Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1
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So weit die individuelle Seite. Doch die Sache ist
deshalb komplizierter, weil Menschen nun mal in
ständigem emotionalem Austausch leben. Die Grund-
stimmung eines Menschen wird also auch von der
Stimmung jener Personen beeinf lusst, mit denen er
in Kontakt steht. Diesen Prozess nennen Psychologen
„emotionale Ansteckung“ (siehe Kasten Seite 61).
Emotionen, Gefühle, Stimmungen bergen eine Art
„Energie“, ein psychisch-körperliches Erregungspo-
tenzial (arousal). Und diese Energie ist ansteckend.
Ständig infizieren wir unsere Mitmenschen mit un-
serer augenblicklichen Stimmung. Habe ich mich im
Büro gerade tierisch über einen Kunden geärgert,
kann mein momentaner Ärger sofort auf die Kolle-
gen abfärben: Ich „verbreite schlechte Stimmung“,
wie man so treffend sagt.

Wie eine Spinne im emotionalen Netz
Diese Art von emotionaler Ansteckung ist so schwan-
kend, wie die Gefühle selbst es sind: Mal infiziere ich
andere mit guter, mal mit schlechter Laune. Doch


  • und das ist das Neue an der Idee von der affektiven
    Präsenz – es gibt wohl auch eine Gefühlsübertragung,
    die dauerhafter ist als dieses emotionale Hin und


Her: Es liegt womöglich im Wesen mancher Men-
schen, in ihrer Persönlichkeit, dass sie andere grund-
sätzlich eher heiter oder trübe stimmen, und zwar
überdauernd und ziemlich unabhängig davon, wie
sie selbst gerade empfinden.
Die Psychologen Noah Eisenkraft von der Uni­
versity of North Carolina und Hillary Elfenbein von
der Washington University wollten wissen: Beein-
f lussen manche Menschen einigermaßen vorherseh-
bar und konstant die Stimmung ihrer Artgenossen?
Sie untersuchten das in einer lebensnahen Feldstudie.
239 ihrer Studierenden verschiedener Nationalitäten
wurden in 18 Kleingruppen eingeteilt, die jede für
sich verschiedene Projektaufgaben lösen sollten. Die
Teammitglieder unternahmen auch privat Dinge mit-
einander.
Nachdem die jungen Leute einen Monat lang viel
Zeit zusammen verbracht hatten, wurden sie gefragt:
Hast du dich in Anwesenheit dieses oder jenes Grup-
penmitglieds überwiegend verärgert gefühlt oder ge-
langweilt? Warst du ruhig, enthusiastisch, glücklich,
entspannt, traurig oder gestresst, wenn du mit dieser
Person zu tun hattest? Elfenbein und Eisenkraft ana-
lysierten auch die Netzwerke innerhalb der Gruppen,
um zu sehen, welche der Probanden zu „emotionalen
Zentren“ ihrer Teams avancierten. So ermittelten die
beiden Forscher systematisch, wer wie auf wen emo-

Stimmungen bergen
ein psychisch-
körper liches
Erregungspotenzial.
Diese „Energie“ ist
ansteckend

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