Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1

Brandenburg


Das Land
hättein Sachen großer Geschichte in die-
sem Jahr einiges zu bieten: 200 Jahre Fon-
tane zum Beispiel oder 30 Jahre Fall der
Mauer. Aber nicht die langen Linien prä-
gen die Politik, sondern die massiven Um-
brüche im Land: Der Braunkohletagebau
soll bis 2038 nach mehr als 100 Jahren be-
endet werden; der Speckgürtel rund um
Berlin wächst zu schnell, als dass Nahver-
kehr und Kitaplätze mithalten könnten;
der Klimawandel lässt Wälder und Böden
austrocknen, die Folgen sind schwere
Waldbrände und magere Ernten. Ein Wei-
ter-so kann es also nicht geben, und das be-
kommt vor allem die Weiter-so-Partei
SPD zu spüren. Die Sozialdemokraten re-
gieren in Brandenburg seit 29 Jahren, an-
fangs mit FDP und Bündnis 90, dann mit
der CDU und später mit der Linken. Die
SPD hat immer den Ton angegeben. Erst
unter den populären Ministerpräsidenten
Manfred Stolpe und Matthias Platzeck,
dann unter Dietmar Woidke. Brandenburg
war die rote Bastion im Osten, die SPD ir-
gendetwas zwischen Volks- und Staatspar-
tei. Diesen Nimbus wird die SPD am Sonn-
tag einbüßen – selbst wenn sie als stärkste
Partei aus der Wahl hervorgeht, wird die
AfD voraussichtlich nicht weit dahinter lie-
gen. Doch der Aufstieg der Rechtspopulis-
ten und der Abstieg der Sozialdemokraten
sind nicht die einzige Zäsur, die diese Wahl
den Umfragen zufolge mit sich bringen

wird. Die Linke, einst starke Opposition im
Land, hat mit ihrer Regierungsbeteiligung
seit zehn Jahren stetig an Zustimmung ver-
loren. Die Grünen erlebten dagegen seit
Jahresbeginn ein Hoch, das ihre Spitzen-
kandidatin Ursula Nonnemacher schon
über das Amt der Ministerpräsidentin spe-
kulieren ließ.

Der Wahlkampf
wurde von der AfD dominiert – zumindest
was die Tonlage angeht. Den Rechtspopu-
listen ist es gelungen, das Wendejubiläum
für sich zu kapern, „Die ‚Friedliche Revolu-
tion‘ mit dem Stimmzettel“ oder „Wende
2.0“ lauten die Slogans, mit denen sie ange-
treten sind. Damit hat die Partei von ihrer
Seite her eingelöst, was ihr Spitzenkandi-
dat Andreas Kalbitz Anfang August ange-
kündigt hatte: „Die nächsten vier Wochen
werden schmutzig.“ Dass es deshalb bei
dieser Wahl um mehr als nur um Landespo-
litik gehen könnte, das hatte sich vor allem
die Linke auf die Banner geschrieben. Ihre
Kampagne trägt den Titel „Ums Ganze“.
Bei vielen Wahlkampfveranstaltungen
zeigte sich jedoch eine andere Stimmung:
Nicht die großen ideologischen Auseinan-
dersetzungen treiben offenbar die Men-
schen um, sondern die eher praktischen
Fragen. Mehr Kitaplätze, weniger Unter-
richtsausfall, bessere Bahnanbindung, we-
niger Funklöcher. Dies hat besonders die
CDU aufgenommen, die ganz auf ihren
Spitzenkandidaten und seine konstruktiv-
gute Laune setzten. „Bock auf Branden-

burg“ oder „Maurer. Brückenbauer. Minis-
terpräsident“, verkündet Ingo Senftleben
von den Plakattafeln.

