Der Tagesspiegel - 31.08.2019

(Sean Pound) #1

V


eränderungensindschwer!“Die-
sesGefühlhabenwirsoverinner-
licht, dass wir uns gar nicht erst
fragen, ob es berechtigt ist oder
nicht. Es gibt ja auch gute Gründe dafür,
warum viele von uns den Wandel als stei-
lenGipfelbetrachten,denwirmühsamer-
klimmen müssen. Denken Sie nur einmal
analldieNeujahrsvorsätze,diesogutwie
immer scheitern. Durchschnittlich
nimmt sich jemand zehn Jahre hinterei-
nanderstetsgenaudasselbevor–ohneEr-
folg. Innerhalb von vier Monaten werden
25ProzentderVorsätze aufgegeben.Und
wem es tatsächlich gelingt, einen guten
Vorsatz umzusetzen, der hat sich damit
schondieletztenfünf,sechsJahregequält.
EbensowirddieVeränderungderOrga-
nisationsstruktur von Unternehmen
meist als schwierig wahrgenommen. Die
gängigen Managementratgeber empfeh-
len Haurucklösungen, wie Führungs-
kräfteihrelahmeBelegschaftwiedermoti-
vieren können. Meisterzählen solche Bü-
chersimpleFabeln,illustriertmitTierfigu-
ren,diedieBotschaftbesserrüberbringen
sollen.EinigedieserBücherwerdenBest-
seller wie zum Beispiel John Kotters „Das
Pinguin-Prinzip“,dasseineWeisheitenin
mundgerechten Portionen serviert: Man
müsse seine Mitarbeiter davon überzeu-
gen,dasseineKatastrophe–odereineBe-
drohung – unmittelbar bevorsteht. Nur
dann seien sie motiviert genug, sich für
Veränderungenzuöffnen.DochimGegen-
satz zur vorherrschenden Meinung müs-
senVeränderungen,obnunimGeschäfts-
oder im Privatleben, weder schmerzlich
sein, noch muss ihre Notwendigkeit
durchPanikmachevermitteltwerden,um
unsselbstoderunsereKollegenzusinnvol-
lemHandelnanzutreiben.
Ich werde Ihnen zeigen, wie leicht der
Wandel wird, wenn Sie von der Neigung
Ihres Gehirns zur Veränderung richtigen
Gebrauch machen. Ich habe mich in mei-
ner beruflichen Laufbahn als Psychologe
immer eher für das Gegenteil des Schei-
terns interessiert. Wenn sich ein Unter-
nehmen 50 Jahre lang an der Spitze hält,
möchte ich verstehen, welche Entschei-
dungen hinter diesem Erfolg stehen. Da-
herhabeicheinenGroßteilmeinesBerufs-
lebens der Beantwortung zweier Fragen
gewidmet: Wie werden Menschen erfolg-
reich? Wie können erfolgreiche Men-
schen erfolgreich bleiben? Natürlich gibt
essovieleWegezumErfolg,wieeserfolg-
reicheMenschengibt.Aberinden32Jah-
renmeinerBerufspraxishatteichdasVer-
gnügen,vieleMenschenkennenzulernen,
dieeineungewöhnli-
cheMethodeeinsetz-
ten, um dauerhafte
Veränderungen zu
erzielen. Und sie
wenden dieses Prin-
zipauchinihremper-
sönlichen Leben an.
Sie nehmen ab (und
bleiben schlank); sie
fangen mit Sport an
(und bleiben dabei); sie befreien sich von
einer Sucht (ein für alle Mal); sie schaffen
starke Beziehungen (dauerhafter Natur);
sie können sich organisieren (ohne ins
Schleudern zu geraten, wenn es mal hek-
tisch wird); und sie glänzen im Beruf
(auchlange nachdemihre Beurteilung er-
folgtist).
Diese Methode ist im Grunde ein offe-
nes Geheimnis, von dem in der japani-
schenUnternehmenskultur seitJahrzehn-
ten Gebrauch gemacht wird und dasmitt-
lerweile auch Privatleuteinaller Weltnut-
zen. Es handelt sich dabei um eine ganz
natürliche und elegante Technik, um
seine Ziele zu erreichen und kontinuier-
lich hohe Leistungen zu erbringen. Eine


