Der Spiegel - 24.08.2019

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deutschland«, nur 2 Prozent gaben den
Osten an. In den neuen Ländern, so das
Fazit der Demoskopen, verstärke sich das
Empfinden, abgehängt zu sein.
Die AfD nutzt die schlechte Stimmung
im Osten in nahezu perfekter Weise. Als
einzige Partei wettert sie vehement in den
Landtagen gegen die Flüchtlingspolitik der
Regierung und suggeriert so, der wahre In-
teressenvertreter der ängstlichen Ostdeut-
schen zu sein. Sie zieht eine Parallele zwi-
schen dem Wendejahr 1989 und den
Flüchtlingsprotesten heute und setzt im-
plizit die Regierung Merkel mit dem zum
Rücktritt gezwungenen SED-Regime gleich.
Die AfD wirbt in beiden Ländern mit den
Slogans: »Vollende die Wende« und »Wen-
de 2.0«.
Die Resonanz, die diese Botschaften fin-
den, verschreckt die Westdeutschen, die
mit ihren Billionen für die Landschaftspfle-
ge in den neuen Ländern doch alles richtig
gemacht zu haben glaubten. Bei genauer
Beobachtung hätten sie es besser wissen
können. Doch Platzeck, der auch der von
der Bundesregierung eingesetzten Kom-
mission »30 Jahre Deutsche Einheit« vor-
steht, erkennt in der alten Bundesrepublik
»ein Desinteresse am Osten«.

Der Hallenser PsychoanalytikerHans-
Joachim Maaz ahnte schon kurz nach der
Wende, dass Südfrüchte und die D-Mark
allein den Osten nicht heilen würden. 1990
erschien sein Buch »Der Gefühlsstau«. Es
war ein ernüchterndes Psychogramm der
DDR, wurde ein Bestseller und wirkt aus
heutiger Sicht hellsichtig. Als die Men-
schen noch freudetrunken schwarz-rot-
goldene Fahnen schwenkten, hatte der
Mediziner bereits psychische Folgen der
Wende bei den Ostdeutschen ausgemacht:
Er diagnostizierte diffuse Ängste, reale
Ängste aus sozialen Bedrohungen und
»akti vierte neurotische Ängste«.
Nach Einschätzung von Maaz hatten die
einstigen DDR-Bürger Angst vor dem Ver-
lust ihres Arbeitsplatzes, vor dem Ende der
sozialen Sicherheit, vor dem Verlust ihrer
Ersparnisse. Angst vor Konkurrenzkampf,
vor Autoritätsmangel, vor steigender Kri-
minalität, vor sozialen Feindseligkeiten.
Angst vor dem neuen Gesellschaftssystem.
Dies alles war oft furchtbar real. In der
DDR gab es angeblich nicht einen Einwoh-
ner ohne Job. Schon ein Jahr nach der Ver-
einigung hatte der Osten mehr als eine Mil-
lion Arbeitslose.
Die Neurosen machten die Stimmung
nicht besser. Maaz beschrieb persönlichere
und deshalb vielleicht noch wichtigere
Ängste. Angst vor der Freiheit, selbst Ent-
scheidungen treffen zu können, aber auch
zu müssen, Angst vor Eigenständigkeit,
Angst vor Veränderung.
Doch im Osten war das ganze Leben
plötzlich eine einzige Veränderung. Nach

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MARCEL MAFFEI / DER SPIEGEL
Wahlkampfveranstaltung der AfD im brandenburgischen Plessa

JENS GYARMATY / DER SPIEGEL

Rentner Radecki vor seinem Gemüsestand im brandenburgischen Seehausen


»Heute muss jeder nach sich selbst schauen,
um zu überleben.«
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