Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
Mit kulturellen Exporten hat sich die
Stadt Dresden zuletzt nicht gerade hervor-
getan, dies aber ändert sich an diesem
Samstag. Der seit 13Jahren wiederbelebte
Semperopernball eröffnet eine Art Fran-
chise in Sankt Petersburg und der MDR
überträgt zweieinhalb Stunden davon zur
besten Sendezeit nach Deutschland
(20.15Uhr). Angekündigt wird die Übertra-
gung als „Kulturbrücke“ und „große Ball-
nacht“ und so sieht es naturgemäß auch
Hans-Joachim Frey, Initiator der russi-
schen Filiale und „Künstlerischer Gesamt-
leiter“ des Dresdner Balls. Es sei schon im-
mer sein Traum gewesen, die Veranstal-
tung ins Ausland zu bringen, sagt Frey,
und Sankt Petersburg sei dafür in beson-
derer Weise geeignet, wegen seiner baro-
cken Kulissen und der langen Balltraditi-
on. Zudem verweist Hans-Joachim Frey
auf die seit 1961 bestehende Städtepart-
nerschaft zwischen Dresden und dem da-
maligen Leningrad.

Die politisch angespannten Beziehun-
gen zwischen Deutschland und Russland
sieht er dabei nicht als hinderlich. Frey:
„Ich glaube, dass es immer gut ist, über
die Kultur gemeinsam etwas zu machen,
weil die Kultur keine politischen Grenzen
kennt“. Ein Projekt wie der Ball sei „per se
unpolitisch“, er könne zwar politisch inter-
pretiert werden, „sollte es aber nicht“.
Politisch interpretiert wurde das Dresd-
ner Original in der Vergangenheit schon
häufiger und insbesondere 2009, als der
damalige Ministerpräsident Russlands
und jetzige Präsident Wladimir Putin ei-
nen St.-Georgs-Orden erhielt. Auch jetzt
in Petersburg sollen Auszeichnungen ver-
geben werden, an Juri Timerkanow etwa,

den Chefdirigenten der Sankt Petersbur-
ger Philharmoniker, und an die ehemalige
Eiskunstläuferin Katarina Witt. Einen Or-
den erhalten zudem der Schauspieler Ar-
min Mueller-Stahl, der zugleich Freys On-
kel ist, und der ehemalige Ministerpräsi-
dent Brandenburgs, Matthias Platzeck
(SPD). Platzeck wird den Preis stellvertre-
tend als Vorsitzender des Deutsch-Russi-
schen Forums in Empfang nehmen. Ne-
ben ihm seien noch Dresdens Oberbürger-
meister Dirk Hilbert (FDP) und der Gou-
verneur Sankt Petersburgs als Politiker
eingeladen, „das war’s dann aber auch
schon“, sagt Frey.
Beim Blick in den Kalender, fällt auf,
dass der Ball nicht nur in Zeiten politi-
scher Spannungen zwischen Deutschland
und Russland terminiert worden ist – son-
dern exakt am Vorabend der Landtags-
wahlen in Sachsen und Brandenburg, wo
der Wahlkampf auch mit der Forderung
nach einem Ende der Sanktionen gegen
Russland bestritten wird. Dies fordert die
AfD und auch Sachsens Ministerpräsi-
dent Michael Kretschmer (CDU) wirbt seit
einiger Zeit dafür. Und nicht allein, weil
die deutsche und europäische Russland-
politik im Osten von vielen besonders kri-
tisch gesehen wird, verwundert die zeitli-
che Nähe zwischen Ball und Wahl.
„Für mich hat ein Spektakel für die ,Rei-
chen und Schönen’ wenig mit einem
deutsch-russischen Kulturaustausch zu
tun“, sagt die medienpolitische Spreche-
rin der Grünen im Sächsischen Landtag,
Claudia Maicher. Warum der MDR diesen
Ball am Abend vor der Wahl so lange über-
trage, sei ihr schleierhaft. Zudem sei Ball-
chef Frey dafür bekannt, „völlig unkri-
tisch mit dem russischen Präsidenten Wla-
dimir Putin umzugehen“. Erhard Grundl,
ebenfalls Grüner und kulturpolitischer
Sprecher seiner Fraktion im Bundestag,
sieht den Ball als vertane Chance. „Hier
hätte man Menschen auszeichnen kön-

