Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

tanes erlernter Beruf!) erschreckend oft
Suizid begehen, ist ein weiteres Indiz.
„Alles kommt auf die Beleuchtung an“,
schrieb Fontane selbst. Er war ein Meister
polyperspektivischer Erzähltechnik, der
zudem auch heikle Themen virtuos in der
Schwebe halten konnte – wie im Alters-
gedicht Ausgang:
Immer enger, leise, leise
Ziehen sich die Lebenskreise,
Schwindet hin, was prahlt und prunkt,
Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben,
Und ist nichts in Sicht geblieben
Als der letzte dunkle Punkt.


Das reine Lotto


So viel man heute auch über Fontane weiß



  • die Frage, warum er depressiv wurde,
    bleibt offen. Horst Gravenkamp diagnos-
    tizierte die Depression von 1892 in einer
    verdienstvollen Pathografie als „endogen“,
    also sozusagen „von innen“ und ohne äu-
    ßeren Auslöser kommend und eigen-
    gesetzlich verlaufend. Heute ist der Begriff
    endogen obsolet, da alle Depressionen als
    multikausal gelten: Ob man das Zusam-
    menspiel von Genen und sozialer Umwelt
    fokussiert, ob physiologische Kennzei-
    chen, ob frühkindliche Prägung, Stress-
    belastung oder die Fähigkeit, damit um-
    zugehen – all dies und auch die Patien-
    tensicht ist jeweils hochinteressant und
    hilfreich, jedoch als einzige Sichtweise
    begrenzt. Peter Brieger resümiert in Irren
    ist menschlich, einem Lehrbuchklassiker
    der Psychiatrie: „Wir wissen nicht, warum
    Menschen depressiv werden.“
    Und warum wurde Fontane wieder ge-
    sund? Er probierte unterschiedlichste Ver-
    schreibungen der Ärzte aus: Brom, Mor-
    phium, Rotwein, Luftveränderung, geis-
    tige Schonung, eine galvanische Kur: „Es
    ist alles das reine Lotto“, klagte er und:
    „Die ganze Behandlung war falsch, scha-
    blonenhaft, grausam.“ Stattdessen habe er
    sich an seinen Kindheitserinnerungen
    „wieder gesund geschrieben“. Dies ist stim-
    mig, Fontane selbst war am nächsten dran.
    Aber es ist wohl nur die halbe Wahr-
    heit. Zum einen war die neue Schaffens-
    kraft womöglich nur „Symptom und nicht
    Ursache der Heilung“ (Gravenkamp): Vie-


le Depressionen klingen sogar unbehan-
delt nach mehreren Monaten wieder ab,
und Zeichen der Besserung gab es schon
seit Fontanes Rückkehr nach Berlin. Zum
anderen mahnt die Therapiewirkungsfor-
schung, bescheiden zu interpretieren. Was
genau wirkt, ist, um es mit Fontane zu
sagen: „ein weites Feld“: War es das Ver-

trauen zum Hausarzt? Der Appell an Fon-
tanes ureigenste Ressourcen? Die heilen-
de Kraft des Wortes? Veränderte all dies
zusammen das Gehirn? Und welche Be-
deutung haben Zeit, aktives Erinnern und
vor allem Fontanes Selbstheilungskräfte?

Ist es heute besser?
Egal was nun genau Fontanes Depression
verursachte und „heilte“ – wichtig ist: Wä-
re Fontane heute depressiv, würde es dies-
mal erkannt werden? Und bekäme er, falls
er es wünschte, eine adäquate Behand-
lung? Beides ist fraglich: Laut einer welt-
weiten Studie, die 2017 im Fachjournal
BMJ Open erschien, haben in Deutschland
Allgemeinärzte knapp acht Minuten Zeit
für einen Patienten – immerhin: In Bang-
ladesch sind es nur 48 Sekunden, in Schwe-
den allerdings 22 Minuten. Dabei wären
Zeit und Zuwendung gerade auch für
Hausärzte, die depressive Menschen zen-
tral versorgen, immens wichtig: Laut einer
Statistik der Stiftung Deutsche Depressi-
onshilfe von 2017 wurden in Hausarzt-
praxen 28 Prozent der Depressionsfälle
gar nicht erkannt und 23 Prozent als an-
dere psychische Störung verkannt. Ent-
sprechend wird nur eine Minderheit op-
timal behandelt. Viele müssen monatelang

auf einen Psychotherapieplatz warten.
Und gerade schwerdepressive Menschen
erhalten oft gar nicht oder erst nach einer
diagnostischen und therapeutischen
Odyssee die benötigte Hilfe.
Warum sind passende Hilfen nicht ver-
fügbar, warum sind ausgerechnet auch so
viele Menschen im Gesundheitswesen
chronisch überlastet, könnte Fontane heu-
te fragen. Fontane, der Patient – und der
begnadete Gesellschaftskritiker! Dass der-
zeit auch die Zahl der Frühberentungen
mit Diagnose Depression ins Uferlose
steigt und dass noch immer viele aus Angst
vor Stigmatisierung ihre Depression ver-
heimlichen – auch dies: ein weites Feld!
Doch obwohl die Depression heute
mehr denn je Individuum, Angehörige,
Heilkunst und Gesellschaft herausfordert,
gibt es auch Tröstliches: Die Depression
ist gut behandelbar. Als Säulen der Be-
handlung gelten heute – trotz aller Kon-
troversen – Antidepressiva und Psycho-
therapie. Beides führe dazu, „dass depres-
sive Phasen schneller remittieren und die
Patienten kürzere Zeit leiden“, so der Psy-
chiater Klaus Lieb. Warum noch manches
mehr hilft, Nebenwirkungen hat und auch
schaden kann, erklärt Fontane in Ef fi
Briest: „Und dann sind auch die Menschen
so verschieden.“
Dies gilt auch für ein und dieselbe Per-
son im Laufe der Zeit, wie gerade Theodor
Fontane so wunderbar zeigt: Er sei „eine
ganz gebrochene Kraft“ und „immer ge-
ängstigt, gequält und kein Schlaf “, schrieb
er 1892 in seiner letzten depressiven Pha-
se. Wenig später vollendete er mit Ef fi
Briest ein Werk der Weltliteratur und
schuf überhaupt ein Alterswerk, das sei-
nesgleichen sucht. PH

ZUM WEITERLESEN
Horst Gravenkamp: „Um zu sterben muß sich Herr
F. erst eine andere Krankheit anschaffen“. Theodor
Fontane als Patient. Wallstein, Göttingen 2004
Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie. Carl
Hanser, München 2018
Daniel Hell: Depression. Wissen, was stimmt. Kreuz,
Freiburg im Breisgau 2015 (Neuausgabe)
Quellen sowie weiterführende Literatur und Links
zu diesem Beitrag finden Sie unter psychologie-
heute.de/literatur

Was wirkte


heilsam?


Manchmal


klingen


Depressionen


von selbst ab

Free download pdf