Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Ärzte dann eine leichte, mittelgradige oder
schwere depressive Episode. Demnach er-
füllte Fontane 1892 unstrittig die heutigen
Kriterien einer Depression.
Genau besehen litt Fontane an einer
rezidivierenden Depression: Wie bei rund
zwei Drittel der betroffenen Menschen
kehrte sie auch bei ihm wieder. „Ich bin
wie nasses Stroh“, so poetisch fasste Fon-
tane etwa 1858 die Gemütslage zusam-
men, „die besten Zündhölzer wollen nicht
recht helfen – es brennt nicht.“


„Quängelpeter und Egoist“


Wie schwer leidend und behandlungsbe-
dürftig er nun jeweils genau war, wäre im
individuellen Gespräch mit Fontane selbst
zu klären – und nicht retrospektiv, basie-
rend auf selektiven zeitgenössischen Quel-
len. Ohnehin enthalten psychiatrische
Diagnosen Fallstricke. Sie sind keine „ewi-
gen Wahrheiten“, sondern immer zeit-
und kulturabhängig und subjektiv getönt.
Je nach Wissen über Fontanes Person,


Biografie, Neurobiologie, Gesellschaft,
also auch je nach Fokus, Interesse, selek-
tiver Wahrnehmung des Diagnostikers
erscheint der „Kranke“ sehr unterschied-
lich: mal psychisch, mal physisch ge-
schwächt oder auch als Simulant. Wie
wichtig präzise, umfassende, individuel-
le Diagnosen sind, ist somit offenkundig:
Diagnosen können schaden, wenn der Be-
troffene gesund ist. Sie sind jedoch un-
entbehrlich, wenn jemand krankheitsbe-
dingt leidet.
Diagnoseziel ist, Leiden zu lindern oder
zu heilen – egal ob in Therapie oder im
Alltag. Und da selbst engste Vertraute Fon-
tanes Zustand verkannten, wurde er, wie
wir heute wissen, fehlerhaft behandelt: Der
Hausarzt riet zur gut gemeinten „Erho-
lungskur“ – dabei kann gerade der Entzug
routinemäßiger Pf lichten die Depression
noch verstärken. Auch Fontane empfand,
wie er noch vor der Kur äußerte, jeden
Tag, an dem er nicht arbeiten könne, als
vergeudet. Und die „Diagnose“ der über-

lasteten Angehörigen? Sie tadelten den
Kranken zeitweise als „Quängelpeter u.
Egoist“ und als „Hypochonder“ – und ver-
mengten somit Krankheit und Charakter.
Unterschätzt wird auch oft die größte
und doch geheimste Gefahr der Depres-
sion: ein möglicher Suizid. Von Fontane
sind To d e sgedanken überliefert – glaubt
man seinem jüngsten Sohn, hätten sich
diese 1892 zu einer Art Wahn gesteigert,
er müsse wie sein Vater um das 72. Le-
bensjahr herum sterben. Eigene Suizid­
gedanken Fontanes sind hingegen nicht
dokumentiert. Und doch beschäftigte ihn
das Thema Suizid intensiv: Zum einen ist
„Selbstmord die weitaus häufigste Todes-
ursache von Fontanes Hauptfiguren“, so
der Fontane-Forscher Paul Irving Ander-
son. Zum anderen fällt auf, dass sich Fon-
tanes (depressive?) Tochter Martha 1917
womöglich das Leben nahm – die Beweis-
lage ist freilich umstritten. Dass heute laut
seriösen Statistiken gerade auch ältere
Männer, Künstler und Apotheker (Fon-

Endlich, nach vielen
trostlosen Monaten,
flackern Zeichen
von Besserung auf.
Und Ende Oktober
heißt es: Er schreibt
wieder!
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