Die Welt - 31.08.2019

(Martin Jones) #1

A


ls Ivo Andrić 1961 den Lite-
raturnobelpreis verliehen
bekommt, rühmt die
schwedische Akademie sei-
ne einzigartige Kunst, Welt-
geschichte zu erzählen. Al-
lein schon sein bosnisches
Historienpanorama „Die Brücke über die
Drina“ machte Andrić weltberühmt. Dass
aber dieser schweigsame Jugoslawe als einer
der ganz wenigen Schriftsteller selbst Welt-
geschichte mitgeschrieben hat – davon er-
zählte er lieber nicht.

VON DIRK SCHÜMER

Zu gefährlich, zu verräterisch, zu irrsinnig,
zu wahrhaftig. Doch ist Andrić’ unglaubliche
Biografie, die ihn persönlich mit Hitler und
Göring, Stalin, Mao und Tito zusammen-
brachte, noch spannender als seine epischen
Chroniken von Krieg und Blutrache, Besat-
zung und Mord. Oder mehr noch: Nur als os-
manisches und habsburgisches Imperialmär-
chen konnte dieser listige Karrierediplomat
seine eigenen Wahrnehmungen aufzeichnen.
Die Ichform hätte den Erzähler umgebracht.
Der Mantel der Geschichte als geniale Ver-
kleidung – diesen wunderlichen, in der Welt-
literatur einzigartigen Maskenball schildert
Michael Martens nun in seiner großen An-
drić-Biografie. Und es ist, als würde dieser

verschlossene ältere Gospodin Andrić seinen
Nobelpreisruhm immer noch durch das Bel-
grad von heute spazieren führen, wenn man
Andrić’ rituelle, gern nächtliche Wanderwe-
ge gemeinsam mit Martens abschreitet. Hier
das alte Königspalais, in dem der Geheim-
bund Schwarze Hand 1903 (da war Andrić elf
Jahre alt) das serbische Königspaar massa-
krierte; dort die Türkenfestung Kalemegdan,
die über Jahrhunderte als Vorposten des Is-
lam ans Habsburgerreich grenzte. Dort das
Hotel „Moskva“, in dem nach dem Ersten
Weltkrieg die Modernisten, Surrealisten, Da-
daisten, „Zenitisten“ des Balkanraums den
Umsturz der Welt und der Literatur probten,
der bald ganz real, ganz blutig die Stadt
heimsuchen sollte. Andrić, der in Sarajevo
weitläufig zur Gruppe der Attentäter gehört
hatte, die den Ersten Weltkrieg ausgelöst
hatten, kam immer mal kurz vorbei und ent-
schied sich für eine Laufbahn als Diplomat
und als Romancier.
Michael Martens erzählt im „Moskva“,
dass er sich die Illusion nicht nehmen lässt,
derselbe große Spiegel hänge hier immer
noch, in dem sich Andrić mit seinen Intel-
lektuellenfreunden 1920 gespiegelt hat.
Kaum einer, der später nicht für seine The-
sen getötet wurde, als Jude, als Kommunist,
als Faschist, als Antikommunist. Oder der
irgendwie beim Töten mitmachte aus den-
selben ideologischen Gründen. Wahrschein-
lich ist auch der alte Spiegel dabei in Scher-
ben gegangen.
Und es wird klar, warum ausgerechnet Ivo
Andrić für den Balkankenner und -liebhaber

