Die Welt - 31.08.2019

(Martin Jones) #1

A


uf Burg Eulenstein hauste seit
uralten Zeiten ein kleines Ge-
spenst. Es war eines jener
harmlosen kleinen Nachtge-
spenster, die niemandem et-
wwwas zuleide tun, es sei denn,as zuleide tun, es sei denn,
man ärgert sie.“ Als 1966 Ot-
fffried Preußlers Kinderbuchklassiker erschien,ried Preußlers Kinderbuchklassiker erschien,
wwwar Sibylle Lewitscharoff, die 1954 in Stuttgartar Sibylle Lewitscharoff, die 1954 in Stuttgart
gggeboren wurde, schon der Zielgruppe entwach-eboren wurde, schon der Zielgruppe entwach-
sen. Das Gespenst des auf dem Gymnasium früh
politisch radikalisierten Mädchens ging schon
bald zeittypisch in Europa um, war alles andere
aaals klein und harmlos und hieß Kommunismus. ls klein und harmlos und hieß Kommunismus.

VON RICHARD KÄMMERLINGS

1 972 machte die glühende Trotzkistin Lewit-
scharoff Abitur und ging danach nach Berlin, um
RRReligionswissenschaften zu studieren. Das Jen-eligionswissenschaften zu studieren. Das Jen-
seits hat sie schon früh auf doppelte Weise fas-
ziniert, als politisches Utopia und als religiöse
Transzendenz. Dies mag auch mit einer frühen
VVVerlusterfahrung zu tun haben: 1965, als sie elferlusterfahrung zu tun haben: 1965, als sie elf
Jahre alt war, beging ihr Vater, ein aus Bulgarien
stammender Gynäkologe, Selbstmord.
Ein Jahr später erschien Preußlers „Ge-
spenst“, an das sich mancher bei Lewitscharoffs
neuem Roman erinnert fühlen dürfte. „Wie alle
Gespenster hatte es überhaupt kein Gewicht. Es
wwwar luftig und leicht wie ein Streiflein Nebel.“ Soar luftig und leicht wie ein Streiflein Nebel.“ So
kkkörperlos schwebend bewegt sich die Erzähl-örperlos schwebend bewegt sich die Erzähl-
stimme in „Von oben“ durch Berlin, und, ganz
ääähnlich wie das plötzlich am hellen Tag statt wiehnlich wie das plötzlich am hellen Tag statt wie
sonst um Mitternacht erwachte Gespenst, ist das
namenlose Ich dieses Romans einem Rätsel auf
der Spur: Denn was macht es eigentlich hier,
ggganz allein in einem seltsamen Zwischenstadi-anz allein in einem seltsamen Zwischenstadi-
um? Nicht ganz tot und nicht mehr lebendig; nur
noch beobachtend, aber selbst nicht mehr sicht-
bar; nicht mehr handlungs-, aber noch der inne-
ren Anteilnahme fähig. Und wie das kleine Ge-
spenst stets zum Glockenschlag wieder in tiefen
Schlaf fällt, so wird auch sein Pendant immer