Technik, die Sie anwenden können,
selbst wenn Sie wenig Zeit haben. Diese
Strategie werde ich Ihnen vorstellen.
Wenn Menschen an ihrem Leben etwas
verändern wollen, versuchen sie es zu-
nächstmeistmitInnovation,diehäufigals
kreativer Durchbruch gilt. Ich verwende
diesen Begriff so, wie er an den Wirt-
schaftsfakultäten mit ihrem recht spezifi-
schen Erfolgsvokabular definiert wird.
Vor diesem Hintergrund ist Innovation
eine abrupte, drastische Veränderung.
Idealerweiseerfolgtsieineinemsehrkur-
zen Zeitrahmen und geht mit dramati-
schen Veränderungen einher. Innovation
istnaturgemäßschnell,weitreichendund
augenfällig. Sie erstrebt maximale Verän-
derungineinem Minimum anZeit.
So definiert, mag der Begriff Ihnen neu
sein, die Idee dahinter ist allerdings mehr
als bekannt. In der Geschäftswelt heißt
dies zum Beispiel: Massenentlassungen,
um das Betriebsergebnis zu steigern.
Oder ins Positive gewendet:hohe Investi-
tionen in neue Technologien. Die radika-
len Strategien der Innovationskultur er-
freuen sich auch im Bereich persönlicher
Wandlungsprozesse hoher Wertschät-
zung.Selbst wennSieein extrem diszipli-
nierter und erfolgreicher Mensch sind,
möchte ich wetten, dass Sie sich auch an
Gelegenheiten erinnern, bei denen Sie es
mit dem Hauruckverfahren versucht ha-
ben und gescheitert sind, ob das nun eine
abgebrochene Crash-Diät war oder eine
kostspielige „Beziehungskur“ (einsponta-
ner Städtetrip nach Paris), die Ihr Liebes-
leben nicht wirklich verbessert hat. Das
ist das Problem mit dem Innovationsan-
satz.Nurallzu häufighatman damit kurz-
fristig Erfolg, nur um wieder in alte Mus-
ter zurückzufallen, sobald der erste Hö-
henflug der Begeisterung abflaut. Radi-
kale Veränderungen sind wie ein Sprint

bergauf: Möglicherweise verlässt Sie der
Rückenwind, noch bevor Sie am Gipfel
ankommen. Oder der Gedanke an die be-
vorstehenden Mühen lässt Sie aufgeben,
kaum dass Sie angefangen haben. Doch
es gibt eine Alternative zur sprunghaften
Veränderung durch Innovation. Ein voll-

kommen andererWeg,derSie so gemäch-
lich den Berg hinaufführt, dass Sie den
Anstieg kaum bemerken. Dieser Pfad er-
fordert keine übermenschlichen Kräfte,
weil er nicht so steil ist. Alles, was Sie
hier tun müssen, ist gemütlich einen Fuß
vor den anderen zu setzen.
Die Alternative, die ich Ihnen hier vor-
stellen möchte, heißt auf Japanisch kai-
zen. Das lässt sich am besten mit einem
bekannten, aber nichtsdestotrotz starken
Sprichwort erklären: „Eine Reise von tau-
send Meilen beginnt mit dem ersten
Schritt.“ (Laozi) Trotz des fremdländisch
anmutenden Namens wurde Kaizen –
kleine Schritte zur kontinuierlichen Ver-
besserung – systematisch erstmals wäh-
rend der Weltwirtschaftskrise in den
USA angewandt. Als Frankreich 1940 in
die Hände von Nazideutschland fiel, war
der amerikanischen Führungsschicht
klar, dass die Alliierten schiffsladungs-
weise militärische Ausrüstung aus Ame-
rika brauchen würden. Außerdem stand
ganzkonkretimRaum, dass baldamerika-
nische Soldaten würden eingreifen müs-
sen,dieebenfalls Panzer, Waffen undVer-
sorgungsgüterbenötigen würden. DieFa-
briken in den USA würden sowohl Quali-
tät als auch Quantität ihrer Produktion
steigern müssen, und zwar schleunigst.
Der Druck stieg noch, weil viele qualifi-
zierte Fachkräfte zur Armee gingen, die
sich ebenfalls auf den Krieg vorbereitete.
Um diese Zwangslage zu meistern, rief
die US-Regierung ein Managementpro-
gramm ins Leben, das den Namen Trai-
ning Within Industries (TWI) trug. Die-
ses Programmwurde allenIndustriezwei-
gen in den USA angeboten, um die Pro-
duktion zu stärken. In einem der Kurse
legte man die Grundlagen für etwas, das
zu einer anderen Zeit und an einem ande-
ren Ort als Kaizen bekannt werden sollte.