Am Tag danach
„werden wir eine total komplexe Situation
haben“, prophezeit Klara Geywitz, Abge-
ordnete aus Potsdam und Aspirantin auf
den Vorsitz der SPD. „Wir tun gut daran,
nach der Wahl erst einmal auszuschlafen
und uns dann gut zu überlegen, wie wir die-
ses Land regieren.“ Voraussagen über Koa-
litionen sind also schwierig. Klar scheint
zumindest zu sein, dass keine der Parteien
eine deutliche Mehrheit der Stimmen ha-
ben wird, sodass es auch kaum für eine
Zweierkoalition reichen wird. Ein Bündnis
mit den Rechtspopulisten will keiner der
Kandidaten eingehen, jenseits davon sind
jedoch viele Dreierkoalitionen denkbar.
SPD und Linke haben immer wieder be-
tont, dass sie gerne weiter zusammenar-
beiten würden. Trotz inhaltlicher Differen-
zen in der Frage des Kohleausstiegs wäre
dann ein Bündnis mit den Grünen am
wahrscheinlichsten. Eine rot-rote Koaliti-
on mit der CDU wäre möglich, aber Spit-
zenkandidat Senftleben hat mehrmals an-
gekündigt, dass Brandenburg einen Regie-
rungswechsel bräuchte. Am überra-
schendsten wäre eine andere Variante: ei-
ne Koalition von CDU, Linken und Grünen.
Senftleben hat das nicht ausgeschlossen,
doch vermutlich würde die Basis in seiner
Partei und auch bei der Linken dann rebel-
lieren. jan heidtmann

Sachsen


Das Land
wird seit 1990 von der CDU regiert, bis
2004 mit absoluter Mehrheit. Danach war
die Partei aufeinenKoalitionspartner an-
gewiesen. Doch die Zeit, in der ein Arrange-
ment mit SPD oder FDP genügte, dürfte
vorbei sein. Auch deshalb wird in Sachsen
mit Blick auf Sonntag von einer „Schick-
salswahl“ gesprochen, von einer „Zeiten-
wende“ gar. Mit Blick auf die vergangenen
29 Jahre lässt sich sagen: Keines der ost-
deutschen Bundesländer hat sich so gut
entwickelt wie der Freistaat. Das Bildungs-
system ist erfolgreich, die Pro-Kopf-Ver-
schuldung niedrig. Die Großstädte haben
von der Leuchtturmpolitik eines Kurt Bie-
denkopf profitiert, Sachsens ersten Minis-
terpräsidenten. Wenn sich Erfolg an der
Zahl der Spitznamen messen lässt, liegt
„König Kurt“ aka „Bieko“ vorn. Nur haben
Zahlen selten genügt, um Stimmungen zu
beschreiben. Die ist vielerorts schlecht.
Der ländliche Raum hat unter der rigiden
Sparpolitik gelitten. Es fehlt an Polizisten,
Lehrern, Fachkräften, Tarifbindung.
Dann sind da noch Pegida, ein Rechtsextre-
mismus, der ins Bürgerliche diffundiert,
und eine Union, die das lange nicht sehen
wollte. Als die AfD bei der Bundestagswahl
2017 hier die meisten Zweitstimmen er-
hielt, musste Ministerpräsident Stanislaw
Tillich (kein Spitzname bekannt) gehen.
Michael Kretschmer kam und startete ei-
ne beispiellose Wiedergutmachungstour.

Der Wahlkampf
hatte zwei Protagonisten: Wurst und Bier.
Das „Team Kretschmer“ bot dazu einen
nach dem MP benannten Energydrink an.
Man hat Michael Kretschmer so eine Dose
nie leeren sehen. Vermutlich, weil er sich
nach dem ersten Schluck zu schnell für
das menschliche Auge bewegt. Der Spit-
zenkandidat und Parteichef wird bis zum


  1. September alle 60 Wahlkreise bereist, zu
    wenig geschlafen und zu viel gesungen ha-
    ben – mit Wolfgang Lippert schmetterte er
    dessen Hit „Erna kommt“. Kretschmer hat-
    te prominente Unterstützung: Uschi Glas
    war dabei, Sportmoderator Waldemar
    Hartmann pichelte sich für die Union
    durch den Freistaat, und dann war da noch
    Hans-Georg Maaßen, geschasster Chef
    des Bundesamtes für Verfassungsschutz,