Martens zu einem Lebensthema werden
musste: Andrić, der antimoderne Traditiona-
list, schrieb nicht nur die beste Literatur sei-
ner Zeit; er lavierte sich auch so elegant
durch die Blutspuren seiner Lebenswelt, wie
er später mit Schirm und Hut durch Belgrad
spazierte. Der Schriftsteller nicht nur als
Chronist, der alle Spuren der Geschichte fin-
det, sondern auch als historischer Akteur,
der keine Spuren in der Geschichte hinter-
ließ. Über zehn Jahre hat Martens trotzdem
die Relikte dieser Jahrhundertgestalt gesi-
chert, hat in Archiven und Bibliotheken von
Belgrad und Berlin, Paris und Stockholm ge-
sichtet, wie dieses europäische Leben „im
Brand der Welten“ ohne Schmauchspuren
überhaupt möglich war.
Als nominell osmanischer Untertan im
habsburgisch besetzten Bosnien wurde An-
drić 1892 – im selben Jahr wie Josip Broz
„„„Tito“ – geboren, als habsburgischer BürgerTito“ – geboren, als habsburgischer Bürger
arbeitete er an der Vernichtung seines Staa-
tes, wurde königlich-jugoslawischer Diplo-
mat, an prominentester Stelle 1939 bis 1941
im nationalsozialistischen Berlin, wo er sich
mit Carl Schmitt und Ernst Jünger anfreun-
dete, kam nach dem Angriff auf Jugoslawien
in deutsche Haft, lebte dann unter deut-
schem Besatzungsterror und Bomben in
Belgrad, um schließlich zum prominentes-
ten Intellektuellen des siegreichen Partisa-
nenregimes aufzusteigen, das nach 1945

massenhaft Exponenten des Königreiches
liquidieren ließ, für das Andrić mit Ribben-
trop und Weizsäcker einen Freundschafts-
vertrag aushandeln wollte.
Wie konnte einer diese ideologische Ach-
terbahnfahrt überleben? Martens gibt in sei-
ner ausführlichen Epochenstudie eine über-
raschend knappe Antwort: Mal waren es Zu-
fälle wie die Tuberkulose, die ihn von den
Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges fern-
hielt. Doch überdies war Andrić ein Oppor-
tunist von Gnaden, der jede Festlegung, je-
den Einsatz für eine gefährliche Position mit
der Pokermine des Diplomaten vermied.
Und er war vor allem ein Genie des Spuren-
verwischens. So sorgte er bei Titos Adlatus
Milovan Djilas dafür, dass sein Gesicht aus
dem feierlichen NS-Foto vom „Wiener Pakt“
1941 herausretouchiert wurde. Der renitente
Kommunist Djilas fiel bald danach in Ungna-
de und landete im Kerker; Andrić, der elegan-
te Berufsrenegat, stieg auf zum Vorzeige-Au-
tor, obwohl ihn Tito nicht ausstehen konnte.
Diese meisterliche Chamäleonhaftigkeit,
die Andrić unter den Habsburgern, unter den
Nazis und unter Tito immer wieder das Le-
ben retten sollte, hatte er im Blut. Als Sohn
katholischer Kroaten entschied er sich im
mehrheitlich moslemischen Bosnien seiner
Jugend für die großserbische Sache. Dieser
Jugoslawismus blieb – so Martens – die ein-
zige lebenslange Konstante; ihr ordnete An-
drić alles unter und rührte deswegen für kei-
nen inhaftierten Dissidenten einen Finger,
weil für ihn nur Titos slawischer Vielvölker-
staat die Besatzer – ob Osmanen oder Öster-

reicher, Russen oder Ungarn – aus seiner
Heimat fernhielt: Wenn schon Massaker,
dann innerjugoslawische Massaker. Dieses
Mantra sollte sein schrumpfendes Land bis
ins neue Jahrtausend peinigen.
Man merkt Martens das Schwanken zwi-
schen Fassungslosigkeit und Bewunderung
fffür diese konsequente Inkonsequenz an. An-ür diese konsequente Inkonsequenz an. An-
drić wurde zum Serben, bewahrte aber viele
türkische Wörter und Mythen seiner Hei-
mat. Er sprach Deutsch wie ein habsburgi-
scher Musterschüler, doch wollte er nach
den Untaten der Nazis mit dem Land der be-
wwwunderten Goethe und Thomas Mann nichtunderten Goethe und Thomas Mann nicht
das Geringste mehr zu tun haben. Er war
bürgerlicher Europäer französischer Prä-
gung und blieb mit seinen Themen stur ein
bosnischer Provinzler. Er schrieb über die
Barbarei der islamischen Besatzer und zehr-
te doch ein Leben lang aus dem Geschich-
tenvorrat des osmanischen Imperiums. Er
kämpfte gegen die Vielvölkerlüge der Habs-
burger, in der Slawen keinen Platz hatten –
und folgte als Exponent des Titoregimes ei-
ner ganz ähnlichen Idee.
Die Lektion, die Andrić wie kein zweiter
AAAutor im irre gewordenen Europa desutor im irre gewordenen Europa des
2 0.Jahrhunderts in seinem Leben durch-
paukte, folgt aus dieser hellwachen Nicht-
identität: Wenn alle Grenzen sich verschie-
ben, wenn Ideologien ihren Todesreigen
tanzen, wenn Nation oder Rasse oder ein-

