Der Tagesspiegel - 31.08.2019

(Sean Pound) #1
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DER TAGESSPIEGELR E R U M C A U S A S
C O G N O S C E R E

Berlin- Tarek Khello kann sich noch ge-
nau an den Tag erinnern, an dem fremde
Männer ihn mehrere hundert Meter
durch eine Erfurter Plattenbausiedlung
jagten. Der syrische Journalist war ge-
rade zu Dreharbeiten unterwegs, als die
Männer ihn zunächst beleidigten und
dann mit einem Schlagstock angriffen. Es
war für ihn das schockierendste Erlebnis,
seit er Ende 2013 aus dem Krieg in Sy-
rien floh. Trotzdem arbeitet der 34-Jäh-
rige,derin Leipziglebt, weiter als Journa-
list in Ostdeutschland und berichtet über
Flüchtlinge und Rechtsextremismus.
Seine Drehtermine bereitet er jetzt noch
gründlicher vor. „In manchen Städten in
Sachsen muss ich sehr vorsichtig sein“,
erzählt Khello. Er überlege genau, wo er
noch hinfahren könne.
Rückblick: An jenem Tag im Januar
2017 ist Khello mit drei Kollegen für ei-
nen Fernsehdreh in
Erfurt unterwegs.
Sie filmen Flücht-
lingskinder. Plötz-
lich werden sie von
einer Gruppe frem-
der Männer angepö-
belt, drangsaliert,
verfolgt. Das Dreh-
team und die Kinder
reagieren nicht und
gehen zügig weiter.
Die Männer begin-
nen zu rennen, die Kinder fliehen. Das
Filmteam kann nicht fliehen, sie haben
schweres Equipment dabei.
Die Männer versuchen dem Kamera-
mann die Kamera aus der Hand reißen.
Er will sie beschwichtigen, doch dann es-
kaliert die Situation. Einer der Männer
will mit einer Bierflasche Khellos Kolle-
gin auf den Kopf schlagen. Er hält nur da-
von ab,weil einandererTarek Khello ent-
deckt hat und laut „Scheiß-Ausländer“
ruft. Sie gehen nun auf ihn, den syrischen
Flüchtling, los. Khello rennt davon, seine
Kollegin schreiend hinterher. Die Kame-
ramänner rufen die Polizei. Nach einigen
hundert Metern kann Khello sich in ei-
nen Supermarkt retten. Die Polizei ist
schnell vor Ort, die Täter sind noch in
der Nähe. Später werden sie verurteilt.
Ein furchtbares Erlebnis, und trotzdem
sagt Khello:„Ich habekeineAngst vor die-
sen Menschen. Die können mich nicht
entmutigen. Schlimmer als in Syrien
kann es hier nicht werden.“
Khello studierte Journalismus und ar-
beitete bis 2013 als Journalist in Aleppo.
Weil er immer wieder das Assad-Regime
kritisierte, wurde er mehrmals verhaftet.
Als Milizen seine Stadt angriffen und De-
monstranten und kritische Journalisten
ermordeten floh er. In Leipzig lernte er


Deutsch, zog in eine eigene Wohnung, er
hat inzwischen einen Aufenthaltsstatus
und zahlt Steuern.
Angegriffen wurde Khello bisher zwei-
mal, Diskriminierung erlebt er häufiger.
Zum Beispiel, als er für einen Freund bei
einem Immobilienmakler dolmetschte
und dieser ihm nicht die Hand geben
wollte, weil sich darüber so viele Bakte-
rien verbreiten würden.
Im Vergleich zu dem, was ihm in
Aleppopassiert ist, findet er die Situation
in Sachsen gar nicht schlimm: „Ich war
im Krieg in der Hölle und jetzt bin ich in
Leipzig.“ Auch wenn andere Städte wie
Berlin oder Hamburg toleranter gegen-
über Flüchtlingen seien, sei er dort sehr
glücklich. „Ich gehöre hier dazu und
werde Leipzig nie verlassen.“ Die Diskri-
minierung sei auch nicht so schlimm wie
in anderen ostdeutschen Städten. Er
würde darüber nur noch lachen.
Doch was ist, wenn bei der Wahl am
Sonntag die AfD stärkste Kraft in Sach-
sen wird? Khello bleibt optimistisch: „Ich
finde, wir sollten vor allem den Leuten
Respekt zollen, die sich hier gegen die
AfD und für Ausländer einsetzen und da-
für sogar in Gefahr begeben.“ Die meis-
ten Aktivisten seien unter 35, und viele
würden in Kleinstädten wohnen, in de-
nen jeder sofort erkannt wird. „Ich mag
dieses Bundesland. 75 Prozent der Men-
schen hier haben nicht die AfD gewählt,
und es gibt nur wenige, die wirklich Aus-
länder hassen.“ Selina Bettendorf


