Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Der „neuronale Mensch“


Alain Ehrenberg setzt sich mit der wachsenden
Autorität der Neurowissenschaften auseinander

Ein großer Wurf wie dieser gelingt nur
noch selten. Und es gibt auch nur noch
wenige, die dazu in der Lage wären. Der
heute fast siebzigjährige französische So-
ziologe Alain Ehrenberg ist so ein Autor.
Nach seiner Analyse der Depression (auf
Deutsch: Das erschöpfte Selbst , 2004) folg-
te 2012 sein Buch Das Unbehagen in der
Gesellschaft über Freiheit und Individua-
lismus. Sein neues Buch Die Mechanik der
Leidenschaft ist ausdrücklich als Fortset-
zung gedacht. Im dritten Teil seiner Tri-
logie behandelt er die Geschichte und So-
ziologie der Neurowissenschaften.
Dafür geht Ehrenberg weit ins 20. Jahr-
hundert zurück, zu den Grundlagen von
Psychologie und Psychotherapie, vor allem
Freuds Psychoanalyse und dem amerika-
nischen Behaviorismus. Dazu kommen
Schilderungen neurologischer Patienten,
etwa die Fallberichte von Antonio Dama-
sio oder Oliver Sacks, die vielen Lesern
bekannt sein dürften. Ehrenbergs Haupt-
augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie
sich Krankheits- und Therapiemodelle im
Einklang mit den Werten der Moderne
verändern, nämlich Individualismus und
Autonomie. So zeichnet er am Beispiel des
Autismus eine Transformation von Behin-
derung zu Begabung nach.
Eine der Stärken des Buchs ist die Ori-
ginalität, mit der der Soziologe einen gro-
ßen Zeitraum unserer Kulturgeschichte
mit bahnbrechenden Entwicklungen der
Medizin und Wissenschaften vom Men-
schen verwebt. Daraus katalysiert er eine
Erzählung des plastischen Gehirns, die
hervorragend in unsere Zeit der Selbstop-
timierung passt: Entsprechend der Idee
des veränderlichen Gehirns kann sich der
Mensch immer wieder an neue Heraus-
forderungen anpassen.
Der Autor setzt jedoch bei seinen Le-
sern viel Vorwissen voraus: Wie so manch
anderer Vertreter seiner Zunft zeichnet er

sich durch einen sehr gehobenen Sprach-
stil mit langen Sätzen und vielen Einschü-
ben aus. Dazu ist das Werk mit hunderten
Fußnoten unterfüttert, die sich auch schon
einmal über eine Drittelseite erstrecken
können. Fachbegriffe wie „Katatonie“
(Krampfzustände bei Schizophrenie) oder
„kognitive Verzerrung“ sollte man besser
erklären, wenn man vorgeblich für ein
breites Publikum schreibt.
Der Fülle an Material fällt bisweilen
die Aktualität zum Opfer: So gilt Dama-
sios Theorie der „somatischen Marker“
vielen längst als überholt. Dessen Darstel-
lung etwa des berühmten neurologischen
Patienten Phineas Gage, dem im 19. Jahr-
hundert eine Eisenstange Teile des Ge-
hirns zerstörte, wurde als vereinfachend
und in Teilen falsch kritisiert. Die von
Ehrenberg als neu dargestellten Trends in
der biologischen Psychiatrie haben inzwi-
schen auch schon einige Jahre auf dem
Buckel. Ihnen hätte eine kritischere Wür-
digung gutgetan. Dass er in seinem Buch
mit dem Untertitel „Gehirn, Verhalten,
Gesellschaft“ das alternative biopsycho-
soziale Modell nicht einmal erwähnt,
grenzt an einen Fauxpas.
So ist Die Mechanik der Leidenschaft
vor allem ein Werk für diejenigen, die sich
beruf lich mit Psychotherapie, Psychiatrie,
Neurologie oder Hirnforschung befassen.
Interessierte Laien werden sich aber wohl
nur mit Mühe durch die über 400 Seiten
beißen. STEPHAN SCHLEIM

Alain Ehrenberg: Die
Mechanik der Leiden-
schaften. Gehirn,
Verhalten, Gesellschaft.
Aus dem Französischen
von Michael Halfbrodt.
Suhrkamp, Berlin 2019,
429 S., € 34,–

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