Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Umbrüchen, Berufswechseln, Krisen und
Krankheiten abgetrotzt.
Etwas anderes bahnt sich an, als im
Winter 1891/1892 Fontanes Widerstands-
kraft merklich nachlässt. Er arbeitet aus-
gerechnet an Effi Briest, jenem Gesell-
schaftsroman, der zu seinem Meisterwerk
werden wird, als er sich eingesteht: „Das
Arbeiten mit Vierteldampf kraft wird Re-
gel.“ Auch der Vierteldampf versiegt
schließlich. Als Fontane dann im März
1892 infolge einer Virusgrippe in „tief-
deprimierte[r] Stimmung“ ist, bleibt er
nun monatelang resignativ und arbeits-
unfähig.
Auf Anraten des Hausarztes reist Fon-
tane Ende Mai mit Frau und Tochter zur
Kur ins Riesengebirge – ein Fehler, wie
sich herausstellen wird, denn „ich wurde
ganz elend, beinah schlaf los, und so ver-
brachten wir ... vier schlimme Monate
an der sonst so schönen Stelle“, so
Fontanes Rückblick im Tage-
buch. Briefe seiner Frau Emi-
lie an die Familie bestätigen,
wie schlecht es um den Er-
krankten steht: So berichtet sie
von Angstanfällen, Gemütsverstim-
mungen, Appetit- und Schlaf losigkeit, so
dass sie am 7. Juli „immer ernstlicher an
eine Nervenheilanstalt“ denkt. Fontane
sage, ganz abgemagert: „Ich fühle, ich bin
euch zur Qual.“ „Diesen klaren, verstän-
digen Mann so zu sehen ist herzzer-
reißend“, klagt Emilie am 21. Juli auch
ihrem Sohn Friedrich, der Jahre später
Fontanes Zustand als eine „Art Dämmer-
zustand“ beschreibt: „Apathisch, teil-
nahmslos gegen alles, was ihn umgab,
was auch draußen in der Welt passieren
mo c hte .“
Entschluss- und antriebslos, vereitelt
Fontane einen schon bekanntgegebenen
Umzug aus Berlin. Wochenlang schläft
auch die Korrespondenz vom selbster-
nannten „Mann der langen Briefe“ ein.
Und auch Frau und Tochter geraten an
ihre Grenzen: „Es ist nicht zu beschrei-
ben“, schreibt Emilie am 21. Juli freimü-
tig, „wie schwer es ist, mit dem armen
Kranken zu leben, die Tage sowohl wie
d ie Näc hte .“


Erst nach Fontanes Rückkehr nach Ber-
lin Mitte September f lackern trotz freud-
loser Stimmung und Schwindelgefühlen
zunehmend Zeichen von Besserung auf:
mehr Appetit, mehr Aktivitäten, vor allem
schläft er nun besser. Und Ende Oktober
schreibt er wieder! Auf Anregung des
Hausarztes verfasst er Meine Kinderjahre.

Burnout des 19. Jahrhunderts
In der Zeit der Krise hatte Fontane viele
haus- und fachärztliche Kontakte: Die
Ärzte diagnostizierten im März eine In-
f luenza, im April eine Morphiumvergif-
tung, im Mai einen Herzfehler, im Juni
eine Neurasthenie und im August eine
Gehirnanämie, aber auch „einen auf 85
Jahre berechneten Corpus“.
Wie passen diese unterschiedlichsten
Diagnosen zusammen? Sie ergeben Sinn
nach heutigem Verständnis der Depres-
sion: Die Inf luenza löste Fontanes wohl
schon latent schlummernde Erkrankung
aus. Die Morphiumvergiftung war das

Ergebnis eines stark überdosierten Be-
handlungsversuchs. Zudem entwickeln
sich Depressionen gerade im Alter eher
schleichend und werden dann oft von kör-
perlichen Beschwerden und altersbeding-
tem Leistungsabbau verdeckt. So gesehen
waren der diagnostizierte Herzfehler und
die Gehirnanämie wohl komorbide, also
gleichzeitig mit der Depression vorliegen-
de Krankheitserscheinungen. Sie er-
schwerten die richtige Diagnose ebenso
wie Fontanes ansonsten offenbar recht
rüstiger Körper.
Bleibt noch die Neurasthenie, die ein
Arzt im Kurort diagnostizierte. Sie war
eine Art „Burnout des 19. Jahrhunderts“:
weitgehend deckungsgleich in der Symp-
tomatik, scheinbar epidemisch verbreitet
und eines der wenigen gesellschaftlich
akzeptierten psychischen Krankheitsbil-
der. Wenngleich mit feinen Unterschie-
den, was die „Risikogruppe“ betrifft:
Sind heute vor allem leistungs-
orientierte und perfektionistische
Personen gefährdet für Burnout,
galten damals übermäßige Krea-
tivität und Sensibilität als Risiko für
die „Nervenschwäche“.
So wird bei Fontane verkannt, dass sich
hinter der Neurasthenie eine Depression
verbirgt, so wie auch heute Burnout zu-
mindest Vorbote einer schweren Erkran-
kung sein kann. „Um zu sterben muss sich
Hr. F. erst eine andere Krankheit anschaf-
fen“, beschwichtigt oder bagatellisiert der
Arzt damals, wie Emilie berichtet. Oder
unterstellt er Fontane gar, Simulant zu
sein?
Die Krankheitskategorie Depression
gab es 1892 noch nicht. Ihr Verständnis
und ihre Bezeichnung wandeln sich be-
ständig. Um heute nach dem internatio-
nalen Klassifikationssystem ICD-10 eine
Depression festzustellen, müssen wenigs-
tens zwei Wochen lang mindestens zwei
von drei Hauptsymptomen auftreten: ge-
drückte Stimmung, Interessenverlust und
Antriebsmangel. Je nachdem wie viel von
mindestens zwei von sieben Zusatzsymp-
tomen zusätzlich vorliegen – bei Fontane
etwa Schlafstörungen, Appetitmangel
und Insuffizienzgefühl –, diagnostizieren

Brom,


Morphium,


Rotwein:


Die ganze


Behandlung


war falsch

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