wwwieder ins Nirwana gezerrt, um anderswo in Ber-ieder ins Nirwana gezerrt, um anderswo in Ber-
lin sein prekäres Bewusstsein wiederzuerlangen.
So fliegt Lewitscharoffs Gespenst vom eige-
nen Grab auf dem Schöneberger Friedhof, wo es
den eigenen verrottenden Leichnam betrachtet,
qqquer durch das Berliner Tag- und Nachtleben,uer durch das Berliner Tag- und Nachtleben,
schaut bei guten Freunden und alten Bekannten
vvvorbei, steht wie ein machtloser Schutzengel ne-orbei, steht wie ein machtloser Schutzengel ne-
ben Selbstmörderinnen auf dem Hochhausdach,
mischt sie auf der Rehwiese unter die Betrachter
eines spektakulären Blutmonds und wird unfrei-
wwwilliger Zeuge menschlicher Abgründe, von tieferilliger Zeuge menschlicher Abgründe, von tiefer
Einsamkeit bis zu krasser häuslicher Gewalt. Ein-
mal wird der Geist, und wir mit ihm, Zeuge eines
TTTotschlags auf offener Straße, ohne eingreifen zuotschlags auf offener Straße, ohne eingreifen zu
kkkönnen. Ein kurzes Kapitel erzählt von einenönnen. Ein kurzes Kapitel erzählt von einen
Hausbesuch bei der Bundeskanzlerin am Kupfer-
gggraben – Angela Merkel studiert Akten bis in dieraben – Angela Merkel studiert Akten bis in die
Nacht und trinkt Kräutertee dazu. Auch hier
kkkommt es zu keiner Autogrammanfrage. Beimommt es zu keiner Autogrammanfrage. Beim
Lesen sind wir alle Gespenster, nicht wirklich
TTTeil der Welt, in die wir eintauchen. „Von oben“eil der Welt, in die wir eintauchen. „Von oben“
ist auch ein Buch übers Bücherlesen.
WWWir begegnen dem speziellen Fall eines Unto-ir begegnen dem speziellen Fall eines Unto-
ten mit Laberflash, der in seinem Erdenleben kli-
scheehaft Philosophieprofessor gewesen ist. „Ich
bin da und trotzdem mausetot. ... Totzukriegen
sind aber nicht meine Gedanken.“ Ein allwissen-
der Ich-Plauderer, der wortreich versucht, seine
Lage zwischen Himmel und Erde zu ergründen,
und scheibchenweise mit Erinnerungen heraus-
rrrückt. „Von oben“ ist ebenso sehr eine Gespens-ückt. „Von oben“ ist ebenso sehr eine Gespens-
tergeschichte wie ein (autobiografisch grundier-
ter) Berlin-Roman der anderen Art.
AAAn seinen eigenen Namen will sich das Ichn seinen eigenen Namen will sich das Ich
partout nicht erinnern, zur Geschlechtszugehö-
rigkeit gibt es einen Disclaimer: „Noch kurioser
ist allerdings, dass mir die Zuschreibung, ein
Mann oder eine Frau gewesen zu sein, momen-
tan ebenso gleichgültig ist. Wohl eher Mann als

