Der Spiegel - 24.08.2019

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Industriestadt im Ural. Als Ende der Acht-
zigerjahre der Eiserne Vorhang fiel und Ju-
den die Ausreise nach Israel erleichtert
wurde, immigrierte sie ins Gelobte Land.
Mit tausend Immigranten pro Monat
hatte der jüdische Staat nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs gerechnet. Stattdessen
kamen bis zu tausend am Tag. Die Intelli-
genzija verließ die zerbrechende Sowjet-
union in Scharen – doch für die vielen Aka-
demiker gab es in Israel keine Arbeit. In-
genieure schufteten als Lastenträger, Ärzte
standen an der Supermarktkasse. Und Ella
Regev, studierte Philosophin, putzte die
Toiletten in einem Tel Aviver Museum.
Von den Einheimischen konnten sie we-
nig Unterstützung erwarten: Obwohl man
sie ermutigt hatte, nach Israel auszuwan-
dern, wurden »die Russen« oft kritisch be-
äugt. Die Männer, so lästerten viele Israe-
lis, hätten Kriminalität ins Land gebracht,
die Frauen Prostitution und Unsitte. In der
Sowjetunion rief man Menschen wie Ella
Regev »Judenschweine«, wie sie erzählt.
Hier hießen sie nun »dreckige Russen«.
Viele Immigranten bemühten sich nach
Kräften, diese Meinung zu widerlegen. Sie
wollten sich anpassen, sie wollten Israelis
werden. Drei Dinge mussten sie dafür tun:
Hebräisch lernen, hart arbeiten – und ihre
Loyalität zur neuen Heimat beweisen. So
wurden viele »Russen« zu den glühends-
ten Patrioten in einem Land, das sie gerade
erst betreten hatten.
Gleichzeitig konnten viele Einwanderer
ihre sowjetische Erziehung nie ganz able-
gen. Bis heute sehnen sich viele »Russen«
nach einer starken Führung. Sie fanden sie
in Avigdor Lieberman.
Lieberman, Einwanderer aus der heu-
tigen Republik Moldau, gründete 1999 die
Partei »Israel Beitenu« und goss ein Ge-
misch aus Härte und Nationalismus zu
einem Parteiprogramm. Seine Forderun-
gen waren populistisch bis rassistisch: Ein-
mal wollte Lieberman die Siedlungen im
Westjordanland annektieren, ein anderes
Mal sollten die arabischen Israelis einem
Loyalitätstest unterzogen werden. Wäh-
rend einige Linke sich über seine Aus -
sagen echauffierten, feierten viele Rus-
sischstämmige Liebermans Unverfroren-
heit. In der Sowjetunion hatten sie ihre
Ansichten verstecken müssen. Nun sollte
niemand sie daran hindern, ihre Meinung
zu sagen.
Bei der Parlamentswahl 2009 wurde
»Israel Beitenu« dank »der Russen« dritt-
stärkste Kraft. Lieberman stieg erst zum
Außen-, dann zum Verteidigungsminister
auf. Seit Frühjahr dieses Jahres scheint er
einen neuen Plan zu hegen: Lieberman
möchte offenbar Israels Ministerpräsiden-
ten Benjamin Netanyahu stürzen. Und
»die Russen« sollen ihm dabei helfen.
Es ist ein Samstagmorgen im August –
nicht der beste Zeitpunkt für eine politi-


sche Kundgebung. Trotzdem ist der Ver-
anstaltungssaal in Modiin, einer Stadt an
der Grenze zum Westjordanland, bis auf
den letzten Platz gefüllt.
Avigdor Lieberman trägt ein kurzärm-
liges Hemd, er hat gute Laune. Ein späte-
rer Termin ist ausgefallen, Lieberman freut
sich stattdessen auf »Barbecue und Wod-
ka«. Der Politiker wirkt zugänglich, nah-
bar, wie der nette Onkel, der am Kaffee-
tisch scherzt.
Liebermans Sanftmut verfliegt schnell.
»Meine Partei ist die einzig wahre Rechte«,
sagt er. Und an »die Russen« im Saal ge-
richtet: »Netanyahu denkt immer nur kurz
vor der Wahl an euch! Danach hat er euch
sofort vergessen.« Das Publikum belohnt
Lieberman mit tosendem Applaus.
Viele Jahre lang waren Netanyahu und
Lieberman Partner und politische Verbün-
dete. Beide führten rechte Parteien: Ne -
tanyahus Likud wandte sich an das Gros
der Israelis, Lieberman beschaffte ihm mit
den Stimmen russischsprachiger Einwan-
derer die nötige Mehrheit. Ihr Bündnis,
das auch religiöse Parteien einschloss, führ-
te fast zehn Jahre das Land.
Nun ist es damit vorbei. Nach der Wahl
im April verweigerte Lieberman eine Koa -
lition mit seinem einstigen Gefährten. Ne-
tanyahu konnte keine Regierung bilden
und musste Neuwahlen ausrufen.
Lieberman hatte nur 5 von 120 Sitzen
in der Knesset, dem israelischen Parla-
ment, gewonnen. Doch seine Mandate wa-
ren das Zünglein an der Waage, das eine
Koalition möglich machte – oder sie ver-
hinderte. So wird es wahrscheinlich auch
bei der kommenden Wahl im September
sein. Lieberman könnte sogar noch erfolg-
reicher abschneiden als in den Jahren zu-
vor. Denn nach den Palästinensern be-
schwört er nun einen neuen Feind: »die
Religiösen«.
So nennen Lieberman und seine An-
hänger die ultraorthodoxen Juden: jene
Gläubigen, die ihr Leben ausschließlich