nen, die sich für künstlerische Freiheit in
Russland stark machen“, sagt Grundl. Es
müsse ja nicht gleich Pussy Riot sein, die
Protestgruppe also. Grundsätzlich aber
könne ein solches Format ein gutes Bei-
spiel für Völkerverständigung sein, von
der politischen Dimension sei es aber
nicht zu trennen.
Anders sieht das die CDU-Bundestags-
abgeordnete und medienpolitische Spre-
cherin der CDU/CSU-Fraktion, Elisabeth
Motschmann. Sie spricht wie Frey von ei-
nem „kulturellen Brückenschlag“. In Zei-
ten, in denen Russland nicht mehr zu
G7-Gipfeln eingeladen werde, „wollen wir
ja auch nicht alle Gesprächskanäle abbre-
chen.“ Künstler sollten nicht unter politi-
schen Spannungen zu leiden haben.

Selbst wenn man dies annimmt, bleibt
die Frage nach der zeitlichen Nähe zwi-
schen dem Ball und den Landtagswahlen.
Bei dem Termin, sagt Hans-Joachim Frey,
habe man es mit „einer unglaublichen Ver-
kettung von Umständen“ zu tun. Seit ein-
einhalb Jahren stehe das Datum des Balls
in Sankt Petersburg fest – die in Sachsen
regierende schwarz-rote Koalition einigte
sich hingegen erst Ende August vergange-

nen Jahres auf den Termin für die Wahl.
Wäre dieses Aufeinandertreffen zu ahnen
gewesen, sagt Frey, „hätten wir den Ter-
min niemals auf diesen Samstag gelegt.“
Kritik an der Übertragung des Balls ins
deutsche Fernsehen weist der MDR indes
zurück. Natürlich habe man die aktuelle
politische Situation im Blick, sagt eine
Sprecherin auf Anfrage. Aber gerade in
Zeiten politischer Spannungen sei es dem
Sender wichtig, „Brücken zu schlagen“.
Musik und Kultur könnten wichtige Bau-
steine sein. Auch von der Kritik daran,
dass der Ball zeitversetzt übertragen wird,
will man nichts wissen: Das liege daran,
dass es zwischen Petersburg und Deutsch-
land eine einstündige Zeitverschiebung
gebe. Außerdem seien die Ländermagazi-
ne und die NachrichtensendungMDR Ak-
tuellam Vorabend „unverzichtbare und
feststehende Programmbestandteile“. Zu-
dem widerspricht der MDR der Kritik, im
Umfeld der Übertragung liefen nur leichte
Unterhaltung zum Thema Russland und
keine harten journalistischen Formate. Es
gebe auch Sendungen, die die Demonstra-
tionen in Moskau oder die EU-Sanktionen
gegen Russland thematisierten.
Und was passiert, wenn es einen soge-
nannten Zwischenfall gibt? Wenn etwas
Vergleichbares passiert wie 2018, als Akti-
visten von Pussy Riot beim Finale der Fuß-
ball-WM als Polizisten verkleidet auf das
Spielfeld stürmten? Mit der Aktion hatten
sie auf Menschenrechtsverletzungen in ih-
rem Land aufmerksam machen wollen.
Auf die Frage, für welche korrigierenden
Eingriffe die Redaktion den zeitlichen Ver-
zug der Übertragung nutzen könne, teilt
der MDR mit: „Wir zeigen die Höhepunkte
eines besonderen Klassik-Entertainment-
Events. Diese wird die Redaktion entspre-
chend auswählen.“ In die Kategorie Höhe-
punkt dürfte eine Störaktion vermutlich
nicht fallen. clara lipkowski und
cornelius pollmer