Berlin-Das Regime schlägt imVerborge-
nen zu. Es gibt keinen Haftbefehl, keinen
Prozess, keine offizielle Bestätigung über
den Verbleib der Menschen. Sie ver-
schwindeneinfach.Spurlos.Washeißt:Sy-
rer, die den Machthabern nicht genehm
sind, werden willkürlich festgenommen
undlandeninstaatlichenKerkern.Zahlen
der Menschenrechtsgruppe Syrian Net-
work for Human Rights zufolge befinden
sich derzeit 140000 Syrer in offiziellen
Haftanstalten oder geheimen Verliesen.
Viele werden nach übereinstimmenden
Berichtenmassivgefoltert,Tausendesind
bereitsumsLebengekommen.Allerdings
sind vielfach auch dschihadistische und
oppositionelleMilizenverantwortlichda-
für, dass Syrerverschlepptwerden.
AndiesemSamstagwollenOrganisatio-
nen wie Adopt a Revolution und Families
forFreedomvorderRussischenBotschaft
(Unter den Linden 63–65) von 16 bis 18
Uhr auf das Schicksal der Verschwunde-
nenaufmerksammachenundfüreinEnde
derPraxisdes„Verschwindenlassens“de-
monstrieren. Moskau ist Baschar al As-
sads wichtigster Verbündeter. Auch die
29-jährige Wafa wird dabei sein. Sie setzt
sichfür dieVerschwundenen ein.

Wafa, Ihr Vater gehört zu den Tausenden,
die in Syrien verschwunden sind. Was wis-
sen Sie über seinen Verbleib?
So gut wie nichts. Er ist am 2. Juli 2013
spurlos verschwunden. Ein Nachbar hat

es uns so geschildert: Gegen 10 Uhr mor-
gens sind Sicherheitskräfte ins Haus ein-
gedrungen, sie zerschlugen das Mobiliar
und verschleppten meinen Vater. Dass es
Vertreter des Staates waren, scheint mir
plausibel. Wir lebten in Damaskus in ei-
ner Gegend, in der Präsident Baschar al
Assad wohnt, die also vom Regime kon-
trolliertwird.Seitdem gibteskeineInfor-
mationen über seinen Verbleib. Wir wis-
sen weder, wo mein Vater Ali sich befin-
det, noch ob er am Leben ist.
Keine Information seit sechs Jahren?
Nein, nichts. Wir haben wie alle Syrer,
die nach Verschwundenen suchen, An-
wälte eingeschaltet. Haben über Bezie-
hungen versucht, etwas in Erfahrung zu
bringen – Fehlanzeige.
Haben Sie eine Vermutung, warum Ihr Va-
ter festgenommen wurde?
Er war bereits vor dem Aufstand gegen
Präsident Assad politisch aktiv. Zwei Mal
inhaftierten die Behörden ihn deshalb.
Das war 2006 und dann fünf Jahre später.
2011 hatte mein Vater an friedlichen De-
monstrationen gegen den Machthaber
teilgenommen und sich für Opfer des Re-
gimes eingesetzt. Dann ist er 2013 ver-
schwunden.
Wie haben die Behörden reagiert?
Gar nicht. Es gibt ja auch keine Stelle, an
die man sich in derartigen Fällen wenden
kann. Keinem ist es möglich, sich bei den
Sicherheitskräften zu erkundigen. Selbst

Anwälte können da so gut wie nichts aus-
richten. Sie sind ebenfalls auf ihre Bezie-
hungen angewiesen. Syrien hat ja nichts
mit einem Rechtsstaat zu tun. Niemand
kann sich in einer Diktatur auf Gesetze
berufen.

