Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Mit Atmung und Rosinen


Mag sein, dass sexueller Appetit bei den meisten wie
Ebbe und Flut funktioniert. Doch bei manchen folgt
irgendwann nach der Ebbe keine Flut mehr, Verlangen
und Erregung kommen einfach nicht wieder. Männer
lassen sich dann bisweilen Viagra verschreiben –
wenngleich das Mittel eher die „Performance“ als die
Begierde selbst steigert. Was machen die Frauen? Auch
sie holen sich Hilfe – zumindest manche von ihnen.
„Weibliche sexuelle Unlust ist das häufigste und wich-
tigste Thema, mit dem wir uns in der Sexualtherapie
beschäftigen“, sagt Lori Brotto, eine kanadische Psy-
chologin, die eine neue Art von Therapie gegen sexu-
elle Unlust entwickelt hat. Sie arbeitet dabei nicht mit
Chemie – sondern mit Atmung und Rosinen.
Brottos „achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie
gegen sexuelle Unlust“ beginnt mit einer Gruppen-
übung. Einige Frauen sitzen im Kreis um eine Tisch-
gruppe, Lori Brotto lässt eine Schale mit Rosinen
herumgehen. Dann kommen die ersten Anweisungen:
Man soll die Rosine genau untersuchen, ihre Farbe,
ihre Oberf lächenstruktur, die Lichtschimmer an ih-
ren Hügeln und Schluchten. Wie fühlt es sich an, mit
den Fingerkuppen darüber zu streichen? Welchen
Duft verströmt die Rosine? Wie klingt es, wenn man
sie direkt neben dem Ohr zwischen seinen Fingern
rollt? Danach schließt man die Augen und führt die
Rosine langsam an seine Lippen. Man fühlt eine Art
Vorfreude: Gleich werde ich sie essen! Vielleicht läuft
einem schon das Wasser im Munde zusammen.


„Verfolge mit freundlichem Interesse, wie in dir
die unterschiedlichsten Empfindungen entstehen,
sich entfalten und dann wieder verschwinden“, lau-
tet Lori Brottos Anweisung. Erst zehn Schritte später


  • vollzogen wie in Zeitlupe – werden alle Gruppen-
    teilnehmerinnen ihre Rosine schlucken, einen tiefen
    Atemzug nehmen und wieder die Augen öffnen.
    Achtmal wird sich die Gruppe zusammensetzen

  • ein Treffen pro Woche. Bei den meisten Sitzungen
    geht es um Meditation. Atmung. Achtsamkeit. Die
    Empfindungen des eigenen Körpers wahrnehmen,
    ohne sie zu beurteilen. Zu Beginn lässt Brotto alle
    Teilnehmerinnen einen Fragebogen ausfüllen: Was
    hat die Frauen zu ihr gebracht? Wie unzufrieden sind
    sie mit ihrer Sexualität? Ihrer Lust? Nach acht Wo-
    chen werden alle denselben Fragebogen noch einmal
    ausfüllen.
    Und die Ergebnisse sind vielversprechend: Das se-
    xuelle Verlangen steigt bei den Teilnehmerinnen im
    Schnitt um 34 Prozent, die körperliche Erregung um
    56 Prozent, die sexuelle Zufriedenheit gar um 60 Pro-
    zent. Offenbar greift Brottos Therapie selbst bei
    Krebspatienten und Traumaopfern. Derzeit testen
    die Kanadierin und ihr Team, ob Achtsamkeit auch
    Männern helfen kann, die eine Prostataoperation
    hinter sich haben. Die ersten Resultate seien ermu-
    tigend, sagt Lori Brotto. Auch wenn sie einräumt,
    dass Männer skeptischer seien. „Viele von ihnen fra-
    gen, ob sie nicht einfach Viagra schlucken können.“
    Das mag Ausdruck eines alten Missverständnisses
    sein: „Die meisten Menschen glauben, dass Sexuali-
    tät eine Sache des Körpers und der Medizin sei“, sagt
    Brotto. „Dabei geht es in den allermeisten Fällen um
    Psychologie.“ PH


ZUM WEITERLESEN
Lori A. Brotto: Better sex through mindfulness. How women can
cultivate desire. Greystone Books, Vancouver 2018
Die weiteren Quellen dieses Beitrags finden Sie auf unserer Web-
site: psychologie-heute.de/literatur

Verlangen geht


und kommt


wie Ebbe und Flut

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