von roman deininger

F


ür eine Durchquerung des Berli-
ner Newsrooms der Deutschen
Presse-Agentur (dpa) muss man
ein bisschen Zeit mitbringen. Im-
mer, wenn man denkt, jetzt ist
aber Schluss, geht es weiter, 153 Meter
lang, vorbei an mehr als 270 Schreibti-
schen. Dpa-Chefredakteur Sven Gös-
mann hat schon darüber nachgedacht,
sich einen Roller anzuschaffen, sagt er.
Der Weg lohnt sich jedenfalls auch zu
Fuß, weil man einen ganz guten Überblick
über das bekommt, was die dpa im sieb-
zigsten Jahr ihres Bestehens so alles treibt.
Rechter Hand die Kollegen, die für das
ZDF und RTL den Videotext bestücken.
Nur ein paar Meter weiter: das „Radar-
Team“, das mit speziellen Programmen
Trends und Themen in den sozialen Medi-
en identifiziert. „Hier holen wir das Netz
ab“, sagt Gösmann. Links geht es zu den
Tonstudios, in denen Nachrichten für Sen-
der in allen Ecken der Republik eingespro-
chen werden – ein Zettel über dem Mikro
erinnert daran, die Hörer vonAntenne Bay-
ernnicht mit „Moin, moin“ zu begrüßen.
Weitere Stopps: die internationalen Ange-
bote auf Englisch, Arabisch und Spanisch;
die News für Kinder; der lebensnahe „The-
mendienst“, der Tipps und Tricks fürs Ta-
pezieren oder Baumschneiden gibt.

Am 1. September ist es genau siebzig
Jahre her, dass die dpa ihre erste Meldung
auf den Ticker gab, die Nachricht hatte
durchaus Gewicht: „+++dpa1 (Inland)
Deutsche Presse-Agentur nimmt Dienst
auf+++“. Die Villa im Hamburger Mittel-
weg, in der 1949 alles begann, ist immer
noch der Geschäftssitz der dpa, auch wenn
ihr journalistisches Herz inzwischen in
Berlin schlägt. Unverändert ist nach sie-
ben Jahrzehnten das Gründungsverspre-
chen: bestmöglich belegte Nachrichten.
Oder wie Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier auf dem Festakt zum Jubilä-
um raspelte: „Fakten sind Fakten, wenn
sie von dpa gemeldet werden.“
Die dpa ist der Schrittmacher des deut-
schen Journalismus, als Vollanbieter unan-
gefochten seit dem Ende der dapd 2013.
Dennoch verrichten ihre gut 1000 Redak-