der lieber stichelte und sich nach ein paar
Auftritten mit wundem Ego aus dem Wahl-
kampf zurückzog, weil der Ministerpräsi-
dent sein Engagement nicht würdigen
wollte. Die SPD setzte alles auf Parteichef
Martin Dulig. Der hielt Brandreden in säch-
sischen Fußgängerzonen, zunächst auf ei-
nem roten Podest, dessen Symbolik dann
doch nicht passen wollte zur Situation sei-
ner Partei. Die AfD muss wegen eines
Formfehlers mit gekürzter Landesliste an-
treten. Spitzenkandidat Jörg Urban verteu-
felt gern die Energiewende, verdiente dem
TV-Magazin „Frontal 21“ zufolge aber
Geld mit Solaranlagen. Eine Enthüllung,
die auch die in Sachsen erstarkten Grünen
freuen dürfte, aus mehreren Gründen.

Am Tag danach
wird’s spannender als am Wahltag. Der
Frage, was passiert, wenn er seinen Hei-
matwahlkreis Görlitz nach 2017 erneut ver-
liert, ist Kretschmer beherzt ausgewichen.
Seine politische Zukunft wird davon ab-
hängen, ob die CDU nach dem Bundestags-
wahldesaster wieder vorn liegt. Andern-
falls könnten jene Kräfte in der Partei er-
starken und mit einer Minderheitsregie-
rung liebäugeln, die eine schwarz-blaue
Zusammenarbeit nicht für immer aus-
schließen mögen. Kretschmer hat solchen
Planspielen eine Absage erteilt, genauso
wie einer Koalition mit AfD oder Linken.
Die konservative Werteunion richtet am
Sonntag in Dresden eine eigene Wahlparty
aus. Gast: Hans-Georg Maaßen. Aktuelle
Umfragen sehen die CDU in Sachsen bei
32 Prozent, klar vor der AfD. Am wahr-
scheinlichsten ist nach diesem Szenario
eine „Kenia-Koalition“ aus CDU, Grünen
und SPD. Sollte es so kommen, wird es et-
was kosten, mindestens Überwindung.
Kretschmer nennt die Grünen gern „Ver-
botspartei“. Auch Katja Meier und Wolf-
ram Günther, grüne Doppelspitze, hegen
keine Sympathien: „So kann man mit die-
ser CDU nicht zusammenarbeiten wollen.“
Einzig die SPD scheint für Kenia bereit zu
sein. Anfang der Woche veröffentlichte die
Partei ein Video, in dem Martin Dulig eine
Frage stellt, die einige Sachsen umtreiben
dürfte: „Gibt es eine Mehrheit für CDU,
SPD und Grüne? Oder rutscht dieses Land
nach rechts und wird unregierbar?“ Ant-
wort: Abwarten. ulrike nimz

Linke-Chefin Katja Kipping (FOTO: DPA)hat den
Rücktritt des Ostbeauftragten der Bundesre-
gierung, Christian Hirte, gefordert. In einem
Interview hatte Hirte die PDS für heutige
Erfolge der AfD im Osten mitverantwortlich
gemacht. „Man könnte sagen, dass die PDS-
Linke gesellschaftlich gesät hat, was heute
die AfD erntet.“ Die PDS habe über Jahre und
Jahrzehnte Unterschiede und angebliche
Benachteiligungen betont. „Wer ein solches
Maß an Ignoranz gegenüber dem Osten an
den Tag legt, ist allenfalls die Karikatur eines
Ostbeauftragten“, sagte Kipping. DPA