Statt radikale, schnelle Veränderungen
zu fordern, um die gewünschten Resul-
tate zu erzielen, ermutigte das TWI-Pro-
gramm die teilnehmenden Führungs-
kräfte zum „continuous improvement“
(kontinuierlichen Verbesserungspro-
zess). Man empfahl ihnen: „Sehen Sie
sich nach hundert kleinen Dingen um,
die Sie verbessern können. Versuchen
Sie nicht, eine neue Abteilung zu grün-
den – oder neue Maschinen installieren
zu lassen. Für solche großen Sprünge ha-
ben wir keine Zeit. Halten Sie vielmehr
Ausschau nach Verbesserungsmöglich-
keiten von bereits existierenden Abläu-
fen, die Sie mit Ihrer gegenwärtigen Aus-
rüstung bewältigen können.“
Einer, der am lautesten für die kontinu-
ierlicheVerbesserungwarb,warEdwards
Deming,einStatistiker,derdenamerikani-
schen Unternehmen in ihren Kriegsan-
strengungen bei der Qualitätskontrolle
zurSeitestand.DemingbrachtedenMana-
gernbei,wiesiejedeneinzelnenMitarbei-
terindenVerbesserungsprozesseinbezie-
hen konnten. Der enge Zeitplan machte
Elitedenken und Snobismus zu Luxusgü-
tern, die man sich nicht länger leisten
konnte. Buchstäblich jeder, von den Fa-
brikarbeiternamBandbiszudenobersten
Rängen im Management, war dazu aufge-
rufen, kleine Verbesserungen zu finden,
mit denen sich die Qualität des Produkts
und die Effizienz seiner Herstellung stei-
gernließen.ManließüberallIdeenkästen
montieren, in welche die Mitarbeiter ihre
Vorschläge einwerfen konnten. Und das
Management war angehalten, all diese
EmpfehlungenmitgrößtemRespektzube-
handeln. Anfangs betrachtete man diese
Philosophie vermutlich als erschreckend
unzureichend für diese Umstände, doch
bald zeigte sich, dass all die kleinen
Schritte Amerikas Produktionskapazität

