Der Tagesspiegel - 31.08.2019

(Sean Pound) #1

E


igentlich sollte alles besser wer-
den. Keine Doppelschichten
mehr, kein Durcharbeiten ohne
Pause. Keine Anrufe im Urlaub,
die den Urlaub prompt beenden. Zer-
mürbtvon alldiesen Umständen erkämpf-
ten die Mitarbeiter von Wombat’s den al-
lerersten Betriebsrat in einem deutschen
Hostel. Vier Jahre ist das her. Jetzt ver-
liert dort jeder seinen Job.
Das Hostel Wombat’s befindet sich an
der Alten Schönhauser Straße, mitten in
Mitte. Ein modernes, schlichtes weißes
Gebäude. Gedacht für junge Menschen,
für ein Wochenende in der Spaßstadt.
Viele scheinen dort eine gute Zeit zu ha-
ben. Nettes Personal, lockere Atmo-
sphäre, tolle Bar, schreiben die Besucher
in Online-Bewertungen. Es gibt aber
auch Gäste, die das Haus demnach scho-
ckiert verließen. Weilesfürdie Mitarbei-
ter nicht vergnüglich sei.
Mit einem Aushang am Schwarzen
Brett fing 2015 alles an. Die beiden Ge-
schäftsführer schrieben einen Brief an
die Belegschaft. Sie könnten die Grün-
dung eines Betriebsrats „in keinster
Weise nachvollziehen“. Der Schritt sei
eine „sehr große Enttäuschung“, ein Ver-
trauensentzug. Er lasse die beiden am
Sinn ihres Tuns zweifeln. Deswegen
werde es nach der Gründung auch von
ihrer Seite „einige Änderungen“ geben,
die„dieser neuen SituationRechnungtra-
gen“. Aus ihrer Sicht würden sich ein-
zelne Mitarbeiter bloß hinter einem bes-
seren Kündigungsschutz verstecken wol-
len und das gewohnte Arbeitsumfeld al-
ler gefährden. Das Gesamtteam habe sich
das alles aber sicherlich gut überlegt. Der
Brief liegt dem Tagesspiegel vor.
Obwohl die Beschäftigten das Schrei-
benalseinschüchternd empfanden, grün-
deten sie mit Hilfe der Gewerkschaft
„Nahrung-Genuss-Gaststätten“ das Gre-
mium zur Vertretung
ihrer Interessen und
erstritten ein Jahr spä-
ter einen Tarifvertrag.
Bei diesen Erfolgen
sollte es nicht bleiben.
Obwohl die betrieb-
liche Mitbestimmung
inDeutschlandgesetz-
lich geschützt ist, ge-
hen Unternehmen im-
merwieder gegen Inte-
ressenvertretungen
vor, zum Teil mit dras-
tischen Mitteln und
Unterstützung von da-
rauf spezialisierten
Anwaltskanzleien. Sie
versuchen, Wahlen
zu verhindern,
schüchtern Kandidaten ein, bespitzeln
Betriebsräte. Das Phänomen heißt
Union Busting und kommt ursprünglich
aus den USA. Doch auch hierzulande
verbreitet sich das Vorgehen aus Sicht
der Gewerkschaften.
Raphael steht bei Wombat’s seit zehn
Jahren an der Rezeption und ist Betriebs-
ratsvorsitzender. In einem Café berichtet
ervonSchikanen,obszönenSprüchenge-
genüber Frauen, Mobbing – aber lieber
nur mit seinem Vornamen. Im vergange-
nen Dezember versuchte die Belegschaft
nocheinmal,mitderGeschäftsführungzu
sprechen.EsgingvorallemumdasVerhal-
tenihresBerlinerChefs.„Drohbriefewur-
den an unsere privaten Mailadressen ver-
schickt, Mitarbeiter*innen zu Einzelge-
sprächeninsBüroabkommandiert,beide-
nen man angeschrien oder in völlig unan-
gemessener Art und Weise von oben he-
rabbehandeltwurde“,stehtdarin.Eswür-
den permanent Kündigungen angedroht
und Abmahnungen wegen Kleinigkeiten
ausgeteilt, nicht selten rechtswidrig, weil
jemanddieSprechstundedesBetriebsrats
inAnspruch genommen habe.
Dann brach das neue Jahr an. Und es
solltenochschlimmerwerden.DasUnter-
nehmenkündigtean,dassdieReinigungs-
kräfte in Subunternehmen ausgelagert
werden.WiederstreiktenMitarbeiter.Ne-
benKreideslogans,diederBetriebsrataus
Protest auf die Straße vor dem Hostel ge-
sprüht hatte, tauchte über Nacht ein ge-
sprühter Penis auf. An anderer Stelle
stand: „Fuck U Betriebsrat“ und weitere
Beleidigungen. Einige Wochen später be-
endete die Hostelleitung das Drama. Das
Hostelseizwarwirtschaftlicherfolgreich.
Aber aufgrund der schlechten Presse und
der„offenenFeindschaftinnerhalbundau-
ßerhalb“desHostelshättensichdieWom-
bat’s-Gründer entschieden, das Haus zu
schließen. An diesem Samstag ist es so