teure ihre Arbeit abseits des Rampen-
lichts. Sie müssen damit leben, dass vielen
Lesern und Zuschauern ihre Rolle nicht be-
wusst ist. An 54 Standorten in Deutsch-
land und 94 im Ausland produzieren sie et-
wa 3300 Artikel am Tag, von der Eilmel-
dung bis zur Reportage, dazu 1200 Fotos,
25 Videos und Multimedia-Pakete, zur Ein-
bettung in Webseiten und Apps. Die dpa
versendet auch Termin- und Themenüber-
sichten, auf die ihre Kunden, darunter die
SZ,ihre eigene Berichterstattung bauen
können. Stets gilt das „Agenturprivileg“:
Die Abnehmer müssen dpa-Meldungen
nicht prüfen; wenn etwas nicht stimmt,
trägt die Agentur die Verantwortung.
Verantwortung bedeutet Druck, und
der Druck wird durch die sozialen Netzwer-
ke immer größer. „Wenn ein Schauspieler
oder Sänger stirbt“, erzählt Chefredakteur
Gösmann, „bekommen wir auch mal von
Kunden zu hören: Im Internet steht das
schon längst, warum habt ihr das noch
nicht?“ Dann gelte es, gelassen zu bleiben
und zu sagen: „Wir gehen sicher, dass es
stimmt. Wir haben da das Notariat.“
Der Wettbewerb der Agenturen ist ein
Duathlon in den Disziplinen Korrektheit
und Tempo, auch bei der dpa erinnert man
sich noch heute gern alter Triumphe: 22.
November 1963, noch vor allen US-Kon-
kurrenten kabelt die dpa: „Kennedy tot“.
Ein halbes Jahr später war die dpa wieder
die Erste, die den Tod Nikita Chru-
schtschows meldete – ungünstigerweise
erfreute sich der sowjetische Staatschef je-
doch bester Gesundheit. Der Moskau-Kor-
respondent der Agentur wurde für ein hal-
bes Jahr des Landes verwiesen. Zu runden
dpa-Geburtstagen werden auch stets die
hübschesten, oft überhöhter Geschwindig-
keit geschuldeten Rechtschreibfehler her-
ausgekramt, was natürlich auch an dieser
Stelle nicht unterbleiben soll: „Rebell bei
Scheißerei mit Armee auf Fidschi getötet“,
so was. Es war das Jahr 2000, es waren ver-
gleichsweise unschuldige Zeiten.
Die zur Überhitzung neigende Twitter-
Welt hat das Geschäft verändert. „Nach-
richtenagenturen haben das Privileg verlo-
ren, die Ersten zu sein“, sagt Gösmann.
„Wenn der Fußballer Mats Hummels den
Verein wechselt, twittert das sein Agent.“
Den Agenturen blieben aber weiterhin Auf-
gaben genug: das Verifizieren von Nach-
richten und das Einordnen. Mit dieser
Kernkompetenz versucht die dpa nun
auch neue Geldquellen zu erschließen,
was sie mittelfristig durchaus nötig hat.
Die Gesellschafter der dpa sind mehr
als 180 Medienhäuser, vor allem Verlage.
Die Zeitungen bezahlen nach Auflage, die
Auflage sinkt fast überall. Ihren Journalis-
mus subventioniert die dpa etwa mit dem
hauseigenen PR-Dienstleister „News aktu-
ell“. Und seit diesem Frühjahr auch mit ei-
ner Kooperation, die in der Branche Aufse-
hen erregt und Fragen aufgeworfen hat.
Facebook kauft bei der dpa sogenannte
Faktenchecks ein: Die dpa-Rechercheure

sollen Behauptungen, die Nutzer bei Face-
book aufstellen, prüfen und gegebenen-
falls widerlegen. Kritiker werfen der Agen-
tur vor, sich Facebook als Feigenblatt anzu-
dienen – der Konzern könne die Verant-
wortung für Fake News bequem abwälzen.
Manche fragen auch, ob die dpa über Face-
book noch kritisch berichten könne, wenn
sie jetzt doch dessen Partner sei. Chefre-
dakteur Gösmann versichert: „Unsere Un-
abhängigkeit ist unser größtes Gut.“
Facebook, betont Stefan Voß, der Leiter
des dpa-Verifikations-Teams, könne nicht
vorgeben, welche Posts er und seine Leute
einem Faktencheck unterziehen: „Wir neh-
men uns das vor, was wir für gesellschaft-
lich relevant halten.“ Außerdem würden
die Checks nicht exklusiv für Facebook er-
stellt, sondern auch anderen Kunden zu-
gänglich gemacht. Voß klappt sein Note-
book auf und zeigt die Internetseite der
Deutschen Bahn. Oder? Bei genauerem
Hinsehen handelt es sich um „deutsche-
bahn.ag“, das „ag“ steht für den Inselstaat

Antigua und Barbuda. Die Seite tauchte im
Netz auf, kurz nachdem ein ursprünglich
aus Eritrea stammender Mann in Frank-
furt eine Mutter und ihren Sohn vor einen
Zug stieß. In einem kurzen Video erklärt
ein angeblicher Bahn-Sprecher, dass doch
alles ganz prächtig sei und man Zwischen-
fällen künftig mit „interkulturell geschul-
tem“ Personal vorbeugen werde. Voß
kann mit einem Programm zur Foto-Rück-
wärtssuche zeigen, dass es sich bei dem an-
geblichen Bahn-Mitarbeiter um einen
Mann handelt, der bei Aktionen der rech-
ten Identitären Bewegung dabei war. Un-
ter den Facebook-Post kommt nun der
Hinweis „Fälschung“ und der Link zum
ausführlichen Faktencheck.
Drei Vollzeitkräfte hat das Faktencheck-
Team, viele weitere dpa-Redakteure wer-
den gerade technisch geschult. Klar, sagt
Stefan Voß, man könne nur einen Bruch-
teil der Posts bei Facebook prüfen. Aber
wenn etwas erst einmal widerlegt sei, wür-
den es viele Nutzer auch löschen.

