Bild - 31.08.2019

(vip2019) #1
Von T. FLORCZYK,
H.-J. VEHLEWALD
u. D. BISKUP (Fotos)

Gleiwitz – Friedrich Si-
kora (89) hat noch
den Klang der Ansa-
ge im Ohr: „Hier ist der
Reichssender Breslau“,
krächzte es damals aus
den Röhrenradios.
Nur an jenem Abend
des 31. August 1939
war eine andere Stim-
me über den deutschen
Sender zu hören: „Uwa-
ga, tu Gliwice“, schnarrte
es auf Polnisch aus den
Geräten, „Achtung, hier
Gleiwitz! Der Sender ist
in polnischer Hand!“
Es war der Startschuss
für den Überfall Hitlers
auf Polen. Der Beginn
des 2. Weltkriegs. Hitler
selbst spricht am folgen-
den Morgen im Reichs-
tag vom Angriff Polens
auf das Deutsche Reich.
Es folgen die berüchtig-
ten historischen Worte:
„Seit 5.45 Uhr wird jetzt
zurückgeschossen.“
Dorota Jaszczewska
(90) weiß an diesem ers-
ten Kriegsmorgen längst
Bescheid. Bei der 6-Uhr-
Messe hat der Pfarrer
der Gemeinde verkün-
det: „Es ist Krieg!“
„Ich war 10 Jahre
und wusste nichts vom
Krieg“, erzählt Doro-
ta, „doch von diesem
Moment an hatte ich
Angst.“
Gleiwitz, zehn Kilome-

ter von der Grenze zu
Polen entfernt, ist jetzt
Frontstadt. Der Deutsche
Sikora: „Schon Tage zu-
vor fuhren deutsche Sol-
daten in den Dörfern um
Gleiwitz auf.“
Noch in der Nacht
zum 1. September mar-
schieren Hitlers Trup-
pen gen Osten.
DAS MORDEN BE-
GINNT.
Der erste Tote des
Krieges liegt da noch
vor dem Seiteneingang
am Sender Gleiwitz: der
Landmaschinen-Vertre-
ter Franz Honiok († 41).
Tags zuvor hatte ihn die
Gestapo verhaftet, be-
täubt und nach dem
„Überfall“ erschossen
am Sender liegen las-
sen – als „Beweis“ für
polnische Täter.
Die Nazi-Propaganda
wirkt: „Alle haben es da-
mals geglaubt, dass die
Polen die Station überfal-
len hatten“, erinnert sich

Zeitzeuge Sikora. „Erst
lange nach dem Krieg
erfuhren wir die Wahr-
heit: dass es Deutsche
in polnischer Verkleidung
waren, die den Sender
besetzt hatten.“
SS-Führer Reinhard
Heydrich war dennoch
unzufrieden. Er hatte
die Überfall-Lüge ge-
plant, wollte den Glei-
witz-Coup reichsweit im
Radio übertragen. Doch
die Meldung „Sender in
polnischer Hand“ war
gerade mal rund um
Gleiwitz zu hören. Das
SS-Kommando hatte nur
über ein Notfall-Mikrofon
(„Gewitter-Mikro“) funken
können ...
Als Deutschland in den
Untergang marschierte,
hörte der Rest des Rei-
ches: „Fröhliche Volks-
musik mit dem Kreis-
musikzug der NSDAP
Lauban/Lausitz“ und
dem „Zitherduo Rosl
und Toni Wölscher“.

Von HANS-JÖRG
VEHLEWALD

BILD: Herr Präsident,
was bedeutet der


  1. September 1939
    für Sie persönlich?
    Andrzej Duda:Andrzej Duda: „Für mei-
    ne Familie bedeutete
    der Krieg den völligen
    Zusammenbruch! Die El-
    tern meiner Mutter verlo-
    ren ihr gesamtes Vermö-
    gen, Haus und Hof. Ihnen
    ist nichts geblieben. Der
    Onkel meines Vaters wurOnkel meines Vaters wurOnkel meines Vaters wur--
    de als Partisan bei Tarde als Partisan bei Tarde als Partisan bei Tar--
    now von Deutschen ge-
    fangen genommen und
    zu Tode gefoltert. Er wurzu Tode gefoltert. Er wurzu Tode gefoltert. Er wur--
    de nur 34 Jahre alt. Sein
    Sohn ist erst danach ge-
    boren, wuchs ohne Vater
    auf – aber als Kind eines
    Helden, so sieht das mei-
    ne Familie bis heute.
    Um so beeindrucken-
    der ist das Verhältnis, der ist das Verhältnis,
    das Polen und Deutsche
    heute haben: Wir haben
    uns ausgesöhnt, die Ge-
    schichte überwunden.
    Unser Verhältnis ist ein