Berlin– Der Streit über die teilweise Ab-
schaffung des Soli-Zuschlags wird schär-
fer. Unmittelbar vor den Landtagswahlen
in Brandenburg und Sachsen tauchen
neue Zweifel am Großprojekt der Bundes-
regierung auf – vom wissenschaftlichen
Dienst des Bundestags. Die Experten
kommen in einem Gutachten „zur Verfas-
sungsmäßigkeit des Solidaritätszu-
schlags“ zu dem Schluss, „dass jedwede
Erhebung des Solidaritätszuschlags über
2019 hinaus – sei es auch nur von höhe-
ren Einkommensgruppen und Unterneh-
men – ein hohes Risiko der Verfassungs-
widrigkeit in sich birgt“.
Die Einschätzung ist brisant, sie bringt
die Abgeordneten in die Bredouille.
Schließlich lautet die Aufgabe des wissen-
schaftlichen Dienstes, die Arbeit der
Volksvertreter „durch Analysen, Fachin-
formationen und gutachterliche Stellung-
nahmen“ zu unterstützen. Die Abgeord-
neten stehen nun vor der Aufgabe, ein Ge-
setz zu beschließen, vor dem die eigenen
Gutachter warnen, das aber vom Bundes-
kabinett beschlossen ist.
Der Koalitionsausschuss hatte Mitte
August beschlossen, den Zuschlag von
2021 an für alle Steuerzahler mit geringe-
rem und mittlerem Einkommen abzu-
schaffen; nur Hochverdiener sollen ihn
komplett weiterzahlen. Bundesfinanzmi-
nister Olaf Scholz hat – selbst Jurist – den
Gesetzentwurf dazu für verfassungs-
rechtlich einwandfrei erklärt. Das Kabi-
nett billigte ihn am 21. August; am 30. Au-
gust begann das parlamentarische Ver-
fahren; gleichzeitig warnte der wissen-
schaftliche Dienst, dass das Verfassungs-
gericht den Soli-Zuschlag ab 2020 für
rechtswidrig erklären könnte.
Seit der Einführung 1991 haben die
Steuerzahler 325 Milliarden Euro an Soli-
daritätszuschlag bezahlt. gam


Kipping empört über Hirte


Die AfD ist eine Partei,
die immer weiter in den
Rechtsextremismus abrutscht.“

Michael Kretschmer, CDU

München/Berlin –Nurwenige Stunden
nach Bekanntwerden hat die CSU-Spitze
die von ihrer Landesgruppe im Bundes-
tag vorgeschlagene Strafsteuer auf Billig-
flüge in Europa wieder einkassiert.
„Dies ist kein abgestimmter Vorschlag
der CSU. Generell gilt: Die CSU ist eine
Steuersenkungs- und keine Steuererhö-
hungspartei“, sagte Generalsekretär
Markus Blume der Deutschen Presse-
Agentur. Das Klimaschutzkonzept der
CSU werde aktuell noch entwickelt und
erst am Ende der kommenden Woche
bei der CSU-Vorstandsklausur beschlos-
sen. Blume reagierte damit auf einen
Bericht in derBild-Zeitung,wonach die
CSU-Landesgruppe eine „Kampfpreis-
Steuer“ auf Billigflüge innerhalb von
Europa fordere. Flüge, die weniger als
50 Euro kosteten, sollten demnach mit
einer Strafsteuer belegt werden, zitiert
die Zeitung aus einem Papier für die
Herbst-Klausur der CSU-Landesgruppe
im Bundestag am kommenden Diens-
tag. CSU-Landesgruppenchef Alexander
Dobrindt verteidigte seinen Vorstoß. Es
gehe ihm darum, dass Bahnfahren gera-
de auch im Vergleich zum Luftverkehr
attraktiver werde. Daher sei es sinnvoll,
auf der einen Seite die Mehrwertsteuer
auf Fernzugtickets zu reduzieren und
auf der anderen Seite für faire Flugprei-
se zu sorgen. „Dumpingpreise“ von
neun oder 15 Euro seien weder markt-
wirtschaftlich noch klimapolitisch sinn-
voll. In der Summe sei dies ein Vor-
schlag, der zu erheblichen Steuerentlas-
tungen führe. „In der Kombination wird
ein Schuh daraus.“ dpa


Berlin– Die FDP will angesichts vieler
offener Fragen zur gescheiterten Pkw-
Maut einen Untersuchungsausschuss im
Bundestag beantragen. Dieses scharfe
Schwert sei notwendig, um völlige Trans-
parenz zu bekommen, sagte FDP-Ver-
kehrsexperte Oliver Luksic am Freitag in
Berlin. Verkehrsminister Andreas Scheu-
er (CSU) habe Gelegenheit zum Aufklä-
ren gehabt, „aber es haben sich immer
nur neue Fragen gestellt.“ Die FDP sei
bezüglich des Ausschusses auch im Ge-
spräch mit Linken und Grünen. dpa