Frau, aber das bleibt, wie so vieles andere auch,
im Ungefähren. Im vorherigen Leben war es
wwwichtig, da mag ich ein Mann gewesen sein, aberichtig, da mag ich ein Mann gewesen sein, aber
jetzt? Was bedeutet es schon?“ Lewitscharoff, die
sich mehr deutlich gegen den „Gender-Unfug“ in
Sprachfragen ausgesprochen hat, wählt bewusst
ein männliches Alter Ego, obwohl die biografi-
schen Eckdaten ihres Erzählers mit den ihren
üüübereinstimmen – Jugend in Stuttgart, früherbereinstimmen – Jugend in Stuttgart, früher
TTTod des Vaters, das aufregende Bohème-Lebenod des Vaters, das aufregende Bohème-Leben
im West-Berlin der Siebziger und Achtziger, zwi-
schen „Paris Bar“, „Florian“ und „Manzini“.
Immer wieder wird der Tote zum Sprachrohr
der Autorin, etwa bei seiner Polemik gegen die
Gegenwartslyrik (Ausnahmen wie Durs Grün-
bein und Christian Lehnert bestätigen die kul-
ttturpessimistische Regel) oder seiner Sympathieurpessimistische Regel) oder seiner Sympathie
fffür die „ruhige, unneurotische“ Art der Bundes-ür die „ruhige, unneurotische“ Art der Bundes-
kanzlerin. Mitunter wechselt das Genre von der
Schlüssellochperspektive zum Schüsselroman:
Insider der Berliner Szene werden manchen wie-
dererkennen, offensichtlich ist die Abrechnung
mit „Nicodemus Lombart“ (Nicolaus Sombart),
der als Poseur und Intellektuellendarsteller ge-
disst wird. Jene derbe schwäbische Spitzzüngig-
kkkeit, die der Erzähler seiner Tante zuschreibt, isteit, die der Erzähler seiner Tante zuschreibt, ist
aaauch ein Register der Lewitscharoff. Es fälltuch ein Register der Lewitscharoff. Es fällt
schwer, sich immer wieder einen älteren Mann
vvvorzustellen und keinen Lewitscharoff-Avatarorzustellen und keinen Lewitscharoff-Avatar
mit Jetpack. Vermutlich ist das als Experiment
mit Lesererwartungen angelegt. In der Tat eine
interessante philosophische Frage: Hat das reine
Ich, hat die Erzählstimme ein Geschlecht?
Sexuelles spielt keine geringe Rolle in diesem
Buch. In den Erinnerungen des Erzählers kristal-
lisiert sich ein nicht spannungsfreies Dreiecks-
vvverhältnis heraus, zwischen seiner bereits frühererhältnis heraus, zwischen seiner bereits früher
aaan Krebs verstorbenen geliebten Frau Marie undn Krebs verstorbenen geliebten Frau Marie und
dem besten Freund Gerhard, die ihn beide (mit-
einander) betrogen. Während hier eine bemer-
kkkenswerte (und etwas unrealistische) postumeenswerte (und etwas unrealistische) postume
Großherzigkeit gezeigt wird, bleibt der Blick an
empörenderen Dingen haften: In einer großbür-
gggerlichen Villa wird eine Frau von ihrem Mannerlichen Villa wird eine Frau von ihrem Mann
brutal verprügelt; entsetzt wird die skandalöse
AAAnhörung von Supreme-Court-Kandidat Kava-nhörung von Supreme-Court-Kandidat Kava-
naugh im Fernseher verfolgt. Eine Visite eines
Sadomaso-Zentrums am Stadtrand lässt Erzäh-
ler wie Leser ziemlich verstört zurück. Der Kör-
per, so lässt sich diese schaudernde Faszination
deuten, ist ebenso essenziell menschlich wie po-
tenziell unmenschlich, der Quell aller Freuden
ebenso wie ein Schlachtfeld von Passionen und
Perversitäten. Am Rande des Blickfelds taucht
nicht zufällig der geschundene Leib Christi auf.
AAAuch ein Kirchenbesuch steht auf dem Pro-uch ein Kirchenbesuch steht auf dem Pro-
gggramm der touristischen Geisterfahrt, an derenramm der touristischen Geisterfahrt, an deren
Ende sich schließlich die Frage nach dem Sinn
des Ganzen theologisch zwingend klären wird.
Für Lewitscharoff-Kenner gibt es viel Bekann-
tes. Schon in „Consummatus“ umschwärmte ei-
ne Schar albern plappernder Dahingeschiedener
den Erzähler; in „Blumenberg“ begegnen sich am
Ende die verstorbenen Figuren im Jenseits wie-
der. Im Dante-Roman „Pfingstwunder“ fahren 33
RRRomanisten bei einem Kongress in den Himmelomanisten bei einem Kongress in den Himmel
aaauf. Die Radieschen und alle anderen Weltendin-uf. Die Radieschen und alle anderen Weltendin-
ggge „von oben“ zu betrachten, ist zweifellos Le-e „von oben“ zu betrachten, ist zweifellos Le-
wwwitscharoffs beliebteste Erzählposition. itscharoffs beliebteste Erzählposition.
Es ist eine Poetik des Vertikalen, in der alles in
die Höhe, ins Planetarische, Lunare und Stellare
strebt. Vom Mond ist in diesem Buch viel die Re-
de, von der Möglichkeit eines Lebens im All, aber
aaauch von Dantes Kristallhimmel. Doch auch alsuch von Dantes Kristallhimmel. Doch auch als
reiner Geist ist der Erzähler an das irdische Jam-
mertal gefesselt, wird immer wieder zu Boden
gggezogen und beschwert wie das kleine Gespenstezogen und beschwert wie das kleine Gespenst
vvvon seinem schweren Schlüsselbund mit den 13on seinem schweren Schlüsselbund mit den 13
Schlüsseln. Was alle Türen öffnet, kettet uns zu-
gggleich an diese Welt. Das wäre durchaus eineleich an diese Welt. Das wäre durchaus eine
brauchbare Definition von Literatur.