Die betroffenen Familien sind der Willkür
der Herrschenden ausgeliefert?
Ja, es gibt prinzipiell nur zwei Mittel, um
an Informationen zu kommen: Beziehun-
gen und Geld. Beides hat im Fall meines

Vaters nichts gebracht. In Syrien selbst
kann ich nichts mehr ausrichten. Ich
kann nur versuchen, mich von außerhalb
fürdie Verschwundenen einzusetzen. Ich
versuche Leute zu treffen, die womöglich
Druck auf das Regime ausüben können,
und engagiere mich bei Gruppen wie „Fa-
milies for Freedom“. Am Samstag werde
ich mit ihnen vor der russischen Bot-
schaft demonstrieren, um auf das Schick-
sal der Verschwundenen aufmerksam zu
machen. Es geht um Gerechtigkeit und

Menschlichkeit. Wir wollen endlich wis-
sen, wie es unseren Angehörigen geht
und wo sie sich befinden!
Sie selbst leben mittlerweile in Berlin. Wie
ist es dazu gekommen?
Das war nicht beabsichtigt. Als mein Va-
terverschlepptwurde,binich mit meiner
Mutter und meiner Schwester in die Tür-
kei geflohen. Dort schloss ich mich einer
Gruppe an, die auf die Bedrohung durch
den „Islamischen Staat“ aufmerksam
machte. Doch zwei Mitglieder wurden
von den Dschihadisten ermordet. Des-
halb haben wir die Türkei verlassen und
sind nach Deutschland gekommen.
Auf Whatsapp zählen Sie die Tage seit
dem Verschwinden Ihres Vaters. Am Frei-
tag waren es 2251. Haben Sie immer noch
Hoffnung?
Ich habe gar keine andere Möglichkeit,
als weiter zu hoffen. Denn es geht nicht
allein um meinen Vater, sondern um Ver-
antwortung gegenüber allen Verschwun-
denen.Inder Sekunde,in der ich dieHoff-
nung verlöre, würde ich nicht nur mei-
nen Vater aufgeben, sondern auch alles,
wofür er sich eingesetzt hat: die Revolu-
tion, Demokratie, Freiheit. Die Hoffnung
aufgeben bedeutete also, dem Regime
den Sieg zu überlassen. Das würde nicht
nur meinen Vater sehr enttäuschen, son-
dern auch alle Syrer, die für ein anderes
Syrien kämpfen.

— Das Gespräch führte Christian Böhme.

Wafa Mustafa(29)
setzt sich seit Langem
für verschwundene
Syrer ein. Sie wuchs
in Damaskus auf,
suchte dann Schutz
in der benachbarten
Türkei und lebt heute
in Berlin.

Steinmeier und Merkel gemeinsam
beim Weltkriegs-Gedenken
Berlin/Warschau- Mit einer besonde-
ren Geste will sich Deutschland am 80.
Jahrestag des Überfalls auf Polen zu sei-
nerVerantwortungfür den Zweiten Welt-
kriegmitMillionenTotenbekennen. Bun-
despräsident Frank-Walter Steinmeier
undKanzlerin Angela Merkel (CDU)wer-
den an diesem Sonntag gemeinsam an
der zentralen Gedenkveranstaltung in
derpolnischen Hauptstadt Warschauteil-
nehmen. Steinmeier will nach Angaben
aus dem Bundespräsidialamt vom Freitag
auch die inzwischen erreichte Versöh-
nung zwischen Deutschland und Polen
würdigen und die Bedeutung des verein-
ten Europasfür dieweitere friedlicheEnt-
wicklung herausstreichen. Während die
Reise Steinmeiers seit Langem geplant
war, wurde Merkels Teilnahme am Frei-
tag kurzfristig bekanntgegeben. US-Präsi-
dent Donald Trump hatte seine Polen-
reise am Donnerstag kurzfristig abgesagt
und sie mit dem bevorstehenden Hurri-
kan in Florida begründet. Statt seiner
fährt Vizepräsident Mike Pence. dpa

