Der Spiegel - 24.08.2019

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Auf Kittels Homepage erscheint ein
»Statement zu meiner Zukunft«. Daneben
ist ein Foto von ihm, es zeigt ihn im Trai-
ningslager im Januar auf Mallorca. In ei-
nem hellblauen Katusha-Alpecin-Trikot
schaut er aufs Meer, in seiner rechten
Hand hält er seinen Fahrradhelm. »Von
nun an werde ich mein Glück und meine
Freude über alles stellen«, schreibt er.
Zwei Wochen nach dem Treffen in dem
Café sitzt Kittel auf einem Sofa in seiner
Wohnung im schweizerischen Kreuzlingen.
Große Fenster geben den Blick auf den Bo-
densee frei. Davor stehen zwei Fahrräder.
Mit einem ist er 2014 auf den Champs-Ély-
sées ins Ziel gefahren. Nur hier und da ste-
hen Pokale auf Sideboards, an den Wän-
den hängen vor allem Bilder seiner Familie
und Freunde. Seit April wohnt Kittel hier
mit seiner Freundin Tess von Piekartz, 27,
einer niederländischen Volleyballspielerin.
Im November erwarten sie ihr erstes Kind.
»Sie ist der Mensch, bei dem ich so sein
kann, wie ich bin«, sagt Kittel.
Er versucht zu beschreiben, wie er sich
dafür entschieden hat, ganz mit dem Sport
aufzuhören. »Es war ein langer Prozess«,
sagt er. »Und um das noch mal klar zu sa-
gen: Meine Erfahrung bei Katusha war
nicht der Grund, aber der Anstoß, darüber
nachzudenken, was mir wichtig ist.«


Wäre es nur ein Karrieretiefgewesen, hät-
te er es womöglich überwunden. So wie
2015 schon einmal. In dem Winter war er
viel gereist, krank geworden. Als er im
März auf Mallorca wieder ins Training ein-
steigen wollte, habe er Tage gehabt, an
denen er zehn Kilometer gefahren sei.
»Dann habe ich geheult und bin wieder um-


gedreht«, sagt er. »Da hatte der Erfolgsver-
wöhnte eine richtige Scheißphase«, sagt er.
Es ist das einzige Mal, dass er zynisch klingt.
Kittel steht auf, holt ein schwarzes Tage -
buch, liest einen Eintrag vom 26. März
2015 vor, in dem er beschreibt, wie es ihm
an jenem Morgen ergangen war. »Ich bin
mit den anderen gestartet, wollte dann
aber gleich meinen eigenen Weg fahren.
Ich biege also nach zwei Kilometern ab,
und dann war es wie verhext. Als ob jede
Energie aus mir raus war.« Seine Augen
fliegen über die folgenden Zeilen, sie füllen
sich mit Tränen. Kittel klappt das Buch zu,
er mag nicht weiterlesen. »Da war einen
Monat lang richtig das Licht aus.«
Mithilfe einer Psychologin rappelt er
sich auf. Doch die Frage, »Warum mache
ich das eigentlich?«, tauchte danach immer
mal wieder auf. 2016 und sogar in seinem
absoluten Erfolgsjahr 2017, in dem er fünf
Etappen bei der Tour gewann. »Danach
war die Haut auch ganz dünn«, sagt er.
Mit Anfang dreißig starten viele Renn-
fahrer erst richtig durch. Viele fahren dann
noch fünf, manche sogar acht Jahre. Er
sei ein Extremist, sagt Kittel über sich. »In-
sofern habe ich mir meinen Sport kom-
plett reingezogen. Da gab es nicht viel
links und rechts. Familie, Freunde, alles
kam zu kurz. Dazu die permanente Mü-
digkeit und die Routine. Ich habe diesen
Verlust an Lebensqualität immer mehr
realisiert«, sagt er.
Hinzu komme der mentale Stress bei
den Rennen. »Du hängst die ganze Zeit
wie ein Halbtoter mit brennenden Beinen
und eklig hohem Puls auf deinem Rad und
guckst auf deinen Vorderreifen«, sagt er.
»Wenn du da weich im Kopf wirst, denkst,

was wäre es jetzt schön, am Strand zu lie-
gen, dann bist du schon verloren.«
Im April sei er dann gedanklich das ers-
te Mal über diese Mauer geklettert: Was,
wenn ich ganz aufhöre? Ein Angstmoment
sei das gewesen, sagt Kittel. Denn in dem
Moment sei ihm klar geworden, dass er
beginnt, seinen Sport loszulassen und da-
mit auch einen Teil seiner Identität.
Alles auf null.
Er sucht Gespräche mit Menschen, die
nichts mit Sport zu tun haben und Neu -
anfänge gewagt haben, darunter ein Res-
taurantmanager in Paris. Aber auch der
Sänger Clueso, der sich 2015 von seiner
Band trennte und dann das Album »Neu-
anfang« veröffentlichte.
Fast alle hätte ihm geraten, seinem Her-
zen zu folgen. Und das, sagt Kittel, sage
ihm auch, dass er bei seinem Kind sein
möchte. »Als Radfahrer bist du 200 Tage
im Jahr unterwegs. Ich möchte meinen
Sohn nicht über Skype aufwachsen sehen.«
Er hat sich an der Uni in Konstanz für
Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben.
»Mich hat es immer ein bisschen gegrämt,
dass ich mein Informatikstudium nicht
fertiggemacht habe«, sagt er. Kommende
Woche wird er zwei Etappen der Deutsch-
land-Tour fürs ZDF kommentieren.
Das Korsett aus Training, Reisen und
Rennen ist weg, ein normaler Alltag hat
sich aber bislang nicht in Kittels neuem
Leben eingestellt. »Mit nichts konfrontiert
zu sein macht mich manchmal unruhig,
rastlos«, gesteht er.
Kittel steht vom Sofa auf, schnappt sich
seinen Haustürschlüssel. Kurz darauf steht
er im Keller. Hinten in der Ecke hängen
fünf Fahrräder. Ein Rennrad für die Straße,
eins fürs Gelände, ein Crossrad, zwei
Mountainbikes. Im Regal liegen Radschuhe
und Helme, Flickzeug und Energy riegel.
In einem Stapel Kisten daneben Souve-
nirs der Tour de France, darunter seine
grünen Trikots in Plastikbeuteln. »Das ist
mein Museum«, sagt Kittel. Die Katusha-
Alpecin-Trikots hat er schon aussortiert.
»Sie haben ihn zerbrochen, seine Lei-
denschaft am Fahren«, sagt sein Vater.
»Ich glaube, er würde noch fahren,
wenn es bei dem Team anders gelaufen
wäre«, bestätigt sein Manager.
»Er hätte noch viele Rennen gewinnen
können«, glaubt sein Freund Tony Martin.
Für einen Moment hält Kittel inne. »Es
rührt mich, dass es alle schade finden«, sagt
er dann, »aber nur deshalb kann ich ja
nicht weiterfahren. Ganz ehrlich: Ich freue
mich einfach auf alles, was kommt.« Er
sagt es, zieht die Kellertür hinter sich zu
und läuft die Treppe, zwei Stufen auf ein-
mal nehmend, zurück zu seiner Wohnung.
Vor der Tür liegt eine schwarze Fußmat-
te, ein Geschenk seiner Mutter. Darauf
steht: »Herzlich willkommen, Neuanfang«.

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 97

MICHAEL TRIPPEL / DER SPIEGEL
Paar Kittel, Piekartz in Kreuzlingen: »Bei ihr kann ich so sein, wie ich bin«
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