Viel Meinung, wenig Wissen – diese un-
ausgewogene Kombination ist vielen De-
batten zu eigen, die sich mit dem Islam
und dem Nahen Osten befassen. 1999 trat
eine Gruppe von Hamburger Studenten
der Islamwissenschaften an, um das zu
ändern. In der von ihnen gegründeten
ZeitschriftZenithwollten sie mit mehr
Differenzierung und weniger Klischee
über jene Länder und Völker schreiben,
die damals Veteranen wie Peter Scholl-La-
tour mit leicht spätkolonialistischem Ha-
bitus erklärten. Dass das Team um Chef-
redakteur Daniel Gerlach ihrem Magazin
zunächst den Untertitel „Zeitschrift für
den Orient“ gab, war da ein wenig para-
dox, wollten die Autoren doch gegen ori-
entalistische Haltungen anschreiben.
„In Zeiten, wo Differenzierung kaum
Platz hat, Tiefe rar ist, braucht Deutsch-
land dasZenith-Magazin mehr denn je“,
sagte die Berliner Staatssekretärin Saw-
san Chebli am Donnerstag beim Fest zum
zwanzigsten Geburtstag – am Grunddi-
lemma der Islamdebatte hat sich wenig
geändert. Beim Magazin selbst schon,
das mittlerweile mit einer Auflage von bis
zu 9000 Ausgaben erscheinende Heft ist
von einem Hinterzimmer eines Hambur-
ger Weinladens nach Berlin gezogen, hat
einen Verlag und einen Thinktank aufge-
baut. Und Chefredakteur Gerlach erklärt
die Welt mittlerweile fast so oft im TV wie
einst Scholl-Latour, mit der gleichen
Bauchbinde: „Nahostexperte“. mob


Man kann sich natürlich fragen, wozu
das gutsein soll: ein TV-Panoptikum des
Zweiten Weltkriegs in acht Folgen für Kin-
der ab acht. Die Altersangabe ist jeden-
falls gewagt. Deutsche Gedenkstätten, so-
wohl zum Thema Nationalsozialismus
wie auch zur SED-Diktatur, empfehlen
meist den Besuch erst ab der neunten
Klasse, also frühestens ab 14. Es ist hilf-
reich, sagen Museumspädagoginnen,
wenn die Kinder zwischen Diktatur und
Demokratie unterscheiden könnnen, ehe
sie etwa in Buchenwald das ehemalige KZ
oder in Erfurt den ehemaligen Stasi-
Knast besichtigen. Doch die Fernsehserie
Der Krieg und ichpfeift auf solche didakti-
schen Gepflogenheiten.
Die internationale Koproduktion von
SWR und Looksfilm tritt mit dem nicht
gerade geringen Anspruch an, dem Kika-
Publikum das gewaltige Massenmorden
aus internationaler Perspektive zu erklä-
ren. Helfen sollen dabei Püppchen aus
Plastik und Schauspieler, die ausWeißen-
seeundFack Ju Göhte 3bekannt sind. Das
Ergebnis ist unglaublich stark. Die Serie
berührt, vielleicht gerade weil sie ohne
die üblichen Horrorbilder auskommt.