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auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Gutachten: Soli-Pläne


wohl rechtswidrig


Berlin– Er galt als richtiger Waffennarr,
der Leiharbeiter Markus H., 43. Als die Po-
lizei im Juli seine Kasseler Wohnung
durchsuchte, entdeckte sie Dutzende Waf-
fen. Nicht nur bei ihm stand die Polizei vor
der Tür, auch bei Stephan E., dem mut-
maßlichen Mörder des Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke waren
die Beamten schon gewesen, und ebenso
beim dritten im Bunde, Elmar J., 64 Jahre
alt. Insgesamt 46 Waffen sammelten die
Beamten bei den drei Verdächtigen ein,
mitten in der rechtsextremen Szene. Aber
die meisten fanden sie bei Markus H.
Schon zuvor war eine Richterin in Kas-
sel misstrauisch gewesen, sie hatte beim
hessischen Landesamt für Verfassungs-
schutz (LfV) nachgefragt: Ob man Markus
H. nicht davon abhalten könne, legal an ei-
ne Waffenerlaubnis zu kommen? Als Ant-
wort bekam sie am 9. Februar 2015 zu hö-
ren: Nein. Es lägen aus den vergangenen
fünf Jahren keine Erkenntnisse vor. Die
dürftige Antwort des LfV hatte Konsequen-
zen, wie jüngst Recherchen von SZ, NDR
und WDR gezeigt haben: Das Kasseler Ver-
waltungsgericht konnte Markus H. die
Waffenerlaubnis nicht verweigern.

Angesichts der Ermittlungsfortschritte
im Mordfall Lübcke wirkt dies inzwischen
merkwürdig. Noch sind nicht alle Chats
von Markus H. ausgewertet, aber das Bild
eines Szenegängers wird sichtbar. H. soll
bis zuletzt in der Neonazi-Szene aktiv und
auf Rechtsrockkonzerten gewesen sein.
Er gehörte der Neonazi-Kameradschaft
„Freier Widerstand Kassel“ an, auch wenn
dieser Verbund wohl eher lose war.

Laut dem Waffengesetz hat der Verfas-
sungsschutz die Aufgabe, Extremisten
von Waffen fernzuhalten. Er soll sich ein-
mischen, wenn einer eine Waffenerlaub-
nis beantragt. Bei einer „mittleren zwei-
stelligen“ Anzahl von Extremisten habe
das Lf V dies seit 2012 auch erfolgreich ge-
tan, teilt das Wiesbadener Innenministeri-
um mit. Ausgerechnet beim mutmaßli-
chen Komplizen im Fall Lübcke aber hat
dieses System offenbar versagt. Auf Nach-
frage erklärt das Lf V: Was immer man wo-
möglich über Markus H. gewusst habe, es
sei nicht „gerichtsverwertbar“ gewesen.
Nichts, was „als Beweismittel offengelegt
werden“ konnte.
Was heißt das? Hatte das Lf V Erkennt-
nisse, wollte aber seine Quellen schützen?
In solchen Fällen wissen sich die Verfas-
sungsschützer üblicherweise zu helfen.
Sie geben Richtern dann sogenannte Be-