fffach nur ein falscher Aktenvermerk überach nur ein falscher Aktenvermerk über
Leben oder Sterben entscheiden – dann ist
es in diesem blutigen Spiel das Beste, sich
bloß nicht in die Karten schauen zu lassen.
Martens fand heraus, dass keine Zeile aus
Andrić’ riesiger Diplomatenkorrespondenz
zwischen Triest und Madrid, Genf und Rom
und Berlin sich später gegen ihn verwenden
ließ. Nicht einmal in Briefen an seine Frau
äußerte sich „der Mandarin“, wie sie ihn
nannte, politisch oder ideologisch eindeu-
tig. Selbst mit Freunden gab es keine ideo-
logischen Debatten. So wurde dieser Mann,
der nachts gegen seine Schlaflosigkeit und
vielleicht auch seine Schuldkomplexe an-
schrieb, zum Autor des größten nicht ge-
schriebenen Œuvres der Weltliteratur. Was
Andrić nicht sagte, schenkte ihm das Über-
leben für die vielen Tausend Seiten histori-
scher Literatur, in der längst gestorbene
Menschen in lange untergegangenen Impe-
rien die Hoffnungen und die Ideen ausle-
ben, die ihnen und ihrem Autor als Zeitge-
nossen den Kopf gekostet hätten. In einer
WWWelt, die zum Dschungel wird, kann manelt, die zum Dschungel wird, kann man
die Menschen nur als Biologe einigermaßen
gefahrlos betrachten. Darum sahen stau-
nende Zeitgenossen Andrić als „geschlosse-
ne Muschel“; er „betrachte das Leben wie
ein Biologe eine Leiche“.
Insofern ist Andrić’ Allgegenwart im heu-
tigen Belgrad fast ein Affront gegen den de-
zenten Spurenverwischer. Seine erste und
letzte Wohnung, ein Monument des realso-
zialistischen Bürgerlebens, ist Museum mit
einer noblen Bronzestatue davor. Die An-

drić-Buchhandlung hält inmitten der latei-
nisch gedruckten Reklame der Shops am
Kneza-Mihaila-Boulevard die angestaubte
Würde des kyrillischen Serbisch hoch. Im
Klub der serbischen Luftwaffe, der mit
Prunkbestuhlung, Kellner in Livree und Böh-
merglasleuchter noch wirkt wie zu Titos
Lebzeiten, wird endgültig verständlich, dass
Michael Martens Andrić als Verkörperung
des jugoslawischen Traumes sieht und be-
schreibt – utopisch, aber blutig; faszinierend,
aber ausgeträumt. Andrić ist das Jugosla-
wien, das Serbien nicht mehr sein kann.
Das einzige politische Lebensziel dieses
Diplomatenautors ist durch Milošević’ ver-
spätetes Großserbentum untergegangen.
Das europäische Balkanland, das der viel-
sprachige Flaneur Andrić wie kein Zweiter
verkörperte, wurde zum abgehängten, ärm-
lichen, ethnisch homogenen Kleinstaat, aus
dem die jungen Leute fliehen und das aus
eigener Schuld sogar das Kosovo eingebüßt
hat. War es Zufall, dass der Genozidler Ka-
radjić beim Beschuss von Sarajevo und beim
Massenmord von Srebrenica auf Andrić als
literarischen Paten verwies? Hatte der No-
belpreisträger nicht den Hass und den blu-
tigen Streit als Konstante jener Landstriche
verewigt? Am Ende des blutigen 20. Jahr-
hunderts wurde der 1978 verstorbene jugo-
slawische Nationaldichter vom Nationalis-
mus endgültig eingeholt: Zu seinem 100.