Beim Sichten mit den Töchtern, neun
und zwölf Jahre alt, stellt sich jedenfalls
wachsende Begeisterung ein. Oder bes-
ser: Neugier und echtes Interesse, auch
beim Vater. Was daran liegt, dass Regis-
seur Matthias Zirzow tolle Jungdarsteller
gekonnt einsetzt und einen Medienmix
präsentiert, der auch für Erwachsene gut
funktioniert. Spielszenen wechseln sich
ab mit 3D-Landkarten und Originalauf-
nahmen in Schwarz-Weiß. Minimal do-
sierte Audio-Einspieler mit Zitaten von
Zeitzeugen ermöglichen wohltuendes In-
nehalten im emotionalen Flow. Für die
notwendigsten Informationen sorgen
nicht professorale Sprecher vor Bücher-
wänden, sondern griffig geschriebene
Kurztexte, vorgetragen von der Schau-
spielerin Petra Schmidt-Schaller. Sie be-
herrscht die Kunst, kindgerecht zu spre-
chen, ohne in Kniebeuge zu verharren.
Am originellsten finden meine große
Tochter und ich den Einsatz liebevoll ar-
rangierter, ultranah gefilmter Dioramen.
Solche ehemals als verstaubt verschriee-
nen Schaukästen mit Modellfiguren erle-
ben derzeit eine Renaissance. InDer
Krieg und ichgibt es die Protagonisten je-
weils zweimal: aus Kunststoff und aus
Fleisch und Blut. Die Kinder von heute,
die Kinder aus insgesamt sieben europäi-
schen Ländern der Dreißiger- und Vierzi-
gerjahre darstellen, sind beeindruckend:
Da ist der deutsche Hitlerjunge Anton,
der einfach nur „dazugehören“ will und
seine jüdische Freundin verrät. Als er
merkt, was er getan hat, trifft er eine muti-
ge Entscheidung.
Da ist der norwegische Fischerjunge
Fritjof, der vor deutschen Soldaten nach
Schweden flüchtet, unterstützt vom On-
kel, einem skandinavischen Käpt’n Blau-
bär mit Ölzeug und Pfeife. Auch dieser On-
kel ist keine eindimensionale Figur, son-
dern halb Retter und halb Kollaborateur.

Da ist das französische Mädchen San-
drine, das in ihrem Zimmer Juden ver-
steckt. Sie ringt mit ihren Bedürfnissen
und der radikalen Hilfsbereitschaft ihres
Vaters, der Priester ist. So bezaubernd
Sandrine agiert, so lässig wirkt der schot-
tische Junge Calum aus Clydebank. Er ist
der Klassenclown und tut so, als ginge
ihn der Krieg nichts an. Über Luftschutz-
übungen macht er sich lustig. Bis zur
Nacht vom 13. auf den 14. März 1941, als
seine Heimatstadt zum Ziel eines massi-
ven deutschen Bombenangriffs wird.
Der erzählerische Kniff besteht darin,
dass die Geschichten im Kleinen gut aus-
gehen. Das große Ganze hat logischerwei-
se kein Happy End.
Was Kinder hier lernen können? Dass
Zivilcourage ein hohes Gut ist. Fast jede
der acht Episoden wartet mit einem Wen-
depunkt auf der die jeweilige Geschichte
spannender und vielschichtiger macht.
Dass es kaum richtige Drecksäcke in die-
sen filmischen Miniaturen gibt, ist wohl
gleichfalls dem pädagogisch-optimisti-
schen Prinzip der Serie geschuldet. Da-
durch entsteht mitunter der Eindruck,
dass Adolf Hitler das personifizierte Böse
war, während die meisten anderen Deut-
schen da irgendwie reingeschlittert sind.
Doch wer eine vertiefende Ebene ver-
misst, kann selbst weiterforschen. Die Se-
rie flankieren gut gemachte Bildungs-
und Unterrichtsmaterialien im Netz und
eine Wanderausstellung, die als begehba-
res Hörspiel konzipiert ist, und die der-
zeit am Bahnhof Friedrichstraße in Ber-
lin zu sehen ist. jochen voit

Der Krieg und ich, Kika, 31.8., 1./7./8.9., 20 Uhr.

Exportiert den Opernball:
Hans-Joachim Frey.FOTO: DPA

Orient-ierung


Das Magazin „Zenith“ erklärt
seit 20 Jahren den Nahen Osten

Wir sind ja bei
der dpa immer schon
Faktenchecker gewesen.
Das war und ist
unser Handwerk.
Heute gibt es einfach
mehr Kanäle als früher.