Sibylle Lewitscharoff: Von oben.Suhrkamp,
VVVon Dantes „Göttlicher Komödie“ war die Autorin immer schon fasziniert: Illustration des Paradiso, 15. Jahrhunderton Dantes „Göttlicher Komödie“ war die Autorin immer schon fasziniert: Illustration des Paradiso, 15. Jahrhundert 2 40 S., 24 €.

DPA/PA/HERITAGE IMAG

/ART MEDIA

29


31.08.19 Samstag, 31. August 2019DWBE-HP


  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DWBE-HP

DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
31.08.1931.08.1931.08.19/1/1/1/1/LW5/LW5 MFRIEDR3 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT SAMSTAG,31.AUGUST2019 IE LITERARISCHE WELT 29


W


er Erinnerung hat, kann
erzählen. Wer keine
mehr hat, der kann nur
noch sprechen. Sich ver-
orten, sich in der Welt,
im Hier und Jetzt wiederfinden, das geht nur
im Modus zwischen Vor- und Rückschau. Der
Schriftsteller David Wagner hat ein Buch ge-
schrieben, das den Gedächtnisverlust zum
stillen Protagonisten einer Erzählung macht.

VON TOMASZ KURIANOWICZ

Genauer gesagt geht es um einen Vater,
der von seinen Sohn vom Hamburger Haupt-
bahnhof abgeholt wird, um gemeinsam in die
alte Heimat zu reisen, in die Kleinstadt An-
dernach im tiefsten Westen der Republik.
Der Vater ist an Altersdemenz erkrankt. Er
kann sich an sein Geburtsjahr 1943, manch-
mal sogar an die erste Ehefrau erinnern, je-
doch nicht an das, was vor fünf Minuten pas-
siert ist. „Der vergessliche Riese“, so sein
heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr
über die Erzählung seines Lebens. Das muss
jetzt der Sohn für ihn übernehmen.
Das Besondere an diesem sensiblen, lako-
nischen Buch ist das Gefühl, das es beim Le-

sen auslöst. Wie stellt man einen Menschen
vor, der sich selbst nicht mehr kennt? An-
fangs ist dieser Riese dem Leser noch völlig
fremd. Man stellt sich ihn vor wie das Eben-
bild von Martin Walser – weißes Haar, große
Hände, selbstbewusstes Auftreten –, das den
Kalten Krieg überlebt hat. Ein bildungsbür-
gerlicher Erfolgsmensch, für den Begriffe wie
Richard Wagner, „FAZ“ und Bundeskunsthal-
le noch etwas zählen. Auch die Biografie des
vergesslichen Riesen liest sich wie ein Mus-
terbeispiel einer gelungenen bundesrepubli-
kanischen Existenz: Der Riese war ein erfolg-
reicher Unternehmensberater, reiste viel ins
Ausland, heiratete zweimal und häufte ein
kleines Vermögen an, samt Einfamilienhaus
und zwei Autos vor der Garage. Doch das
spielt keine Rolle mehr. Der Vater ist nun
wieder Kind.
Der Roman umspannt drei Jahre und viele
kleine Reisen, die der vergessliche Riese un-
ternehmen muss, um vom Sohn und den bei-
den Töchtern von einer Beerdigung zur
nächsten gebracht zu werden. Man muss es
ganz klar sagen: Der 71-jährige Protagonist
nervt anfangs gewaltig. Seine Sprüche, die er
ständig wiederholt, die Vergesslichkeit und
enervierende Redundanz, die sich in repetiti-

ven Phrasen niederschlägt, sind teilweise
schwer zu ertragen. Nach ein paar Kapiteln
kennt man seine Lieblingsmaxime bereits
auswendig – sie ist wie die Coda in der Sinfo-
nie der Vergesslichkeit: „Tante Gretl hat ge-
sagt, die Dublany sind sehr intelligent, im Al-
ter aber werden sie blöd.“
In diesem Scherz versteckt sich ein Rest
Selbstreflexion angesichts der Tragik des ei-
genen Schicksals. Mitleid hat man mit dem
Sohn, der geduldig jede Frage beantwortet,
auch wenn sie zum x-ten Mal gestellt wird.
Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich auf
die Dialoge einzulassen, die wegen der Abwe-
senheit des väterlichen Gedächtnisses eine
unfreiwillige Komik erzeugen. Manchmal,
wenn die Nerven blank liegen, schweigt der
Sohn, weicht aus oder macht sich einen Spaß
und beantwortet eine Frage bewusst falsch,
um Irritationen zu erzeugen – eine Art erra-
tische Leichtigkeit, die vom Kreislauf des
ewigen Antwortens für eine Sekunde erlöst.
Was man eben so macht, wenn der eigene Va-
ter nicht mehr weiß, wie viele Kinder er hat.
Nach und nach ändert sich das Verhältnis
zzzwischen Text und Leser. Allmählich lernt manwischen Text und Leser. Allmählich lernt man
immer mehr Details über den vergesslichen
Riesen kennen und versteht seine Verletzlich-