Geburtstag 1992 landete er in Zagreber
Buchhandlungen unter den ausländischen
AAAutoren, während der zum Großserbenutoren, während der zum Großserben
konvertierte Regisseur Emir Kusturica in
Visegrád, am Ort der „Brücke über die Dri-
na“, heute ein pompös nationalistisches
„Andrićgrad“ erbauen lässt.
Selbst das, was Andrić nie geschrieben und
nicht einmal dementiert hätte, droht ihn
nach seinen Treffen mit Hitler, Mao und Sta-
lin, seinen Auftritten im PEN-Club und in
Titos Residenz nun einzuholen. Dieser le-
benslange Renegat, dieser Migrant zwischen
allen Ideologien, dieser Deserteur aus der Ar-
mee der Schatten, dieser Botschafter, der im
eigenen Diplomatengepäck durchs 20.Jahr-
hundert reiste, soll postum als serbischer
Nationaldichter identifiziert werden? Micha-
el Martens Biografie betont das Schillern die-
ses verschlossenen Genies, das vieldeutiger
ist als jede Nation und jede Ideologie. In sei-
ner Nobelpreisrede hat Andrić den Schleier,
der nun nicht mehr über seinem Leben liegt,
bereits einmal für Sekunden gelüftet und
vom Erzählen erzählt, das endlos fließt wie
die Drina oder die Donau oder wie jeder an-
dere Fluss: „Könnte es sein, dass der Erzäh-
ler sich seine eigene Geschichte erzählt wie
das Kind, das im Dunklen singt, um seine
Angst zu lindern?“ Das ist Andrić’ Zauberfor-
mel: Wer Weltgeschichte schreibt, der ver-
breitet Furcht. Wer sie erzählt, der kann sie
vielleicht besiegen.

Michael Martens: Im Brand der Welten.
Zsolnay, 496 S., 28 €.

ARCHIVIO ARICI

Ivo Andrić 1961 in Belgrad

Revolutionär, Diplomat,


Nobelpreisträger:


Eine epochale Biografie


zeigt Ivo Andrić als Meister


des Spurenverwischens


DAS


CHAMÄLEON


28


31.08.19 Samstag, 31. August 2019DWBE-HP


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28 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,31.AUGUST2019


E


in„Freund des Dunkels“
zieht die Gardine zu, aber
nicht völlig, und legt sich
aufs Bett. Die Sonne ist noch
nicht untergegangen, wie
immer beschert der Sommer Oslo die
lange Dämmerung langer Tage. Der „be-
ruhigende, metallische Dunst von Waf-
fffenöl“ erfüllt die Luft, das scharf gelade-enöl“ erfüllt die Luft, das scharf gelade-
ne Gewehr steht wie immer in Reichwei-
te, allerdings stecken die Patronen schon
seit Jahren darin, und ob sie noch ein
Ziel treffen können, scheint zweifelhaft.

