Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019∙Nr. 195∙240. Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Geldpolitik: Rezessionen muss man zulassen können – sie sind bisweilen auch heilsam Seite 11, 33


«Wir machen sehr gute


Erfahrungen mit Lauber»


Der oberste Justiz- und Polizeidirektor lobt den Bundesanwalt


bem.·Urs Hofmann, der Präsident
derKonferenzder kantonalenJustiz-
undPolizeidirektorinnen und -direk-
toren (KKJPD), stellt sich hinter den
unter Druck stehenden Bundesanwalt
Michael Lauber. «Die Kantone ma-
chen mitLauber sehr gute Erfahrun-
gen», sagt er im Interview mit der NZZ.
Lauber bringe sich stark ein, under
bauekeine Mauernauf. Das sei nicht
immersogewesen:DasVerhältnis zwi-
schen der Bundesanwaltschaft und den
Kantonen sei lange Zeit immer wie-
der von Spannungen geprägt gewesen.
«Mein Eindruck ist, dass sich die Situa-
tion mitLauber beruhigt hat unddie
Zusammenarbeit heutevertrauensvoll
und ergiebig ist», sagt der Aargauer SP-


Regierungsrat, derdie KKJPD seit dem
Frühjahr präsidiert. Hofmann bezwei-
felt auch, dass die drei nicht dokumen-
tiertenTr effenLaubers mitFifa-Prä-
sident Gianni Infantino Grund genug
wären,Lauber abzusetzen.
Im Interview nimmt Hofmann auch
Stellung zurFan-Gewalt imFussball.
Eines der Probleme im Kampfgegen
die Chaoten ortet er bei den Klubs:«Es
gibtVereine, die lieber wegschauen und
sich nicht klar und unmissverständlich
abgrenzen.»Weiter fordert der 62-Jäh-
rige härtere Strafen.Dazu müsse das
Gesetz aber nicht verschärft werden;
der nötige Strafrahmen sei schon heute
vorhanden.
Schweiz,Seite 13

Ungleich heit hat auch Vorteile


Gleichheit ist unter allen Umstän den gut, Ung leichheit stets begründungspflichtig. So lautet das Mantra vieler Politiker


und Intellektueller auch in der Schweiz. Das ist zu kurz gedacht.Von René Scheu


Der frühere amerikanische Präsident Barack
Obama nannte das Phänomen die grösste Heraus-
forderung unserer Zeit.Joseph Stiglitz,seinLands-
mann und Nobelpreisträger für Ökonomie, sprach
von der grossen Kluft, die eine Gesellschaft zer-
rütte. Und das Oberhaupt der katholischen Kirche,
der rhetorischenAufrüstung nicht abgeneigt, er-
blickt darin einePerversion und dieWurzel allen
sozialen Übels. Ist dieRede von einer Plage, einer
drohenden Naturkatastrophe oder gar dem nächs-
ten Krieg? Nein, es geht um die Ungleichverteilung
der Einkünfte in unsererWelt.
Es zählt zur Ironie unserer fortgeschrittenen
Moderne, dass sich wohlhabende und egalitäre Ge-
sellschaftenbesondersstarkmitUngleichheitsfra-
gen beschäftigen.Auch da,wodie Einkommensver-
hältnisse über dieJahrzehnte erstaunlich stabil sind,
pflegen sich die Medien mit einschlägigen Umfra-
gen undRankings zu überbieten. Sie werden flan-
kiert von einer ganzen Industrie der Ungleichheits-
bewirtschaftung. Die Botschaft ist sattsam bekannt:
Die Armut wächst,auch in unseren Breiten, auch
in der Schweiz.


Ein schiefes Bild


Es gibt nicht nur denPopulismus der Angst, son-
dern auch jenen des Neids, und gewieftePolitiker
haben daraus längst eine eigeneKunstform ge-
macht. Sie klagen wahlweise über eine Umvertei-
lung von unten nach oben, über eine neue Klassen-
gesellschaft oder die Gier des oberen einen Pro-
zents, das sich aus der demokratischen Gesellschaft
der 99 Prozent verabschiedet habe und darumkeine
Schonung verdiene. Dabei wird immer das gleiche
Sprachbild verwendet, in dem das Denken der ega-
litären Mitstreiter allerParteienperfekt zumAus-
druckkommt: Die Schere zwischen «den»Reichen
und «den» Armen öffnetsich immer weiter.
Dochdas Sprachbild ist in mehrfacher Hinsicht
schief, wie einige jüngere Zahlen belegen, die im
Übrigen nicht in einem Bunker irgendwo gehortet
werden, sondern im Netz leicht abrufbar sind. Zu-
nächst: Gerade die Armen sind die grössten Nutz-
niesser der Globalisierung.Armut auf absolutem


