar harmlosen
Geldspielautomaten ums Eck. Noch etwas anderes
hat mich überrascht: Den allermeisten ging es gar
nicht ums Gewinnen. Sondern um ein bestimmtes
Gefühl, das sich beim Spielen einstellt. Sie geraten
vor den Automaten in eine Art Trancezustand, den
ich „die Zone“ nenne.
Was genau meinen Sie damit?
Man sitzt in diesen speziellen superbequemen Ses-
seln, die inzwischen zur Grundausstattung gehören.
Und dann läuft ein Spiel nach dem anderen. Man
gewinnt oder verliert ein paar Cent. So geht das im-
mer weiter über viele Stunden. Die Menschen ver-
gessen dabei alles andere; der Sinn für Raum und
Zeit geht verloren. Die Probleme des Alltags ver-
schwinden. Manche vergessen sogar, dass sie Schmer-
zen haben oder zur Toilette müssen. Sie haben Krämp-
fe, ohne etwas davon mitzubekommen, so sehr haben
sie sich in diesen Zustand hineingespielt.
„Die Zone“ – muss man sich das wie eine Art
Hypnose vorstellen?
Die Spieler beschreiben es tatsächlich als eine Art
Hypnose, wie einen Tunnelblick, in dem alles ande-
re ausgeblendet wird. Deshalb hassen es viele Spieler,
einen Jackpot zu gewinnen. Auf einmal spielt der

Manche Menschen sind


gefährdeter. Vor allem aber


hängt das Suchtpotenzial


von den Automaten ab

Free download pdf