keit, seine Gutmütigkeit, seinen weichen inne-
ren Kern. In spröden Dialogen muss man sich
dieses Wissen, diese Sympathie jedoch hart er-
kämpfen. Erst ab Mitte des Buches begleitet
man den Vater auf seine kleinen Expeditionen
mit einer ähnlichen Zugewandtheit, wie es der
Sohn tut: auf die Beerdigung seiner Schwester
Hilde, auf eine Autofahrt über eine westdeut-
sche Autobahn, ins Schwimmbad oder bei sei-
nem Umzug in ein Altersheim – dem „Waisen-
haus für alte Kinder“, wo sich der Vater am
Flussufer des Rheins immer sonntags einen
WWWeißwein gönnt.eißwein gönnt.
Der Sohn ist nun der Verwalter der Famili-
engeschichte. Er hält die Zügel in der Hand.
David Wagner macht keinen Hehl daraus,
dass diese Geschichte aus seinem eigenen Le-
ben schöpft: Der Schriftsteller, der 2013 für
den autobiografischen Roman „Leben“ den
Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und
mittlerweile zu den bedeutendsten Autoren
in Deutschland gehört, erzählt den Gedächt-
nisverlust des eigenen Vaters und berichtet
über das schlechte Gewissen, das sich ein-
stellt, wenn man für seine Eltern nicht da
sein kann, jedenfalls nicht rund um die Uhr.
Demenz ist eine einsame Krankheit. Die Be-
teiligten wissen das auch.

Und doch hat die Vergesslichkeit etwas
Gutes: Sie macht milde und spült nicht nur
die guten Erinnerungen, sondern auch die
traumatischen Erlebnisse weg. So zeigt sich
in den liebevollen Gesprächen zwischen
VVVater und Sohn, wie eng ein Menschenle-ater und Sohn, wie eng ein Menschenle-
ben mit seinen Erlebnissen verknüpft ist –
und wie schmerzlich es ist, wenn die Erin-
nerungen an sie verloren gehen. Denn was
sind schon zwei Ehen und mehrere Jahr-
zehnte Lebenserfahrung, wenn man sich
davon kein Bild mehr machen kann? Der
VVVater beschreibt es so: „Oft komme ich mirater beschreibt es so: „Oft komme ich mir
vor, als wäre ich aus einem Buch gefallen
und könnte nicht zurück. Ich bin plötzlich
in einer ganz anderen Geschichte und weiß
nicht, was ich da soll.“ Es ist kein Satz über
Demenz. Eigentlich ist es ein Satz über das
Leben an sich. David Wagners Roman fügt
einem Erzählgenre, das Arno Geiger mit
„Der alte König in seinem Exil“ und Inge
Jens mit ihrem Memoire über die Demenz
ihres Mannes Walter Jens berührend ge-
prägt haben, ein weiteres, literarisiertes
Fallbeispiel hinzu.

David Wagner: Der vergessliche Riese.
Rowohlt, 272 S., 22 €.

Wie ist es, sein Gedächtnis zu verlieren?


Die Geschichten des Vaters: David Wagner schreibt ein sensibles Buch über Erinnerung und Einsamkeit


Das kleine


Gespenst


Welches Geschlecht hat man, wenn man tot ist?


Sibylle Lewitscharoff geistert lebenshungrig und


redselig durch das Berliner Tag- und Nachtleben


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-08-31-ab-22 256c2e3bbb3a25c3d1aa0ba7db38f466

RELEASED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws


RELEASED

BY

heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr
BY

heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr

"What's

News"

vk.com/wsnws

siert ist. „Der vergessliche Riese“, so sein

vk.com/wsnws

siert ist. „Der vergessliche Riese“, so sein
heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr

vk.com/wsnws

heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr
über die Erzählung seines Lebens. Das muss
vk.com/wsnws

über die Erzählung seines Lebens. Das muss
vk.com/wsnws jetzt der Sohn für ihn übernehmen.jetzt der Sohn für ihn übernehmen.

TELEGRAM:

t.me/whatsnws

heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr

t.me/whatsnws

heimlicher Spitzname, ist nicht mehr Herr
über die Erzählung seines Lebens. Das muss

t.me/whatsnws

über die Erzählung seines Lebens. Das muss
jetzt der Sohn für ihn übernehmen.
t.me/whatsnws

jetzt der Sohn für ihn übernehmen.
Free download pdf