Niveau – und also am äusserstenRand der Exis-
tenz – schwindet auf dem Globus ebensorasant wie
Ungleichheit. Der serbisch-amerikanische Ökonom
Branko Milanovic hat die verfügbaren Statistiken
in zahlreichen Publikationen in jüngerer Zeit aus-
gewertet. Es verhält sich sogar so, dass in den letz-
ten dreiJahrzehnten eine globale Mittelschicht ent-
standenist, vor allem dank urbanen Chinesen und
Indern, deren Einkünfte sich in diesem Zeitraum
vervielfacht haben.
Auch in den Industrieländern sind insgesamt Zu-
gewinne zu verzeichnen, doch wuchsen die hohen
Einkommen deutlich stärker als alleanderen. Es
gibt also eine Kluft – aber nicht weil die Leute mit
niedrigem Einkommen weniger verdienen würden,
sondern weil die Gutverdiener überproportional zu-
gelegt haben.In der Schweiz bleibendieVerhält-
nisse über das 20.Jahrhundert hingegen erstaunlich
stabil. Der Anteil derTopeinkommensbezüger am
Gesamteinkommen hat in den letztenJahrzehnten
zwar moderat zugenommen, dagegen wirkt jedoch
die ziemlich brutale Steuerprogression. Gegenwär-
tig bestreiten – gemäss neuen Zahlen des Ökono-
men Christoph Schaltegger–die oberen zehn Pro-
zent der Einkommensbezüger über die Hälfte der
gesamten Einkommenssteuern, während die unte-
ren fünfzig Prozent rund elf Prozent beitragen.Vo n
wegen Umverteilung von unten nach oben.
Doch nach denFakten die Argumente – warum
soll überhaupt eine Gesellschaft mit möglichst
gleicher Einkommensverteilung einersolchenmit
mehr Ungleichheit vorzuziehen sein, wie es in der
Schweiz, einem derreichstenLänder derWelt, täg-
lich zu lesen steht? Zu den Errungenschaften des
Liberalismus gehört zweifellos dieVerbriefungder
doppelten Gleichheit des Menschen: Alle haben
die gleicheWürde,und alle sind darum auch vor
dem Gesetz gleich. Der moderneRechtsstaat be-
ruht auf der Abschaffung der Herrenvorrechte jed-
weder Art. Doch hat eine solche Gleichbehand-
lung durch den Staat nur einen Sinn, wenn er eben
davon ausgeht, dass die Bürger in ihren Anlagen,
Talenten,Vorlieben undKonstitutionen zugleich
unterschiedlich sind – nichts anderes ja meint die
Rede von Individuen, derenWürde sich ihrer je
eigenen Einzigartigkeit verdankt.

Die gleiche Behandlung von ungleichen Indivi-
duen führt nun aber zu Ungleichheit nicht nur in
denKonsumvorlieben und Lebensentwürfen,son-
dern eben auch in wirtschaftlicher Stellung und
gesellschaftlichem Status. Und im Umkehrschluss
kann solche ungleichenResultate nur beseitigen,
wer bereit ist, Gleiche ungleich zu behandeln, was
ja im Namen der positiven Diskriminierung aller
möglichen gesellschaftlichen Gruppen längst ge-
schieht. Eine solche Ungleichbehandlung erzeugt
jedoch ihrerseits ein Gefühlvon Ungerechtigkeit
unter all den Normalos, die der Privilegien nicht
teilhaftig werden–und mussdenRechtsstaat auf
dieDauer beschädigen.
Gleichheit contra Gerechtigkeit:Das ist genau
der Unterschied, der im Zeichen des Allerweltbe-
griffs «soziale Gerechtigkeit» laufend verwischt
wird. «Immer gleicher» heisst nicht «immer gerech-
ter», weder in der philosophischenTr adition noch im
moralischen Empfinden der Menschen. Nicht nur
Kinder erachten es als zutiefst ungerecht, wenn am
Ende eines Spiels alle auf dem gleichen Platz lan-
den oder alle Einsätze wieder gleich verteilt werden,
ungeachtet des persönlichen Einsatzes,Verdiensts,
Fleisses,Talents und Glücks. Die klassische Gerech-
tigkeitsdefinition des Aristoteles weiss darum: Ge-
rechtigkeit ist proportional – nicht für alle dasselbe,
sondern für jeden das, was ihm im Spiel des Lebens
zusteht.Diese Intuition, die kulturübergreifend gilt,
wurde von der jüngerenForschung bestätigt.

Saturiertheitals Problem


Ungleichheit undArmut sind unterschiedliche
Dinge – die Ungleichheit kann auch dann zuneh-
men, wenn alle Klassen wohlhabender werden,
und das ist es ja genau, was imWesentlichen seit
der industriellenRevolutionimWesten geschieht.
Als – zuRecht – stossend gelten den Menschen
hingegen wohlhabende Gesellschaften, die Armut
unter ihren Bürgern dulden – eine Grundsicherung
des Lebensstandards trifft auf breite Zustimmung.
Ebenso unbestritten ist dasKonzept der Chancen-
gleichheit, die über eine allen zugängliche Bildung
zu gewährleisten ist.

