Der Spiegel - 24.08.2019

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Kultur

D


ie Bilder berühren auch vier Jahre
später noch. Wie große Gruppen
von Flüchtlingen am Budapester
Ostbahnhof aufbrechen, um über die Au-
tobahn nach Westen zu marschieren, nach
Österreich, nach Deutschland. Und es ist
kein kleines Verdienst der ZDF-Doku -
fiktion »Stunden der Entscheidung«, dass
sie mit Mohammad Zatareih einen der
Männer, die diesen Marsch organisierten,
ins Zentrum rückt – es war eben kein bib-
lischer Exodus, der sich am 4. September
2015 in Richtung deutsche Grenze beweg-
te, auch wenn es so wirken konnte. Son-
dern es waren entschlossene Menschen,
Individuen, die einer verzweifelten Situa-
tion entkommen wollten. Und dies mit
Mut und Disziplin auch schafften.
Es mag dem historischen Abstand zum
sogenannten Flüchtlingssommer geschul-
det sein, dass dieser Film nun gesendet
wird, die ARD arbeitet an einem ähnlichen
Projekt. Aber es passt, dass »Stunden der
Entscheidung« so kurz vor den ostdeut-
schen Landtagswahlen läuft. Die AfD wird
aller Voraussicht nach triumphieren. Und
ihr Aufstieg ist von der Flüchtlingspolitik
befeuert worden wie durch kein anderes
Thema. Ein Riss geht seit jenem Sommer
durch Deutschland, ein Kampf der Erzäh-
lungen über die Wahrheit jener Tage. Mit
dem ZDF legt nun eines der Häuser, die
die neue Rechte als »Staatsfunk« diffa-
miert, seine Geschichte vor. Der Regisseur
ist Christian Twente; der Leiter des Berli-
ner Büros der »Zeit«, Marc Brost, hat am
Buch mitgeschrieben. Ein Dokudrama, in
dem nachgestellte Szenen neben Original-
filmaufnahmen und aktuellen Interviews
mit einigen der im Sommer 2015 handeln-
den Personen stehen, etwa mit Thomas de
Maizière, damals Bundesinnenminister.
Der Film wird den Streit nicht befrieden.
Der Grund ist einfach: »Stunden der Ent-
scheidung« erzählt nur vom 4. September.
Die Geschichte ist allerdings wirklich
gut. Zwei Helden gibt es: die Kanzlerin,
die an jenem Freitag erst morgens von Ber-
lin nach Bayern fliegt, von dort nach Essen,
dann nach Köln und schließlich zurück in
die Hauptstadt. Routine eigentlich, Termi-


Sendetermin: Mittwoch, 4. September, 20.15 Uhr, im ZDF.


ne, aus denen der Kanzlerinalltag besteht.
Nur dass sie an diesem Tag nebenbei ver-
suchen muss, eine Lösung für die Lage zu
finden, in die sie vom ungarischen Minis-
terpräsidenten Viktor Orbán gebracht
worden ist, der die Flüchtlinge als Druck-
mittel einsetzt. Der andere Held ist Zata-
reih, ein syrischer Flüchtling, der es über
die Balkanroute nach Ungarn geschafft hat
und nun in Budapest feststeckt – und
schließlich den »Marsch der Hoffnung«
mit initiiert.
Merkel wie Zatareih handeln beide um-
sichtig und verantwortungsbewusst, wer-
den von den Umständen getrieben und
versuchen trotzdem, Herr ihres eigenen
Handelns zu bleiben. Zatareih (in den fik-
tionalen Szenen gespielt von Aram Arami)

ist auch einer der Zeitzeugen, die der Film
erzählen lässt, er lebt heute in Deutsch-
land. Merkel wird – brummelig und bo-
denständig – von Heike Reichenwallner
verkörpert, in den alten Aufnahmen jenes
Tages wirkt die Kanzlerin dagegen auffal-
lend gut gelaunt und fast glücklich. Und
am Ende finden beide zusammen. Zata-
reih führt seine Leute nach Österreich und
weiter nach München, wo sie am Bahnhof
mit Jubel empfangen werden. Merkel löst
alle politischen Probleme, die dem hätten
entgegenstehen können.
Das Problem: Es ist nur die halbe Ge-
schichte. Wenn es dabei geblieben wäre,
wenn die Bundesrepublik sich in jenen
Tagen darauf beschränkt hätte, einige
Zehntausend Menschen aufzunehmen –
Deutschland wäre heute wahrscheinlich
ein anderes Land. Dass an jenem Wochen-
ende eine Notlage herrschte, dass es rich-
tig, klug, menschlich und mutig war, die

Flüchtlinge aufzunehmen, wäre den Deut-
schen sicher vermittelbar gewesen.
Aber so kam es nicht. In Wirklichkeit
bestand der Flüchtlingssommer 2015 auch
aus dem nächsten Wochenende. Als die
Möglichkeit im Raum stand, die Grenze
für Asylbewerber zu schließen. Pläne für
diesen Schritt lagen vor – Merkel ent-
schied sich dagegen. Sie hatte gute Gründe
dafür. Es gab Bedenken, ob die rechtliche
Lage das wirklich erlaubte. Sie glaubte,
die Deutschen würden die Gewalt nicht
akzeptieren, die mit so einem Schritt ver-
bunden gewesen wäre, Bilder deutscher
Grenzschützer, die Flüchtlinge zurückge-
drängt hätten, Menschen, die mit Merkel-
bildern in den Händen zu uns wollten. Es
wurden also Grenzkontrollen eingeführt –

doch Asylbewerber durften ins Land. So
musste die Kanzlerin in Kauf nehmen,
dass zunächst Menschen mehr oder weni-
ger unkontrolliert ins Land kamen – und
dieses Gefühl des Kontrollverlusts ist es,
das seitdem nicht nur die Rechte befeuert,
sondern auch weite Teile des konservati-
ven Spektrums in der Union befremdet
hat. Das Gefühl, in einem Staat zu leben,
der Teile seiner Souveränität aufgibt, ist
der Kern des Aufstiegs der Rechten.
Dagegen hilft nur eine große gesamtge-
sellschaftliche Gesprächstherapie. »Stun-
den der Entscheidung« macht dafür ein
Angebot: Der Film erzählt vom 4. Septem-
ber als dem Tag, an dem Deutschland eine
Bewährungsprobe bestanden hat. Und
von einem neuen Wir, das daraus hätte
entstehen können und vielleicht noch ent-
stehen wird. Im Augenblick sieht es leider
nicht danach aus. Tobias Rapp

Gesprächs -


therapie


FernsehenEin ZDF-Film erzählt
von dem Tag im Jahr 2015,

an dem Kanzlerin Angela Merkel


die Grenzen nicht schloss.


HANS-JOACHIM PFEIFFER / ZDF
Darstellerin Reichenwallner in »Stunden der Entscheidung«: Routine, eigentlich
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