Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1
ILLUSTRATIONEN: STUDIO PONG

W


enn von Fontane
die Rede ist, ka-
men und kom-
men Leser, Kolle-
gen und Kritiker
ins Schwärmen: „Ich lese den Alten jetzt
wieder, mit unglaublichem Genuß“,
schrieb Thomas Mann. Peter Härtling
würdigte Fontanes Alterswerk Der Stechlin
als „das Buch meines Lebens“, und Mar-
cel Reich-Ranicki nannte das ganze Werk
schlicht „kolossal“. Den wohl bedeutends-
ten deutschsprachigen Romancier des



  1. Jahrhunderts charakterisieren sein be-
    rühmter lässiger Ton, lächelnde Skepsis
    und wunderbare (Selbst-)Ironie. Wie der
    Literaturkritiker Denis Scheck kürzlich
    im WDR sagte: „Fontane ist dieses Uni-
    versaltherapeutikum, im Grunde so was
    wie ein richtig guter Schnaps. Wenn ich
    am Boden bin, lese ich Theodor Fontane.“
    Und doch durchlebte dieser heiter wir-
    kende und scheinbar so unbeschwert
    schreibende Mann eine tiefschwarze Zeit,
    war niedergeschlagen, freud- und an-
    triebslos, seiner Familie und der Welt ent-
    rissen. Wie passt das zusammen? Und wie
    kam es dazu?


Die Voraussetzungen, Theodor Fonta-
nes schlimmste Lebens- und Schaffenskri-
se zu erkunden, sind günstig. Fontane war
nicht nur hochproduktiv in unterschied-
lichsten literarischen Genres. Er führte
auch Tagebuch und schrieb Unmengen von
Briefen, seine „eigentliche Autobiografie“.
Mehr noch: Auch viele Dokumente aus
dem engsten Umkreis sind erhalten. So
kann man Fontanes depressive Selbstschil-
derung (oder ist es auch Selbststilisierung?)
nach- und aus der Sicht und mit dem kli-
nischen Wissen von heute „gegenlesen“.
Depressives Erleben und Erkranken ist
noch immer ein vielschichtiges Rätsel. Die
Grundzüge der oft unterschätzten Krank-
heit sind bereits in der Bibel beschrieben.
Sie betrifft Psyche und Körper gleicher-
maßen, verändert nicht nur ein Organ,
sondern die ganze Person, das Selbst. Laut
epidemiologischen Studien waren 2015
weltweit über 300 Millionen Menschen
betroffen. Knapp 20 Prozent der erwach-
senen Deutschen erkranken mindestens
einmal im Leben an einer Depression. So
war es auch Fontane ergangen.
An seinem Beispiel soll einmal hinter
die Fassade dieser Krankheit geblickt wer-

den, um zu erkennen, wie brüchig auch
eine außergewöhnliche Person sein kann
und wie relativ unser klinisches Wissen
auch heute noch ist. Denn depressives Ge-
schehen ist immer hochindividuell. Es gibt
nicht die Depression, die depressive Per-
son. Theodor Fontane soll der Erkrankung
ein Gesicht geben, allerdings ein promi-
nentes. „Es hat einen besonderen Reiz“,
schrieb Freud einmal, „die Gesetze des
menschlichen Seelenlebens an hervorra-
genden Individuen zu studieren.“

Arbeiten mit Vierteldampfkraft
Nicht gerade idyllisch klingt es, wenn der
damals 69-jährige Fontane im Jahr 1889
seine Alltagsverfassung beschreibt: „Man
weiß doch auch, wie die Wochen aussehn!
Wenn es 7 mal 24 fette Stunden wären,
alle triefend von Behagen und lachend vor
Glück, ja, da ginge es; aber Ärger, Sorge,
Kränkungen, Schnupfen, dicker Kopf, Ge-
sichtsreißen oder Asthma, diese haben
doch meist den Löwenantheil.“ Solche
Nöte und Klagen finden sich bei Fontane
häufig. Dennoch, sein Lamento war ge-
wöhnlich gut nachvollziehbar. Er hat sein
gewaltiges Œuvre einem Leben mit vielen

VON KL AUS BR ATH

Als Fontane


depressiv wurde


Aus heutiger diagnostischer Sicht schlitterte Theodor Fontane
1892 in eine Depression. Sie wurde verkannt und legte sein
gesamtes Schaffen lahm. Eine vorsichtige Annäherung an
den Jahrhundertautor anlässlich seines 200. Geburtstags –
und ein Gedankenspiel: Wie erginge es Fontane als depressivem
Patienten heute?
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