Der Spiegel - 24.08.2019

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uhig flog die Boeing 777 von Air
Canada hoch über dem Pazifik.
Die Nacht war wolkenlos. Viele
Passagiere schliefen, manche standen in
den Gängen, andere schauten
Filme. Die Anschnallzeichen
leuchteten nicht.
Dann passierte es.
Ohne jede Warnung fiel das
Flugzeug viele Meter tief.
Menschen schrien. Bücher,
Laptops, Handys, Getränke -
flaschen flogen wie Geschosse
durch die Luft – und ebenso
Passagiere, die nicht ange-
schnallt waren. Viele knallten
mit dem Kopf gegen die Kabi-
nendecke und stürzten so-
gleich wieder hinunter auf
Sitze oder andere Fluggäste.
So plötzlich der Horror
begonnen hatte, so plötzlich
hörte er wieder auf. Aber die
Kabine sah hinterher aus wie
ein Schlachtfeld: Die Be -
satzung musste sich um blu-
tende, weinende und scho-
ckierte Menschen kümmern.
Sauerstoffmasken baumelten
von der Decke. Von den 269
Passagieren waren 37 verletzt,
manche davon schwer. Um
sie zügig ins Krankenhaus
zu bringen, entschied der
Kapitän, den Flug von Van -
couver nach Sydney abzubre-
chen und stattdessen nach
weiteren zwei Stunden Flug-
zeit in Honolulu auf Hawaii
zu landen.
Was den kanadischen Jet da am 11. Juli
bei scheinbar bestem Flugwetter gebeutelt
hatte, war ein Fall von »Clear Air Turbu-
lence«, kurz CAT genannt. Es gibt viele
Gründe, warum Flugzeuge manchmal
unangenehm rütteln und schütteln – aber
so gefürchtet wie die sogenannte Klarluft-
turbulenz ist sonst keiner.
Das Tückische daran: Kein Pilot, Radar,
Satellit oder Meteorologe kann eine CAT
vorhersagen. Die Turbulenz kommt aus
dem Nichts.


Vor Air Canada hatte die CAT an jenem
Julitag bereits einem anderen Flieger zu-
gesetzt – einem Airbus A380 der Flugge-
sellschaft Emirates. Die Riesenmaschine
war tags zuvor in Neuseeland gestartet.
Etwa drei Stunden vor der Landung in
Dubai sackte der Jet ohne Vorwarnung ab.
Passagiere, die nicht angeschnallt waren,
wurden von ihren Sitzen gerissen; viele
von ihnen krachten ebenfalls mit dem
Kopf gegen die Kabinendecke und verletz-
ten sich. In sozialen Netzwerken kursiert
ein Video, das eine Szenerie wie nach ei-
nem Erdbeben zeigt: umgestürzte Trolley-
wagen in den Bordküchen, die komplett
verwüstete Bar der Businessclass.
In Zukunft, so sagt es jetzt der Atmo-
sphärenforscher Paul Williams von der
University of Reading voraus, dürfte dieses

Phänomen wesentlich häufiger vorkom-
men – denn der Klimawandel wirkt nicht
nur am Boden, sondern in spezieller Weise
auch in der Höhe.
Ein CAT-Ereignis, unter Passagieren irre -
führend als »Luftloch« bekannt, kann ent-
stehen, wenn oberhalb von 6000 Meter
Höhe Luftmassen einander passieren, die
mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten
unterwegs sind. Das geschieht besonders
oft im Bereich der Jetstreams – jener Stark-
windbänder in der Troposphäre, die sich

über den mittleren Breiten oder auch den
subtropischen Gebieten von West nach
Ost bewegen.
Für Passagiere ist besonders der Polar-
frontjetstream eigentlich ein willkomme-
ner Flugbegleiter: Vor allem im Winter
gibt er den Maschinen auf vielen Routen
Rückenwind und verkürzt so die Flugzeit
zum Beispiel von Chicago nach Frankfurt
manchmal um zwei Stunden.
Wegen des Klimawandels allerdings
neigt der Jetstream seit einiger Zeit zum
Schlingern. Er bewegt etwa Wettersysteme
über Europa oft nicht mehr so schnell fort
wie zuvor, weswegen es vermehrt zu ver-
harrenden Wetterlagen kommt, wochen-
lang Sonne etwa oder wochenlang Regen.
Außerdem, so berichtet Forscher Wil-
liams, werde der Jetstream aufgrund des
Klimawandels immer unruhi-
ger: Seine Windgeschwindig-
keiten in den verschiedenen
Höhen unterscheiden sich zu-
sehends stärker. Seit Beginn
der Erhebung von Satelliten-
daten im Jahr 1979, so schreibt
Williams im Wissenschaftsma-
gazin »Nature«, haben die ver-
tikalen Windscherungen in
der typischen Reiseflughöhe
über dem Nordatlantik um
rund 15 Prozent zugelegt.
Schon jetzt liegt das Risiko für
turbulente Transatlantikflüge
also höher als früher.
Und dieses Risiko wird wei-
ter steigen, vor allem wenn
die Menschheit den CO
²
-Aus-
stoß nicht massiv begrenzt.
Williams hat berechnet, wie
sich das Flugwetter ändert,
wenn die Emissionen unge-
bremst anhalten. Ergebnis: In
der Zeit nach 2050 werde sich
die Zahl der besonders starken
CAT- Ereignisse in großer
Höhe mehr als verdoppeln. Be-
sonders ungemütlich werde es
über Europa und noch mehr
auf Transatlantikflügen.
So weit die schlechten
Nachrichten. Hier noch eine
gute: Weltweit arbeiten For-
scher an neuen lasergestützten
Instrumenten, die vor schwe-
ren Turbulenzen warnen. Immerhin
etwa eine Minute vor Beginn der Rüttelei
sollen sie Alarm geben – Zeit genug,
um von der Warteschlange vor der Toi -
lette zum Sitz zu rennen und sich an zu -
schnallen. Denn der Gurt wird auch in
Zukunft für Passagiere und Crew-Mit -
glieder der beste und der einzige Schutz
bei Clear Air Tur bulence sein.
Marco Evers
Mail: [email protected]

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Wissenschaft

Schlingernde


Jetstreams


LuftfahrtSchwere Turbulenzen


sind eine Qual für Passagiere und


Flugzeuge. Die Rüttelei
wird in Zukunft stark zunehmen


  • wegen des Klimawandels.


SHUTTERSTOCK
Herausgefallene Sauerstoffmasken in einem Flugzeug
Szenerie wie nach einem Erdbeben
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