dramatisch steigen ließen. Die Qualität
der amerikanischen Ausrüstung und die
Schnelligkeit, mit der sie hergestellt wer-
den konnte, waren ganz entscheidende
Faktoren für den Sieg der Alliierten.
DiePhilosophie der kleinenSchrittege-
langte erst nach dem Krieg nach Japan,
als General Douglas MacArthur mit sei-
ner Besatzungsmacht begann, das zer-
störte Land wieder aufzubauen. Wenn
Sie wissen, wie sehr Japans Unterneh-
menskultur Ende des 20. Jahrhunderts
die Welt dominierte, mag es Sie vielleicht
überraschen, dass die japanischen Fir-
mennachdemKrieg keineguteFührungs-
kultur besaßen, und mit laschen Manage-
menttechniken und
einer schwachen Ar-
beitsmoral zu kämp-
fen hatten. General
MacArthur er-
kannte schnell, dass
die Effizienz der Be-
triebe verbessert
werden musste, dass
es neue Geschäfts-
standards brauchte.
Dass die japanische Wirtschaft florierte
war in MacArthurs Interesse, denn eine
wiedererstarkte japanische Gesellschaft
war das beste Bollwerk gegen die Bedro-
hung Nordkorea. Außerdem würden so
seine Truppen gut versorgt werden. Also
holte er die TWI-Spezialisten aus den
USA, gerade jene, die für kleine, tägliche
Schritte zum großen Wandel eintraten.
Und während MacArthur fleißig kleine
Schritte tat, entwickelte die US-Luft-
waffe in Japan ein Programm für das Ma-
nagement und die Überwachung japani-
scher Unternehmen in der Nähe des
Stützpunktes.Man nanntees dasManage-
ment Training Program (MTP) und
packte sämtliche Grundsätze, die De-
ming und seine Kollegen bei Kriegsbe-
ginn entwickelt hatten, in dieses Pro-
gramm. Tausende japanische Führungs-
kräfte absolvierten diesen Kurs.
Die Japaner erwiesen sich als unge-
wöhnlich empfänglich für diese Ideen.
Ihre Industrie war zerstört, sie hatten
nicht genug Ressourcen für einen schnel-
len Wiederaufbau. Und natürlich war
den japanischen Führungskräften klar,
dass ihr Land den Krieg verloren hatte,
weil Amerika Ausrüstung und Technolo-
gievon höhererQualität besaß –alsohör-
ten sie genau zu, als man ihnen erklärte,
wie die USA dies geschafft hatten. Die ei-
genen Mitarbeiter alsRessource für Krea-
tivität und Verbesserung zu betrachten,
den Ideen ihrer Untergebenen ein offe-
nesOhrzuschenken, warauch fürjapani-
sche Führungspersönlichkeiten Neuland
(wie in den USA). Doch die Menschen,
die diesen Kurs absolvierten, beschlos-
sen, es einfach zu versuchen. Die Unter-
nehmer, Manager und Vorstandsmitglie-
der schwärmten aus in alle möglichen zi-
vilen Industriezweige und predigten dort
das Evangelium der kleinen Schritte.
In den USA dagegen gerieten Demings
StrategienzurVerbesserungdesProdukti-
onsprozesses weitgehend in Vergessen-
heit, nachdem die Truppen wieder nach
Hause zurückgekehrt waren und die Pro-
duktion wieder in normalen Bahnen ver-
lief.InJapandagegenwurdendieseGrund-
prinzipien Teil der sich herausbildenden
japanischen Unternehmenskultur.

EIN ALTER WEG
Kaizen ist ein uralter philosophischer
Weg, der sich am besten mit einer Aus-
sage aus dem Dao De Jing illustrieren
lässt: „Eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit dem ersten Schritt.“ Ob-
wohl der Kaizen-Weg in einer altehrwür-
digen Tradition verwurzelt ist, liefert er
auch für unser hektisches, modernes
Leben praktische und effektive Problem-
lösungen.

KLEINE SCHRITTE
Kaizen definiert sich auf zweierlei
Weise: 1. Man nutzt kleine Schritte, um
eine Gewohnheit, einen Prozess oder
ein Produkt zu verändern.


  1. Man nutzt kleine Momente, um Inspi-
    ration für neue Produkte und Inventio-
    nen zu finden.


NEUE GEWOHNHEITEN
Mit Kaizen können Sie schädliche Ge-
wohnheiten wie Rauchen oder falsches
Essverhalten ablegen. Und Sie können
positive, neue Gewohnheiten herausbil-
den,wie zum Beispiel Sport zu treiben
oder Ihre Kreativität zu steigern. Auf das
Geschäftsleben angewandt, lernen Sie
mit Kaizen, wie Sie Ihre Mitarbeiter auf
inspirierende Weise motivieren und för-
dern.

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Der Text ist ein Aus-
zug aus dem Buch
„Wie ein kleiner
Schritt Ihr Leben
verändert“ von Robert
Maurer, Finanzbuch-
Verlag, 11,99 Euro,
(ISBN 978-3-95972-
273-5)

KAIZEN – WAS IST DAS? D


Vom Wilden Westen in den Fernen Osten.Die Philosophie der kleinen Schritte gelangte erst nach dem Krieg nach Japan, als General Douglas MacArthur mit seiner Besatzungsmacht
begann, das zerstörte Land wieder aufzubauen. Die Prinzipien wurden dort Teil der Unternehmenskultur, in Amerika gerieten sie wieder in Vergessenheit. Foto: Kazuhiro Nogi/AFP

Einfach
mal
den

Mitarbeitern
zuhören

Man fällt


leicht
in alte
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Viele kleine Schritte


Wenn man etwas grundlegend verändern will, reicht es oft, Bestehendes ein wenig zu verbessern. Wie das geht, machen die Japaner vor


K6 DER TAGESSPIEGEL WEITERBILDUNG NR. 23 931 / SONNABEND, 31. AUGUST 2019


VonRobertMaurer

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