VON GISELA TRAHMS

So beginnt der Roman, ein Krimi?
Nein. Kein Übeltäter gönnt sich hier ein
Nickerchen. Vielmehr geht es um das
Licht, den Schattenstand, den mühevol-
len Weg vom Fenster zum Bett und vor
allem: um eine Figur ohne Namen, die
nach einigen Seiten von einer anderen
namenlosen Figur abgelöst wird. Es
sind insgesamt fünfzehn. Lauter Män-
ner übrigens, was nicht bedeutet, dass
es sich um ein frauenloses Buch han-
delt, denn Männer denken an Frauen,
ausführlich und häufig, aber die Per-
spektive bleibt männlich, ganz selbst-
verständlich und ohne Entschuldigung.
Andererseits: Wie soll, wer immer
das Buch liest, die Figuren auseinander-
halten, die nur „er“ heißen oder „du“?
Die Anrede wirkt, als spreche der Le-
sende selbst, warmherzig und den Figu-
ren zugetan. Drücken sie sich vielleicht
in fünfzehn verschiedenen Sprechwei-
sen aus? O nein. Also ist die „Ablösung“
von einem Mann zum nächsten nicht
leicht auszumachen? Richtig. Aber ihr
Charakter ist doch erkennbar? O ja, sie
sind Individuen, aber vor allem sind sie
Menschen, das zählt. Und die Hand-
lung? Ach, die Handlung.
Thor Ulvens „Ablösung“ entstand
1993 und ist immer noch ein außerge-
wöhnliches Buch. Es ist nicht in Kapitel
gegliedert, sondern in Abschnitte, jeder
einer bestimmten Figur gewidmet, ins-
gesamt bevölkert von Alten und Jungen,
Kranken und Gesunden, Liebenden und
Enttäuschten, sich Sehnenden und Er-
innernden, von Städten und Landschaf-
ten, Hitze und Schnee. Es geht um das
Sehen, Verstehen, Vergessen. Wie Blan-
chot oder Beckett will Ulven die Wirk-
lichkeit ganz präzise zu ihrem Recht
kommen lassen und gleichzeitig häuten.
Um das fertigzubringen, braucht er ei-
nen schier unendlichen Wortschatz,
und den hat er in der Tat. Wie sieht es
aus, wenn ein Auto durch Pfützen fährt?
„Schon waren die Wasserlachen so groß
entlang des Gehsteigs, dass die Autos
meterlange Engelsflügel aufpflügten“.
Ja, so sieht es aus, genau so.
Wer mit dem Bleistift liest und bril-
lante Formulierungen anstreicht, berei-
tet sich ein Strichelfest. Gleich zu An-
fang erinnert sich einer, der oft am
Meer saß, „welch eine Erlösung es war,
das Herandümpeln des unbedeutenden
Gegenstands an den Uferrand zu beob-
achten, dieses Gefühl, wenn man nur
lange genug ausharrt, dann kommt et-
was geschwommen, gern etwas ohne
Sinn und Bedeutung, aber doch eben et-
was, etwas schwimmt, treibt, driftet he-
ran, ein Klotz, man braucht nur zu war-
ten“. Beobachten. Vergleichen. Durch-
tauchen, absacken und die Tiefe errei-
chen oder, wie Proust sagen würde, eine
Wahrheit, und damit, trotz inhaltlicher
Düsternis, ein Genuss.
Tor Ulven, geboren 1953, war ein Mul-
titalent. Er wollte Maler werden, be-
gann als Lyriker, machte Musik, über-
setzte die französische Moderne von
Baudelaire bis René Char, schrieb Es-
says und Kurztexte und diesen einzigen
Roman. Er gewann Preise, erntete Lob
bei der Kritik, wurde von norwegischen
Autoren verehrt (Jon Fosse, Knausgård,
Svein Jarvoll) und fand Leser. Im Mai
1995 setzte er seinem Leben ein Ende.
Der fabelhafte Übersetzer ins Deut-
sche hat genau nachempfunden, wovon
Ulvens Buch handelt: „als wärest du ei-
ne herabgedimmte Lampe, die man
plötzlich ganz hell aufdrehen könnte,
dann nämlich, wenn du abermals dazu
verdammt bist, panisch durch dich
selbst zu rennen.“

Tor Ulven: Ablösung. Aus dem Norwegi-
schen von Bernhard Strobel. Droschl
2 019, 140 S., 20€

Du rennst


panisch durch


dich selbst


Tief wie Proust: der


Norweger Tor Ulven und


sein Roman „Ablösung“


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