Bundeswehrverband warnt vor
Folgen des Gratis-Bahntickets
Berlin- Kostenlose Zugtickets für Solda-
ten könnten dem Bundeswehrverband
zufolge zu einer Bahn-Pflicht für die
Truppe führen. Wie die „Neue Osnabrü-
cker Zeitung“ am Freitag berichtete,
schreibt das Bundesreisekostengesetz
vor, dass Fahrtkosten – etwa von Flug-
reisen – nicht erstattet werden, wenn
eine unentgeltliche Reisemöglichkeit be-
steht. Das kostenlose Zugfahren könne
„nur dann ein Erfolg werden, wenn nie-
mand dazu gezwungen wird“, sagte der
Verbandsvorsitzende André Wüstner
der Zeitung. Das Verteidigungsministe-
rium konnte dem Bericht zufolge eine
mögliche Bahn-Pflicht nicht ausschlie-
ßen. Die Frage, ob etwa Flüge zwischen
den Ministeriumssitzen Bonn und Ber-
lin künftig weiterhin ersetzt würden,
muss demnach mit dem Verkehrsminis-
terium und der Deutschen Bahn geklärt
werden. Allein zwischen Bonn und Ber-
lin habe es im vergangenen Jahr rund
7900 Flüge von Mitarbeitern gegeben.
Die Kosten dafür hätten sich pro Monat
auf 80000 Euro belaufen. Soldatinnen
und Soldaten in Uniform dürfen ab Ja-
nuar 2020 kostenlos mit der Deutschen
Bahn fahren. Die Bahn erhält dafür von
der Bundesregierung regelmäßig eine
pauschale Vergütung. AFP

Berlin- Rasch verbreiteten sich in der
Nacht zum Freitag die Gerüchte. In Kiew
und Moskau seien Buskonvois unter
strengerBewachungzu denFlughäfenun-
terwegs. Aus der russischen Hauptstadt
sei bereits ein Flugzeug mit 28 Ukrainern
abgeflogen, an Bord auch die von Russ-
landin derStraße vonKertsch imNovem-
ber 2018 gefangen genommenen See-
leute und der ukrainische Regisseur Oleg
Senzow. FürdessenFreilassungaus russi-
scher Lagerhaft hatten sich Künstler und
Politiker aus aller Welt viele Monate lang
vergeblich eingesetzt.
Seit fast zwei Monaten ist bekannt,
dass Russland und die Ukraine über den
Austausch von Gefangenen verhandeln.
Immer wieder wurden Termine genannt
und Details an die Journalisten durchge-
steckt, dann wieder zurückgezogen. Nun
sollte am Freitag der Prozess also begon-
nen haben. Es wäre das erste Signal da-
für, dass sich die Ukraine und Russland
nach der Annexion der Krim 2014 und
nach fünf Jahren Krieg in der Ostukraine
um eine Annäherung bemühen.
Dochdann beendete am Freitagvormit-
tag eine Sprecherin des ukrainischen Ge-
heimdienstes vorerst die Hoffnungen.
„Wir habennie einenTermin für denAus-
tausch genannt. Heute wird er sicher
nichtstattfinden.“ Gleichzeitig jedoch er-
weckte sie den Eindruck, es gehe nur
noch um Formalitäten. Alles verlaufe
„nach Plan“, sagte sie. Den ganzen Frei-
tag jedoch kursierten in ukrainischen wie
in russischen Online-Medien Spekulatio-
nen, der Austausch habe ungeachtet des
Dementis insgeheim doch schon stattge-
funden. Das Informationschaos zeigt,
wievorsichtig manin dem russisch-ukrai-
nischen Konflikt mit Optimismus sein

muss. Auf beiden Seiten sitzt das Miss-
trauen abgrundtief.
Der Gefangenenaustausch war im Juli
währenddeserstenTelefongesprächszwi-
schen den Präsidenten der Ukraine und
Russland, Wolodymyr Selenski und Wla-
dimir Putin, diskutiert worden. Die
Gerüchte, dass er bevorstehe, verdichte-
ten sich dann in dieser Woche, als der
ukrainisch-russische Journalist Kirill
Wyschinski in Kiew aus der Haft entlas-
sen wurde. Der Ukraine-Chef der russi-
schen Desinformationsagentur „Ria No-
vosti“, der die Staatsbürgerschaft beider
Länder besitzt, war wegen Landesverrats
zu15JahrenGefängnisverurteiltworden.
Wenig später sickerte dann durch, Sen-
zowseiineinMoskauerGefängnisverlegt
worden. Er war zu 20 Jahren verschärfter
Lagerhaft verurteilt worden, weil er sich
aufderHalbinselKrimnachderAnnexion
geweigert hatte, die russische Staatsbür-
gerschaft anzunehmen. Zudem wurde er

