Der Spiegel - 24.08.2019

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Ende der Selbstzufriedenheit


LeitartikelDie deutsche Politik braucht neue Projekte und mehr Leidenschaft.


D


ie Jahre der deutschen Selbstzufriedenheit waren
schön, aber sie sind vorbei. Sie dauerten fast so
lange wie die Kanzlerschaft von Angela Merkel.
Sie waren geprägt vom Gefühl schier endlosen
wirtschaftlichen Erfolgs und vom Stolz auf die wichtige
Rolle, die Deutschland in der Welt einnahm. Vor drei Jah-
ren wurde es während des Davoser Weltwirtschafts forums
zum »besten Land der Welt« erklärt, in Europa war die
Rede vom »Deutschen Modell«, als Vorbild für andere. Als
Donald Trump in den USA zum Präsidenten aufstieg,
glaubten manche, dass Merkel nun die Rolle der Anführe-
rin der freien Welt einnehmen werde. Die Wirtschaft wirk-
te unerschütterlich, die Rolle Merkels in der Welt ebenso.
Beides stimmt nicht mehr.
Und wie jeder, der aus einer
Täuschung erwacht, müssen
sich nun auch die Deutschen
der Tatsache stellen, dass es
seit Langem Warnzeichen gab.
Das Land ist seiner Selbst -
zufriedenheit zum Opfer gefal-
len. Und einer Politik, die
eine historische Ausnahme -
situation nur verwaltet hat,
anstatt die Zukunft zu gestalten.
Zwar weiß niemand, ob das
Land in diesem Jahr wirklich –
wie von vielen Ökonomen
befürchtet – nach zehn Jahren
des Aufschwungs in eine Rezes-
sion geraten wird. Aber das
Wachstum schwächelt, Deutsch-
land wirkt wirtschaftlich plötz-
lich verwundbar. Außenpoli-
tisch sieht es auch nicht gut aus.
Deutschland ist zum Lieblings-
feind des mächtigsten Mannes der Welt geworden: Donald
Trump wird die EU wohl mit Autozöllen bestrafen und
damit besonders den Deutschen schaden. Trump sieht in
Deutschland ein Land der Egoisten, weil es einen hohen
Exportüberschuss hat und zu wenig für die Verteidigung
ausgibt.
Trump ist selbst ein Nationalist und Egoist und deshalb
als Kritiker nicht besonders glaubwürdig. Seine Angriffe
haben wegen seines Amtes dennoch Gewicht. Zudem wie-
derholt er – grotesk verzerrt – vieles von dem, was ernster
zu nehmende Politiker und Experten seit Jahren kritisieren:
dass Deutschland sich von internationalen Militäreinsätzen
fernhält und gleichzeitig für globale Verzerrungen im Han-
del sorgt, weil es sich vor lauter Exportstolz und »schwarzer
Null« wenig dafür interessiert, die Binnennachfrage anzu-
kurbeln – und damit das Wachstum in Europa. Weil Berlin
in der Eurozone eine Politik der Sparsamkeit forcierte,

anstatt in Zeiten des Wachstums mehr in Infrastruktur
und Innovation zu investieren. Diese Kritik, besonders
deutlich vom US-Nobelpreisträger Paul Krugman vor -
gebracht, ließ die Bundesregierung jahrelang selbstgewiss
an sich abtropfen. Der Laden lief ja. Man glaubte
die Bewunderung und ignorierte die Gegenstimmen.
Es gab in der Merkel-Ära keine Projekte, die mit
Entschiedenheit und Leidenschaft über lange Zeit verfolgt
wurden. Das Land ist bräsig geworden.
Ein anderes Problem ist, dass sich Deutschland nach wie
vor nicht als internationale Macht mit einer entsprechen-
den Verantwortung sieht. Auch das muss sich ändern. Die
Bundesrepublik braucht einen Gestaltungswillen für die
deutsche Rolle in der Welt,
politisch und wirtschaftlich.
Dazu gehört erstens die Ein-
sicht, dass Deutschland zu groß
ist, um in der Weltpolitik eine
Art Schweiz zu sein, und nicht
nur mit Schweigen antworten
kann, wenn Frankreichs Präsi-
dent vorschlägt, mit Deutsch-
land zusammen die EU zu
reformieren. Zu einer glaubwür-
digen Außenpolitik gehört es,
internationale Zusagen einzu-
halten, in seine Verteidigung zu
investieren und mehr als ein
Trittbrettfahrer der USA zu
sein. Nur so kann sich Berlin
vom Vorwurf befreien,
auf fremde Kosten zu leben.
Zweitens muss sich die Bun-
desregierung auf eine neue
wirtschaftliche Realität ausrich-
ten, in der Exportstolz nicht
mehr ausreicht. In vielen Teilen Deutschlands funktioniert
das mobile Internet nur lückenhaft, weder der Mittelstand
noch die großen Konzerne sind hinreichend auf die digitale
Transformation und künftige vernetzte Produktionsmetho-
den ausgerichtet. Deutschland muss deshalb investieren in
Technologien, Netze, es braucht ein neues Projekt, aus
dem in den nächsten Jahren eine neue deutsche Wirt-
schaftswundergeschichte entstehen könnte, zum Beispiel
eine wirkliche Energiewende.
Dafür braucht es Ideen, aber auch Geld. Deshalb gehört
dazu auch ein Abschied von der Leitlinie der schwarzen
Null. Sie diente der Regierung bisher wirtschafts- und
sicherheitspolitisch als bequeme Ausrede. Doch die Jahre,
in denen eine Verwaltungsmentalität ausreichte, um dem
Land das Gefühl immerwährenden Erfolgs zu verleihen,
sind vorbei. Das Land braucht mehr Investitionen, und es
braucht Leidenschaft.Mathieu von Rohr

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DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019

D. AYDEMIR / ABACA / DDP
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