Stefan Voß, dpa-Faktenchecker

Mehr Differen-
zierung und
weniger Klischee:
Mit diesem Vorsatz
wurdeZenithge-
gründet. Zwei
Jahrzehnte später
liegt die Jubiläums-
ausgabe am Kiosk.
FOTO: ZENITH

Glitzer, Glamour, Landtagswahl


Russland bekommt den Semperopernball, der MDR überträgt. Mit Politik soll das nichts zu tun haben


Wladimir Putin bekam
2009 bei der Veranstaltung
in Dresden einen Orden

Abseits des


Rampenlichts


Die dpa ist auch 70 Jahre nach ihrer Gründung


der Schrittmacher des deutschen Journalismus.


Und erschließt gerade ein neues Geschäftsfeld


In diesem FrankfurterTatortgeschieht
einiges auffreiem Feld, das bedeutet
aber nicht, dass Landlust herrscht. Über
neblige Novemberäcker geht es zum Mit-
telstand im Hinterland und zu ein paar Fi-
guren, die man in ihrer Seltsamkeit nur
bestaunen kann – und da ist Uwe mit
dem Flugsimulator noch nicht mal aufge-
taucht und nicht der hübsche Bruder
vom örtlichen Gangsterboss, der stirn-
runzelnd vor sich hinsagt, dass er auch
was im Kopf hat, während seine Schwäge-
rin – Kurzauftritt Johanna Wokalek –
zwecks Beischlafs auf ihm sitzt und sei-
nen Kopf nicht ganz so wichtig findet.
Zurück zum Mittelstand: Dem geht es
hier gar nicht gut, und wenn die Episode
Falscher Hase heißt, dann ist damit nicht
nur das bürgerliche Hackfleischgericht
mit Ei gemeint, sondern auch, dass der
Hase anders läuft als geplant.
Hier kämpft ein Ehepaar gegen die In-
solvenz seiner Solar Technology GmbH,
Biggi und Hajo, die erstens immer noch
ineinander verknallt, und zweitens, was
damit zusammenhängt, zur Schusswun-
de entschlossen sind. Wir lernen sie ken-
nen, als Biggi (Katharina Marie Schubert)
ihrem Hajo (Peter Trabner) ins Bein schie-
ßen will, um einen Raub zu simulieren
und mit der Versicherungssumme die Fir-
menpleite abzuwenden. Hajo schwitzt
und winselt, er hat Angst, dass sie ihm
doch keinen harmlosen Schuss versetzt,
Biggi hat Angst, ihm wehzutun („Hajo, du
musst mal stillhalten“). Es fallen zwei
Schüsse statt einem.
Erkennbar beeinflusst ist dieserTat-
ortvonFargound er ruft die SerieArthurs
Gesetzin Erinnerung, wo man sich gru-
seln konnte, wie aus der lieblosen Ehe-
mann-Verstümmelung komödiantischer
Reiz gezogen wird (ist der Ehemann als
Opfer womöglich zu wenig beachtet?).
Der falsche Hase aber findet zwischen
der Skurrilität zu unerwartetem Ernst, zu
Verzweiflung, Zärtlichkeit, Schuld. Dabei
ist es ziemlich haarsträubend, welche
Wendungen das Buch von Emily Atef (die
auch Regie führte) und Lars Hubrich
nimmt, aber im Film ist es halt so: Wenn
es funktioniert, dann funktioniert es. Die
Kommissare Janneke (Margarita Broich)
und Brix (Wolfram Koch) verhalten sich
im Wesentlichen wie Zuschauer, die alles
glauben, und kriegen am Ende knapp die
Kurve. Das ist dann fast traurig.


Das Erste, Sonntag, wegen der Landtagswahlen
gegen 20.25 Uhr.


Der Kunstgriff besteht
darin, dassdie Geschichten
im Kleinen gut ausgehen

44d MEDIEN HF2 Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH


Gruppenführer mit 15: Arved Friese als
Justus. FOTO:WÜNSCHIRS/SWR/LOOKSFILM

Kein Happy End


Der Kika erzählt Kindern ab acht
Jahren brillant vom Weltkrieg

Die erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Ludwig
Erhard 1963 war so umfangreich, dass man vor lauter Loch-
streifen die Fernschreiberin kaum sah.FOTO: KURT ROHWEDDER/DPA

von claudia tieschky

Hackfleisch


Folge24/2019
Kommissar/in: Brix und Janneke

TATORTKOLUMNE

Free download pdf