hördenzeugnisse – kurze Statements
zur Sache, ohne Angabe der Quelle.
„Auch das Lf V Hessen stellt Behörden-
zeugnisse aus“, heißt es von dort. Nur im
Fall von Markus H. nicht.
Oder war Markus H., der seit Jahren
nicht mehr straffällig, sondern nur noch
als Szenegänger auffällig war, gar nicht
mehr in ihrem Fokus? Die Waffenbehör-
de und das Gericht hakten mehrmals
nach beim Lf V, seit 2012. So hätte es Zeit
gegeben, nötige Erkundungen einzuho-
len. Das Lf V sagt: „Die letztendliche Ent-
scheidung über eine waffenrechtliche Zu-
verlässigkeit treffen allein die Waffenbe-
hörden.“
In Hessen fühlen sich jetzt manche an
einen ähnlichen Fall vor ein paar Jahren
erinnert. Ein anderer Kasseler Neonazi,
Bernd Tödter, war 2014 auf die Idee ge-
kommen, seine Kameradschaft „Sturm
18“ ins Vereinsregister eintragen zu las-
sen, genau am 125. Geburtstag Adolf Hit-
lers. Der Mitarbeiter des Vereinsregis-
ters beim Amtsgericht Kassel stutzte.
Aus dem LfV aber hieß es damals nur:
Man habe nichts „Gerichtsverwertba-
res“ gegen Tödter und Co. in der Hand.
Erst im Oktober 2015 konnte Hessens In-
nenminister diese LfV-Panne wieder aus-
bügeln, indem er „Sturm 18 e.V.“ verbot.
Die neuerliche Kritik am Verfassungs-
schutz hat nun die Bundesjustizministe-
rin Christine Lambrecht (SPD) dazu ver-
anlasst, eine Verschärfung des Waffen-
rechts zu fordern. DemSpiegelsagte
Lambrecht, die Mitgliedschaft in einer
extremistischen Gruppierung oder Par-
tei solle automatisch ausreichen, um ei-
ne Waffenerlaubnis zu verweigern. Ei-
nen ähnlichen Vorschlag hatte auch Hes-
sens Innenminister 2018 in den Bundes-
rat eingebracht – bislang erfolglos.
lena kampf, ronen steinke

ImIran-Konfliktzeichnet sich nach einer
langen Phase der Eskalation eine Annähe-
rung ab: Plötzlich stehen Verhandlungen,
Kredite und sogar ein Treffen des US-Prä-
sidenten mit seinem iranischen Kollegen
im Raum. Es gebe eine gute Chance für
eine Zusammenkunft mit dem iranischen
Präsidenten Hassan Rohani, erklärt US-
Präsident Donald Trump am Montag,


  1. August, zumAbschluss des G-7-Gip-
    fels großer Industriestaatenin Biarritz.
    Es wäre ein historisches Ereignis, denn
    die USA sehen Iran als Feind und pflegen
    seit Langem keine diplomatischen Bezie-
    hungen mit Teheran. Irans Präsident Ro-
    hani stellt aber am Dienstag, 27. August,
    Bedingungen: „Ohne die Rücknahme der
    Sanktionen durch die USA werden wir kei-
    ne positive Entwicklung beobachten“,
    sagt er. Washington habe „den Schlüssel“
    für das, was als Nächstes passiere.
    Eine von Premierminister Boris John-
    son erwirkte Zwangspause des briti-
    schen Parlaments löst in Großbritanni-
    en erhebliche Kontroversenaus. John-
    son hatte am Mittwoch, 28. August, die
    Kronrede von Königin Elizabeth II. auf
    den 14. Oktober terminiert und beantragt,
    das Unterhaus, das derzeit im Sommerur-
    laub ist, nur wenige Tage im September ta-
    gen zu lassen und dann zu beurlauben.
    Die Königin, die sich traditionell aus der
    Innenpolitik heraushält, stimmte zu. Da-
    nach bleibt den Abgeordneten kaum Zeit,
    einen EU-Austritt Großbritanniens ohne
    Vertrag am 31. Oktober zu verhindern. Die
    Möglichkeit eines ungeordneten Brexits
    hält Johnson für ein Druckmittel, um die
    EU zu Zugeständnissen zu bewegen. Die
    britische Opposition will trotz der Sus-
    pendierung des Parlaments versuchen,
    einen No-Deal-Brexit per Gesetz zu ver-
    hindern.
    Der Weg für eineRegierung aus popu-
    listischer Fünf-Sterne-Bewegung und
    Sozialdemokraten (PD) in Italienist frei.


Staatspräsident Sergio Mattarella beauf-
tragt am Donnerstag, 29. August, den bis-
herigen Ministerpräsidenten Giuseppe
Conte mit der Bildung einer neuen Regie-
rung. Sollte dies gelingen, würde der
Rechtspopulist Matteo Salvini in der Op-
position landen. Der hatte das Bündnis
aus Fünf Sternen und seiner rechten Lega
Anfang August platzen lassen und auf Neu-
wahlen gesetzt. Conte hatte daraufhin sei-
nen Rücktritt eingereicht. Sowohl Sterne
als auch PD sprechen sich am Mittwoch,