weit. Das Management wollte sich zu den
Vorwürfen derMitarbeiterund denGrün-
den der Schließung auf eine Anfrage hin
nicht äußern.
„Es ist bitter, dass das erste Hostel mit
einem Betriebsrat so scheitert“, sagt Se-
bastian Riesner, Geschäftsführer der
NGG-Region Berlin-Brandenburg. „Jetzt
schließen sie den Betrieb, ohne mit der
Wimper zu zucken, und nicht einmal aus
finanziellen Gründen.“ Besser könnte ein
Standort aus seiner Sicht gar nicht sein,
das Hostel sei ausreichend belegt. Er
glaubtvielmehr: Das Haus, daseinem der
Geschäftsführer gehört, wird nach einer
Schamfrist wiedereröffnet. Ohne einen
Betriebsrat.
Eine Untersuchung der Hans-Böckler-
Stiftung hat vor zwei Jahren ergeben,
dass jede sechste Gründung eines Be-
triebsrats behindert wird. Aktuelle Zah-
lenliegenEnde desJahresvor.Im Gastge-
werbe, wo die Arbeitsbedingungen be-
sonders schlecht sind, werde besonders
vielgetan,um darannichtszu ändern. Da-
bei muss jemand mit einer Geldstrafe
oder einer Freiheitsstrafe von bis zu ei-
nem Jahr rechnen, wenn er die Wahl oder
die Arbeit des Gremiums erheblich stört.
Die Realität sieht jedoch anders aus.
„Wie Betriebsrätevonmanchen Arbeitge-
bern regelrecht bekämpft werden, ist ein
echter Skandal“, findet Reiner Hoff-
mann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes. „Trotzdem landet
praktisch kein Fall vor Gericht.“ Die zu-
ständigen Staatsanwaltschaften würden
das zu oft als ein Kavaliersdelikt betrach-
ten. Der DGB fordert deshalb seit Lan-
gem Schwerpunktstaatsanwaltschaften
für diese Delikte.
Vor zehn Jahren bekam der Missstand
für eine Weile Aufmerksamkeit, als „be-
triebsratsverseucht“ zumUnwort desJah-
res erklärt wurde. Die Wahrnehmung
von Arbeitnehmerinteressen als Seuche
zu bezeichnen, sei „ein sprachlicher Tief-
punkt im Umgang
mit Lohnabhängi-
gen“, lautet die Be-
gründung. Seitdem
schaffen es mal
kleine Fälle, mal
große für einen Mo-
mentin dieSchlagzei-
len: Seit mehreren
Jahren verhindert Al-
natura zum Beispiel
die Wahl eines Be-
triebsrats in Bremen.
Der Playmobil-Her-
steller GeobraBrand-
stätter versucht seit
einem Jahr, acht Be-
triebsräte aus dem
Unternehmen zu kla-
gen. Auch bei der iri-
schen Billig-Airline Ryanair zeichnet sich
in Deutschland erneut ein Konflikt rund
um Arbeitsrechte ab.
Die Gewerkschaft Verdi wirft der Flug-
gesellschaft unter anderem vor, die Wahl
von Betriebsräten beim Kabinenpersonal
zu verhindern. Ryanair gehe oft noch mit
Druck vor. So hätten Beschäftigte Angst,
dass sie bei einer Wahl Repressalien zu
befürchten hätten und etwa gewünschte
Versetzungen in ihre Heimatländer nicht
erhielten. Bei Ryanair hatte sich irgend-
wann die Bundesregierung eingemischt
und im vergangenen Jahr das „Lex Ryan-
air“ auf den Weg gebracht. Damit bekom-
men nun auch Flugbegleiter das Recht,
einen Betriebsratzu gründen – auch ohne
Tarifvertrag.
In der neuen Arbeitswelt, der Welt der
hippen Start-ups, gibtes ebenfalls Gegen-
wehr. Manche greifen zu Tricks, um eine
Betriebsratsgründung zu umgehen – oder
sie sagen, dass ein solcher Gremium so
verstaubt sei wie ein Faxgerät. Stattdes-
sen gebe es in den Jungunternehmen
doch ein kumpelhaftes Miteinander, fla-
che Hierarchien, wo man Probleme mit
dem Chef locker am Kickertisch bespre-
chenkönne oderbeimgemeinsamenGril-
len auf der Dachterrasse. Das ermögliche
doch schon viel Mitbestimmung. Und
wenn der Chef zu beschäftigt ist, küm-
mern sich Feel-Good-Manager um die
Sorgen der Angestellten. Die Gewerk-
schaften sehen das anders und kritisieren
regelmäßig schlechte Arbeitsbedingun-
gen – zum Beispiel im Kosmos der Es-
sens- und Getränkelieferanten
Bei Wombat’s waren zuletzt 35 Frauen
und Männer tätig. Einige warten mit dem
Bewerben noch. Erschöpft von den letz-
ten Monaten brauchen sie eine kleine
Auszeit. Andere haben einen neuen Job
gefunden, wenngleich nicht mehr alle im
Gastgewerbe danach suchen.