Zu denParadoxien einer guten öffentlichen Bil-
dung gehört allerdings, dass sie beträchtliche Un-
gleichheitsfolgen zeitigt. Denn Bildung bedeutet
ja nicht nur,Wissen zu vermitteln,sondern immer
auch: die Eigenverantwortung und Leistungsbereit-
schaft der Menschen zu stärken. Gerade die Demo-
kratisierung derBildung führt zur Elitebildung.
Allerdings gereicht dies wiederum allen Bewoh-
nern einesLandes zumVorteil– jedenfalls dann,
wenn die Elite sich täglich bewähren muss und sich
nicht in ihre Gated Community zurückzieht.
Eine Gesellschaft, die aufKönnen, Fleiss und
Glück setzt, wirdstets Ungleichheit in Einkommen
und Status hervorbringen, aller Umverteilungspoli-
tik zumTr otz. Sie wirdsich damit zugleich dieAuf-
wärtsmobilität erhalten, die von all den Statistiken
zu Einkommensverteilungen über die Zeit nicht er-
fasst wird.Wer in seinem beruflichen Umfeld be-
obachtet, wer es nach oben geschafft hat, trifft auf
viele Leute, die aus einfachenVerhältnissen stam-
men und unten begonnen haben.
Wenn nun jedoch immer mehr Menschen der
herrschenden Ordnung zu misstrauen scheinen, so
dürfte dies weniger mit der fehlendenAufwärts-
als mit der mangelnden Abwärtsmobilität zu tun
haben. Denn wer es in unseren Breiten einmal an
die Spitze der Managementkaste geschafft hat,
bleibt für gewöhnlich im Klub.
Das wiederum ist ein Phänomen, das sich in ver-
gesellschaftetenWirtschaften mit hoher Staatsquote


  • unddazu gehört längst auchdie Schweiz – geradezu
    zwingend ergibt.Dann zählen nicht mehrTalent,
    Fleiss, Leistung und dieFortuna, sondern in erster
    Linie die richtigen Beziehungen und Bekanntschaf-
    ten. ZurVerkrustung derElite existieren leiderkeine
    Statistiken, wohl aber zur – geschichtlich gesehen

  • anhaltend hohen erweiterten Staatsquote wohl-
    habender Gesellschaften von um die fünfzig Prozent.
    Immanuel Kant nannte die «Ungleichheit unter
    Menschen» – anders und differenzierter als der
    amtierendePapst – einst eine «reiche Quelle so vie-
    les Bösen,aberauch alles Guten». In der Ungleichheit
    liegt viel Kraft– in derVerknöcherung und eindimen-
    sionalen Gleichheitsfixierung unserer saturierten Ge-
    sellschaften aber liegt die grösste Gefahr für die Zu-
    kunft (und den Zusammenhalt der Gesellschaft).


Schwinger streiten um


den Titel – und über Geld


Eidgenössisches Schwing- und Älplerfest in Zug gestartet


bem.·Der Kampf um denKönigstitel
hat begonnen: Die besten Schwinger der
Schweiz messen sich an diesemWochen-
ende am nur alle dreiJahre stattfinden-
den Eidgenössischen Schwing- und Älp-
lerfest in Zug. Es ist der grösste Hosen-
lupf aller Zeiten:Das Organisations-
komitee rechnet mit bis zu 350 000
Besuchern, und dasFestbudget beträgt
rund 37 MillionenFranken.
Diese Zahlen widerspiegeln die
zunehmendeKommerzialisierung des
Schwingsports. Seit 2010 etwa dürfen
Schwinger Sponsoringangebote an-
nehmen, und einige von ihnen erzie-
len damit inzwischenJahreseinkünfte
im sechsstelligen Bereich.Tr aditiona-
listen sind aufgebracht ob der aus ihrer

Sicht finanziellenAuswüchse. Für sie
sind es letztlich nur wenige,die von der
Kommerzialisierung des Schwingsports
profitieren: die besten Schwinger, ein-
zelne Manager, ein paarFestorganisa-
toren. Gehe es so weiter, verkaufe das
Schwingen seine Seele, lautet die Kritik.
Das sieht auch Ernst Schläpferso. «Lei-
der befindenwiruns in einer Zeit, in der
am liebsten die Stars gefördert werden»,
sagt der zweifache Schwingerkönig im
Interview mit der NZZ. «Gleichzeitig
hat es derVerband noch nicht geschafft,
ein effizientesKonzept für den Nach-
wuchs durchzusetzen.»
Meinung &Debatte, Seite 10, 12
Schweiz, Seite14, 15
Sport, Seite 51, 52

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