  1. August, dafür aus, dass Conte das Man-
    dat bekommen soll, eine Regierung zu bil-
    den. Die Zustimmung zu der Personalie
    Conte galt als Voraussetzung für das Bünd-
    nis der ungleichen Parteien, die bisher auf
    Kriegsfuß standen.
    Der deutsche Fußballrekordmeister FC
    Bayern stellt seine Vereinsspitze neu auf.
    Derlang jährige Präsident Uli Hoeneß
    kündigt am Donnerstag, 29. August, sei-
    nen Rückzug an. Sein Nachfolger soll Her-
    bert Hainer, lang jähriger Adidas-Chef, als
    neuer Präsident und künftiger Aufsichts-
    ratschef werden. Der frühere Kapitän Oli-
    ver Kahn wird 2020 in den Vorstand der
    FC Bayern München AG berufen. Er soll
    2022 den Vorstandsvorsitzenden Karl-
    Heinz Rummenigge ablösen.
    Derlang jährige VW-Chef Ferdinand
    Piëchstirbt am Sonntag, 25. August, in
    einem Klinikum in Rosenheim im Alter
    von 82 Jahren. Mit seinem Tod geht für
    Volkswagen und die deutsche Automobil-
    industrie eine Ära zu Ende. Der Enkel des
    Käfer-Konstrukteurs Ferdinand Porsche
    galt als begnadeter Ingenieur. Piëch hatte
    Volkswagen über zwei Jahrzehnte erst als
    Vorstands- und dann als Aufsichtsrats-
    chef geprägt und zu einem weltumspan-
    nenden Konzern gemacht. 2015 zog sich
    der gebürtige Österreicher zurück, nach-
    dem er zuvor versucht hatte, den damali-
    gen VW-Chef Martin Winterkorn aus dem
    Amt zu drängen. sz


DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 HF3 POLITIK 7


Der ungeliebte Dritte


In Brandenburg und Sachsen gibt es unterschiedliche Probleme und Machtverhältnisse. Eines haben
die beiden Länder aber gemeinsam: Eine Zweierkoalition wird zum Regieren wohl nicht mehr reichen

Vor seinem Haus in Wolfhagen wurde
Walter Lübcke erschossen. FOTO: DPA

CSU uneins bei Strafsteuer


Viele Fragen zur Pkw-Maut


Brandenburg: Seit 29 Jahren SPD-geführt Sachsen: Seit 29 Jahren CDU-geführt


Die Minister-
präsidenten

Koalitionen Koalitionen


0

10

20

30

40

50

1990 1994 1999 2004 2009 2014

FDP 3,

AfD 9,

SPD 12,

NPD 4,

Linke 18,

CDU 39,

0

10

20

30

40

50

1990 1994 1999 2004 2009 2014

DVU 1,1 FDP 1,

Bündis90/
Grüne 6,2 Bündis90/Grüne 5,

AfD 12,

SPD 31,

NPD 2,

Linke 18,

CDU 23,

Kurt Biedenkopf
CDU, 1990 bis 2002

Georg Milbradt
CDU, 2002 bis 2008

Stanislaw Tillich
CDU, 2008 bis 2017

Michael Kretschmer
CDU, seit 2017

Manfred Stolpe
SPD, 1990 bis 2002

Matthias Platzeck
SPD, 2002 bis 2013

Dietmar Woidke
SPD, seit 2013

SZ-Grafik; Quelle:
wahlen-in-deutschland.de,
Landeswahlleiter,
eigene Recherche;
Fotos: Afp, Imago, Getty,
Dpa (2), Reuters (2)

Ergebnisse der Landtagswahlen, Zweitstimmen in Prozent

1990 1994 1999 2009 bis heute

SPD, FDP,
Bündnis 90 SPD SPD, CDU SPD, Linke

1990 2004 bis heute

CDU CDU, SPD

INLAND


Der Verfassungsschutz soll sich
einmischen, wenn ein Extremist
eine Waffenerlaubnis beantragt

Waffennarr im Mordfall Lübcke


Hätte derVerfassungsschutz einen mutmaßlichen Komplizen stoppen können?


WOCHENCHRONIK VOM 24. BIS 30. AUGUST

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