Anfang des Jahres wurde


das Reinigungspersonal
des Hostels ausgelagert

Der Tagebau Jänschwalde darf wegen feh-
lender Naturverträglichkeitsprüfung ab



  1. September keine Kohle mehr fördern.
    Das hat das Verwaltungsgericht Cottbus
    am Freitag entschieden. Deshalb geht der
    Tagebau in den Sicherheitsbetrieb ohne
    Kohleabbau über. Frau Herntier, wie rea-
    giert die Lausitz darauf?


Die Leute sind fassungslos und ich bin es
auch. Mein Telefon steht nicht mehr still.
DerTagebau Jänschwaldegibt 700Kohle-
kumpeln Arbeit. Ihre Zukunft ist jetzt un-
gewiss.Mankann es denLeutennichtver-
denken, wenn sie nun den Eindruck ha-
ben, sie werden über den Tisch gezogen.
Meiner Meinung nach
ist das Urteil zu diesem
Zeitpunkt, kurz vor der
Landtagswahl, für Bran-
denburg ein Su-
per-GAU.
Beschert das Urteil der
AfD am Sonntag bei der
Landtagswahl Zulauf?
Die Leute wählen die
AfD oft aus Protest. Das
Urteilempört die Leute.
Dass davon die AfD jetzt profitiert, ist si-
cherlich nicht von der Hand zu weisen.
Ichhoffeesnatürlichnicht.DieKohlekom-
mission, an der ich ja auch beteiligt war,
hateinensehrgutenPlanfürdenStruktur-
wandel in der Lausitz erarbeitet. Damit
könnenwirdasVertrauenderLeute,dieja
den Zusammenbruch der Industrie nach
derWendenochsehrgutinErinnerungha-
ben, zurückgewinnen. Das Urteil macht
diesen Erfolg ein Stück weit zunichte.


Würden Sie sagen, die Deutsche Umwelt-
hilfe, die ja gerade für den Klimaschutz
streitet, hat mit ihrer Klage kontraproduk-
tiv gehandelt?


Ich sehe, dass der vorläufige Sicherheits-
betrieb des Tagebaus Jänschwalde dem
Klimaschutz gar nichts bringt und dem
Naturschutz im Übrigen auch nicht. Der
Energieversorger Leag hat selbst mitge-
teilt, dass der Anstieg des Grundwasser-
spiegels den Mooren sogar hilft. In erster
Linie macht mich aber die Entscheidung
des Verwaltungsgerichts in Cottbus wü-
tend: Welchen Grund gibt es, der Leag
die Fristverlängerung nicht einzuräu-
men?Dasversteheich nicht.Davon unab-
hängig ist das Signal wirklich fatal: Jetzt
ist eine Debatte entstanden, die dem
Strukturwandelprozess extrem schadet
und dem Klimaschutz gar nichts bringt.