Vorbild für die Völker
dieser Welt.“
BILD: Die Solidar-
nosc-Bewegung
läutete 1989 den
Fall der Mauer ein.
80 Jahre Kriegsbe-
ginn oder 30 Jahre
Freiheit – was be-
deutet Polen mehr?
Duda: „Lassen Sie es
mich so sagen: Der
Weltkrieg und seine Fol-
gen endeten für uns Po-
len erst 1989 wirklich.
Heute kann ich mit
ganzem Herzen sagen:
Polen ist frei. Wir ha-
ben die Geschichte nie-
mals vergessen. Aber
Deutschland und Polen
haben sich ausgesöhnt,
ganz und gar.“
BILD: Trotzdem
fordert Polen heute
Reparationen –
nach so vielen
Jahren?
Duda: „Ich halte das für
eine Frage von Verant-
wortung und Moral. Der
Krieg, über den wir heu-
te sprechen, hat in Po-

len gewaltige Schäden
verursacht.“
BILD: Nach polni-
scher Rechnung
geht es um bis zu
850 Milliarden
Euro...
Duda: „Damit befasst
sich unser Parlament
und wird eine Rechnung
vorlegen.“
BILD: Morgen tref-
fen Sie Bundesprä-
sident Steinmeier in
Wielun, der Stadt,
die 1939 als erste
zerstört wurde. Was
erwarten Sie?
Duda: „Erwartungen sind
gar nicht nötig. Präsident
Steinmeier weiß, wie eng
und vertrauensvoll unsere
Beziehung ist. Aber Wie-
lun ist uns beiden wich-
tig. Denn bisher steht vor
allem die Westerplatte
in Danzig als Symbol für
die ersten Kämpfe: Deut-
sche Soldaten griffen pol-
nische Soldaten an, das
war Krieg.
In Wielun war es an-
ders: Die Stadt schlief,
als der Überfall begann als der Überfall begann

Die Stadt schlief,
als der Überfall begann

Die Stadt schlief,

und deutsche Bomber
über sie herfielen. Zivi-
listen wurden zu Tausen-
den in ihren Betten, im

Krankenhaus ermordet.
Ein Zivilisationsbruch. In
dieser Nacht begann
der Massenmord an
Kindern, Frauen, Al-
ten, die den größten
Teil der Opfer Polens
ausmachten. Darum
bin ich Herrn Steinmei-
er sehr dankbar, dass
wir diesen symbolträch-
tigen Ort gemeinsam
besuchen.“
BILD: Ist eine ver-
gleichbare Veran-
staltung heute mit
Russland denkbar?
Duda (lacht) (lacht): „Gewiss „Gewiss
nicht, so lange Russland
nicht die Verantwortung
für den Angriff auf Po-
len im September 1939
als Akt der Aggression
übernimmt. Die Wahrheit
ist: Die Rote Armee marist: Die Rote Armee marist: Die Rote Armee mar--
schierte bereits am 17.
September 1939 in Po-
len ein, als größter Verlen ein, als größter Verlen ein, als größter Ver--
bündeter Nazi-Deutsch-
lands. Im Hitler-Stalin-Pakt
hatten sie die Teilung, die
Zerstörung Polens verein-
bart. Doch bis heute tut
Russland so, als wüssten
sie davon nichts...“
BILD: Sie bieten
den USA ein „Fort
Trump“ an, wenn sie
US-Soldaten in Polen
stationieren. Wäre
auch ein „Fort Mer-
kel“ für deutsche
Truppen denkbar?
Duda: „Wir Polen hätten
gewiss nichts gegen ei-
ne Ausweitung der deut-
schen Präsenz im Rah-