beschuldigt, Feuer an die Tür des Büros
der Putin-Partei „Einiges Russland“ in
Simferopol gelegt und die Sprengung ei-
nesLenin-Denkmalsgeplantzuhaben.Da-
raus machte die Staatsanwaltschaft eine
Anklage wegen „Terrorismus“. Für Men-
schenrechtsorganisationen gilt Senzow
alspolitischer Gefangener.
Neben Wyschinski und Senzow sind
die24Angehörigender ukrainischenMa-
rine die Schlüsselfiguren dieses Deals.
Russische Grenztruppen hatten ihre
Schiffe vor knapp einem Jahr aufge-
bracht, als sie versuchten, die von Russ-
land beanspruchte Straße von Kertsch zu
passieren. Der Internationale Seege-
richtshof urteilte im Mai, das russische
Vorgehen sei rechtswidrig, die Seeleute
seien unverzüglich freizulassen. Moskau
ignorierte diese Entscheidung.
Erst ein einziges Mal haben Russland
und die Ukraine bisher Gefangene ausge-
tauscht. ImMai 2016 war die ukrainische

Luftwaffen-Pilotin Nadeshda Sawtschen-
ko aus russischer Kriegsgefangenschaft
freigekommen. Zwei russische Soldaten,
die in der Ostukraine gekämpft hatten,
konnten dafür in ihre Heimat zurückkeh-
ren. Das russisch-ukrainische Verhältnis
verbesserte sich danach nicht. Saw-
tschenko wurde nach ihrer Rückkehr in
die Heimat zunächst heroisiert, sie zog
ins Parlament ein, wurde zeitweise sogar
als Präsidentschaftskandidatin gehan-
delt. Wenig später aber wandelte sich die
Heldin in den Augen der Öffentlichkeit
nach einigen wirren Äußerungen über
den Krieg in eine „Agentin Moskaus“.
Zeitweise saß sie sogar im Gefängnis.
Von den beiden russischen Soldaten war
nie wieder etwas zu hören. Auf das ukrai-
nisch-russische Verhältnis hatte dieser
Austausch keinerlei Auswirkungen.
Diesmal könnte tatsächlich ein positi-
ver Impuls entstehen. Der ukrainische
Präsident Selenski hat die Wahl mit dem
Versprechen gewonnen, den Krieg in der
Ostukraine zu beenden.Daran wird erbe-
reits gemessen, obwohl er erst seit 100
Tagen im Amt ist. Auch für Russland sei
eine Entspannung der Lage vorteilhaft,
schrieb die keineswegs Kreml-ferne On-
line-Zeitung „Gazeta.ru“ kürzlich. Die
westlichen Sanktionen hätten die Wirt-
schaft „sichtbar gebremst“ und „zu den
größten Spannungen seit dem Zerfall der
UdSSR geführt“, heißt es in dem Artikel.
Zudem ziehe die „endlose Benutzung des
Ukraine-Themas“ bei der Bevölkerung
nicht mehr. Gleichzeitig aber eröffne sich
für Moskau gerade eine Chance für die
Erneuerung einer Partnerschaft mit dem
Westen. DerGefangenenaustausch sei da-
für eine der Voraussetzungen, ist „Ga-
zeta.ru“ überzeugt. Frank Herold

Foto: privat

Abgeführt.Ein Ange-
höriger des russischen
Geheimdienstes führt
einen der in der Straße
von Kertsch festgenom-
menen ukrainischen
Matrosen zum Pro-
zess. Foto: dpa

„Er ist seit 2251 Tagen verschwunden“


Die Syrerin Wafa Mustafa über ihren verschleppten Vater, das Schweigen des Regimes und Hoffnung


EFNACHRICHTEN


Gefangene der Politik


Russland und die Ukraine bereiten einen Austausch von Inhaftierten vor. Aber das Misstrauen sitzt tief


Tarek Khelloarbeitet als Journalist in Sach-
sen. Foto: Mike Wolff/Tsp


„In manchen


Städten


muss ich


sehr


vorsichtig


sein“


4 DER TAGESSPIEGEL POLITIK NR. 23 931 / SONNABEND, 31. AUGUST 2019


Attackiert,


aber nicht


entmutigt


Warum ein Syrer


in Sachsen bleibt


Zeichen setzen.Im September 2018 protestierten die „Families for Freedom“ vor dem Brandenburger Tor. Sie fordern Aufklärung über den Verbleib ihrer Angehörigen. Foto: Piero Chiussi/Imago
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