Was werden Sie vor der Wahl jetzt unter-
nehmen?


Ich bin morgen auf einem Dorffest, da
treffe ich auch viele Kohlekumpel. Ich
werde mir ihre Sorgen anhören und ih-
nen Mut zusprechen und sie auch über-
zeugen, dass wir mit dem Strukturwan-
delplan für die Lausitz eine gute Zukunft
schaffen werden. Ich kann aber keinerlei
Störfeuer mehr gebrauchen, weder von
Gerichten noch von der Bundesregie-
rung. Was mir da elementar fehlt, ist ein
Staatsvertrag, damit die Finanzierung ge-
sichert ist. Ich hoffe wirklich, dass dieser
Staatsvertrag noch kommen wird. Sonst
habeich esschwer, die Leute hierzuüber-
zeugen, dass sie eben nicht über den
Tisch gezogen werden.


— Christine Herntier (parteilos) ist Bürger-
meisterin von Spremberg. Das Gespräch
führte Nora Marie Zaremba.


Deutsche-Wohnen-Aktienlegten zu, nach-
dem die umstrittenen Pläne zum Berliner Mie-
tendeckel in ihrer bisherigen Form offenbar
vom Tisch sind. Die Entscheidung kam auch
anderen Immobilienwerten zugute.


KURVEdes Tages


WIRTSCHAFT


ANZEIGE

Nikkei = © Nihon Keizai Shimbun

, Inc.

30.08. (Schluss) ++ S-Dax10.804,36 (+ 0,97 %) ++ Euro Stoxx 503.426,76 (+ 0,45 %) ++ Nikkei20.704,37 (+ 1,19 %) ++ Gold1.524,08 (– 0,26 %) ++ Rex147,13 (+ 0,03 %) ++ Euro-Bund-Future179,16 (+ 0,10 %) ++ Euroleitzins0,00% ++ Umlaufrendite-0,69 (± 0,00 %) ++

Tec-Dax Dow Jones

30.8.

Dollar je Barrel

(US-Leichtöl /WTI)

30.8.

in Dollar

Euro 30.08.
1,

zum Vortag


  • 0,33 %


30.08.
7.945,

zum Vortag


  • 0,34 %


Nasdaq

30.8. 30.8.

30.08.
26.373,

zum Vortag
+ 0,04 %

30.8.

30.08.
2.785,

zum Vortag
+ 0,87 %

30.08.
25.719,

zum Vortag
+ 1,30 %

M-Dax

30.8.

30.08.
11.939,

zum Vortag
+ 0,85 %

Dax

30.8.

zum Vortag


  • 2,98 %


30.08.
55,

Rohöl

Kreise oder Farben? Das Test-Durcheinander bei Nährwertsymbolen – Seite 16


Foto: I

mago

Foto: Pat

rick Pleul/dpa

Hart gebettet


In Berlin schließt ein Hostel, weil die Mitarbeiter zu sehr auf Mitbestimmung pochten. Der Konflikt ist kein Einzelfall


„Das Urteil


ist ein


Super-GAU“


Bürgermeisterin Herntier


zum Jänschwalde-Stopp


C. Herntier


SONNABEND, 31. AUGUST 2019 / NR. 23 931 WWW.TAGESSPIEGEL.DE/WIRTSCHAFT SEITE 15


Deutsche Wohnen

Angaben in Euro Tsp/Pieper-Meyer

32,

33,

31,

30,

29.08.2019 30.08.

+10,26%

Kurs am 29.08. und 30.08.
Veränderung zum Vortag

32,

Von Marie Rövekamp

Zurzeit checkt niemand bei Wombat’s in Berlin-Mitte ein.Das Hostel hat vorerst geschlossen – trotz guter Auslastung. Foto: Promo

Arzt hat zu?


Wir sind da!


Bei akuten Beschwerden und nicht lebensbedrohlichen
Krankheiten hilft der ärztliche Bereitschaftsdienst der

Kassenärztlichen Vereinigungen: 116117 – die Nummer
mit den Elfen. Bundesweit erreichbar außerhalb der

Sprechzeiten, am Wochenende und an Feiertagen.


Mehr unter 116 117.de


kbv.de

Free download pdf