men der Nato. Schon
jetzt gibt es in Stettin
das Nordost-Korps, das
bis vor Kurzem von ei-
nem deutschen Kom-
mandanten geführt
wurde.
Fest steht aber auch:
Die US-Armee ist die
stärkste der Welt. Und
natürlich wünschen wir
uns US-Soldaten an un-
serer Seite, in unserem
Land. Eine dauerhafte
Präsenz amerikanischer
Truppen in Polen wür-
de zur Sicherheit ganz
Europas, auch Deutsch-
lands, beitragen.
Meine geschichtliMeine geschichtli-
che Erfahrung sagt mir: che Erfahrung sagt mir:
Wir brauchen verläss-
liche Partner. Vor Hit-
lers Angriff hatten wir
Beistandsverträge mit
Frankreich und Groß-
britannien geschlossen.
Genutzt haben sie uns
nichts. Weder England
noch Frankreich stand
uns bei, als wir vor 80
Jahren überfallen wurJahren überfallen wurJahren überfallen wur--
den. Hätten England
und Frankreich im Sep-
tember 1939 Deutsch-
land angegriffen, wie es
im Vertrag vorgesehen
war, wäre der Krieg in-
nerhalb einiger Wochen
zu Ende gewesen. Aber
sie haben Polen ausblu-
ten lassen.
Daher unser Wunsch
heute: seriöse Bündnis-
partner, die sich an ihr
Wort halten. Und nicht
flüchten.“

Polens Präsident


Duda fordert


Wiedergutmachung


„Wir


werden eine


Rechnung


vorlegen“


Aachen – Kurz vor der
Entbindung verschwand
die hochschwangere Lau-
ra (14) vor sechs Tagen
aus dem Kreißsaal des
Aachener Uniklinikums.
Die Polizei fahndete mit
Hochdruck nach dem
Mädchen, das in der Ju-
gendpsychiatrie des Klini-
kums untergebracht war.
Jetzt fanden die Beam-
ten Laura nach Zeugen-
hinweisen bei einem Be-
kannten. Ihr Baby ist noch
nicht auf der Welt.

Völklingen – Er wollte sich
offenbar wie der Patien-
tenmörder Niels Högel
(42, 85 Opfer) als Held
aufspielen! Jetzt konnte
die Polizei den Pfleger
Daniel B. (27) nach drei
Jahren Ermittlungsarbeit
durch Obduktionsergeb-
nisse ehemaliger Patien-
ten überführen: Er soll
zwischen März 2015 und
März 2016 Schwerstkran-
ken in den Völklinger
Saar-Kliniken Überdosen

ken in den Völklinger
Saar-Kliniken Überdosen

ken in den Völklinger

Schlafmittel verabreicht
haben, um sie danach
zu reanimieren. Fünf Pa-
tienten starben.

Oxford – Eine
Hormontherapie
zur Linderung
von Wechseljah-
resbeschwerden
erhöht das Brust-


krebsrisiko von
Frauen – und
zwar noch Jah-
re nach dem En-
de der Therapie.
Das berichtet

ein internatio-
nales Forscher-
team nach der
Auswertung von
58 Studien. Die
Experten raten

zu hormonfreien
Therapien bei
der Behandlung
von Beschwer-
den während der
Menopause.

Vermisste


Schwangere (14)


ist wieder da


Hormontherapien erhöhen das Brustkrebsrisiko


BILD DEUTSCHLAND • 31. AUGUST 2019 SEITE 7


Von T. FLORCZYK,
H.-J. VEHLEWALD

. D. BISKUP (Fotos)


ter von der Grenze zu
Polen entfernt, ist jetzt
Frontstadt. Der Deutsche

Zeitzeuge Sikora. „Erst
lange nach dem Krieg
erfuhren wir die Wahr

„Seit 5.45 Uhr wird

jetzt zurückgeschossen“


Vor 80 Jahren begann Hitler den 2. Weltkrieg. BILD in Gleiwitz, dem Ort, wo alles anfing


Polens Präsident
Andrzej Duda (47)
im Gespräch mit
BILD-Reporter
Hans-Jörg
Vehlewald (l.)

Überfall: Soldaten der Wehrmacht
räumen bei Danzig einen Grenz-
Schlagbaum beiseite (die Szene wurde
für Propaganda-Zwecke gestellt)

Friedrich Sikora (89)
im Funkraum des
Senders Gleiwitz,
der heute ein
Museum ist. Der
Deutsche lebt bis
heute in Gleiwitz,
im Schatten des
Sendeturms


  1. September 1939:
    Hitler verkündet
    im Reichstag den
    Krieg gegen Polen


Dorota Jaszczewska (90) im
Gleiwitzer Sender. Die Nazis
hatten einen polnischen
Überfall auf den Sender

hatten einen polnischen
Überfall auf den Sender

hatten einen polnischen

vorgetäuscht – als
Vorwand für
ihren Angriff

Fotos: DANIEL BISKUP, ADN-BILDARCHIV/ULLSTEIN, AKG-IMAGES/EPD-BILD

Pfleger soll


schwerstkranke


Patienten


ermordet haben

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