der Religion widmen. Viele Ultraorthodo-
xe würden gern ganz Israel unter ihre Ge-
setze zwingen. Einst waren sie eine win-
zige Minderheit. Doch weil die Familien
oft sechs, acht oder zehn Kinder bekom-
men, könnte es bald fast so viele Ultra -
orthodoxe wie Russischstämmige im Land
geben.
Evgenia Wasserstein, 85, akkurat ge-
schminkt, dunkle, gelegte Haare, sitzt in
der dritten Reihe, als Lieberman in Mo-
diin auftritt. Sie hat früher auch für Ne -
tanyahu gestimmt, doch dieses Mal wird
sie ihr Kreuz bei Lieberman setzen. »Er
ist der Einzige, der den Religiösen entge-
gentritt.«
Wenn Wasserstein samstags durch ihren
Wohnort Modiin geht, sind die Straßen
leer. Geschäfte haben geschlossen, Busse
fahren nicht. Es ist Schabbat, der jüdische
Ruhetag. Für die alte Dame ist es ein Tag
wie jeder andere.
Wasserstein stammt wie Lieberman aus
dem heutigen Moldau, 1973 kam sie nach
Israel. Als sie in Tel Aviv landete, hatte
die promovierte Chemikerin noch nie eine
Synagoge besucht oder koscher gegessen.
»Religion wurde uns in der Sowjetunion
ausgetrieben«, sagt Wasserstein. Bis heute
ist ihr alles Sakrale suspekt.
In seinen Anfängen war auch Israel ein
säkulares Land. Aber es hat sich gewan-
delt. Die Ultraorthodoxen sind eine starke
politische Kraft geworden. Sie fordern,
dass alle Geschäfte landesweit an Samsta-
gen schließen, und stemmen sich dagegen,
dass die Zivilehe eingeführt wird. Aktuell
dürfen nur beglaubigte Juden in Israel hei-
raten. Doch viele russischsprachige Ein-
wanderer gelten nach den Regeln der Rab-
biner nicht als Juden, weil sie keinen Nach-
weis über ihre Herkunft besitzen oder ihre
Mutter keine Jüdin ist.
»Ich bin nach Israel gekommen, um frei
zu sein«, sagt Wasserstein. Nun fühle es
sich manchmal so an, als wolle man ihr
die Religion aufzwingen.
Die Russischstämmigen sind statistisch
gesehen nicht nur rechter als die durch-
schnittlichen Israelis. Sie sind auch weniger
religiös. Sie ärgern sich darüber, dass die
Ultraorthodoxen keinen Wehrdienst leis-
ten müssen, aber Geld für ihr Torastudium
bekommen.
Früher bekämpften Lieberman und »die
Russen« vor allem die Palästinenser. Nun
will Lieberman Israel wieder säkularer ma-
chen. Und nebenbei Netanyahu loswer-
den, dem er vorwirft, mit den Ultraortho-
doxen zu paktieren.
Auch bei seinem Auftritt in Modiin gibt
sich Lieberman als Vorkämpfer der Frei-
heit. Wer ihn wähle, bekomme eine Regie-
rung der Vernunft. »Alle anderen Parteien
sind verrückt«, sagt Lieberman. »Sie wol-
len euch den Messias bringen.« Evgenia
Wasserstein nickt heftig. Im September

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 87

CORINNA KERN / DER SPIEGEL
Einwanderin Wasserstein
»Nach Israel gekommen, um frei zu sein«
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