Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 MEINUNG &DEBATTE


Waldbrände in Amazonien


Der Westen ist gefordert


Aus Amazonien erscheinen dieserTage dra-
matische Bilder. Zehntausende vonWaldbrän-
den lodern im brasilianischenUrwaldgut sicht-
bar auf Satellitenbildern.Fernsehaufnahmen aus
Sao Paulo zeigen dickeWolken,die in der Metro-
pole, obwohlTausende von Kilometern von den
Brandherden entfernt, denTag zur Nacht ma-
chen. Glei chzeitig meldet das zuständige bra-
silianische Institut Inpe erschreckende Zahlen
über eine starke Zunahme der Abholzung und
der Waldbrände seit Beginn derRegierung von
PräsidentJair BolsonaroAnfangJahr.
Der Eindruck, der sich aus der dramatischen
Berichterstattung ergeben kann, dass der Ama-
zonas-Urwald demnächst in sich zusammenfallen
wird wie dasDach der Kathedrale NotreDame
in Paris, ist allerdings falsch. Im langjährigenVer-
gleich ist die diesjährige Situationkein ausser-
gewöhnliches Ereignis,auch wenn einem dies die
Berichterstattung mancher Medien weismachen
will.Trotzdem muss aber die Entwicklung im letz-


ten halbenJahr unter Bolsonaro als klaresWarn-
zeichen verstanden werden.
Verglichen mit demletztenJahr meldet Inpe
einen starkenAnstieg bei der abgeholzten Fläche
und bei der Zahl derWaldbrände. Diese beiden
Zahlenkorrelieren in derRegel.Die abgeholzten
Flächen werden mitFeuern vom Unterholz ge-
säubert, damit sie anschliessend landwirtschaft-
lich nutzbar gemacht werdenkönnen. Dies ge-
schieht hauptsächlich in der gegenwärtigenTro-
ckenzeit. EinTeil der Brände dürfte aber auch
natürlich entstehen, etwa durch Blitzschlag.
Trotz der markanten Zunahme gegenüber dem
Vorjahr liegen die 4700 Quadratkilometer, die
laut Inpe in den ersten 7 Monaten derRegierung
Bolsonaro abgeholzt wurden, immer noch unter
dem Durchschnitt der Linksregierungen von Lula
da Silva und Dilma Rousseff (2003–2016).Bei den
Bränden ergibt sich ein ähnliches Bild.Laut der
Zählung der amerikanischenRaumfahrtbehörde
Nasa liegt die Zahl der Brandherde leicht unter
dem Mittel der letzten15 Jahre.
Dies kann allerdingskeinesfalls ein Anlass für
Entwarnung sein. Das wirklich Beängstigende
sind nämlich nicht die gegenwärtigen Zahlen,
sondern die Erwartungen für die nächstenJahre
aufgrund der jüngsten Entwicklung.Auch wenn
die abgeholzte Fläche in absoluten Zahlen noch

nicht aussergewöhnlich ist, lässtdie kräftige Zu-
nahme unter Bolsonaro in so kurzer Zeit die
Warnlampen aufleuchten. Der neue Präsident
hat der brasilianischen Agrarlobby immer wie-
der zu verstehen gegeben, dass die Entwicklung
der Landwirtschaft Priorität vor dem Schutz des
Regenwaldes hat. Das dürfte wie einFreipass ge-
wirkt haben in einemLand, in dem ohnehin etwa
80 Prozent desWaldes illegal abgeholzt werden.
Zudem hat Bolsonaro diestaatlichen Institutio-
nen geschwächt, die denRegenwald und die dor-
tige indigene Bevölkerung schützen sollen.
Es ist deshalb zu befürchten, dass die jüngste
negative Entwicklung nur der Beginneines län-
gerenTrends sein wird, wenn die brasilianische
Regierung nicht umgestimmt werden kann. Hier
könnten die westlichen Staaten eine wichtige
Rolle spielen,aber nicht mit Belehrungen oder
Drohungen. Denn dazu sindLänder mit einem
um einVielfaches höheren Pro-Kopf-Ausstoss
von CO 2 als Brasilien kaum legitimiert.Verlangt
wäre vielmehr die Bereitschaft, dieKosten des
Regenwaldschutzes mitzutragen.Wenn Brasi-
lien im Interesse des weltweiten Klimas auf die
Nutzung des Urwalds verzichten soll und dabei
wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen muss,
müssten die anderen Staaten auch bereit sein,das
Land dafür zu entschädigen.

Listenverbin dungen


Roulette im Wahlbüro


24 Frauen und Männer haben 2015 dank einer
Listenverbindung dieWahl in den Nationalrat
geschafft. Die Zahl zeigt: Oft ist diePartnerwahl
wichtiger als dasWahlprogramm. Zurzeit hat die
Schaffhauser FDP die Qual derWahl, sie muss
entscheiden, ob sie mit derSVP eine Listenver-
bindung eingehen will.Für dieSVPist derFall
klar:Sie will.Am liebsten möchte sie sich im gan-
zen Land mit der FDP verbinden.Dasist eigent-
lich erstaunlich, wenn man an ihr neuesWahl-
plakat denkt:Aus Sicht derSVP handelt es sich
bei denFreisinnigen umWürmer, um Ungezie-
fer, das mit den anderenParteien die Schweiz ver-
nichten will.Aber offenbar ist sie bereit, zuguns-
ten desWahlerfolgs mit Schädlingen zu paktieren.
Die FDP ist wählerischer. Die meisten Kanto-
nalparteien haben derSVP die kalte Schulter ge-
zeigt.Dabei spielen nicht nur noble Motive eine
Rolle, vielmehr gehtes auch um nüchterneTaktik:
Bei Listenverbindungen hat in derRegel der klei-


nerePartner schlechtere Erfolgsaussichten. Bis-
her kam der Deal nur im Aargau,Baselbiet und
Thurgau zustande. Dort mussten sich die FDP-
Exponenten wegen desWurm-Plakats prompt
wortreich erklären.Tief blicken lässt,was derPrä-
sidentder Aargauer FDP, Lukas Pfisterer, sagte:
Die Listenverbindung sei eine «mathematische
Angelegenheit», sie bedeute nicht, dass man in-
haltlich übereinstimme.
Die Aussage ist verblüffend ehrlich. Die bei-
den Parteien haben politisch tatsächlich erheb-
liche Differenzen – gerade deswegen sollten sie
sich nicht verbünden.Wer Listenverbindungen
auf eine «mathematische Angelegenheit»redu-
ziert, will sich selber etwas vorgaukelnoder sei-
ner Wählerschaft.Konkret:Werim Aargau FDP
wählt, wählt auchSVP. Das liegt ganz banal am
System der Sitzzuteilung. In der erstenRunde
werden alle Stimmen der verbundenenParteien
zusammengezählt, als ob es eine einzigePartei
wäre. Daraus folgt: Ein Aargauer FDP-Wähler,
der die bisherige Europapolitik fortsetzen will,
muss ernsthaft damitrechnen, dass dank seiner
Stimme einSVP-Nationalrat gewählt wird, der
die Personenfreizügigkeit beenden will.
Aber es geht nicht nur umSVP und FDP. Lis-
tenverbindungen überParteigrenzen hinweg sind

generell fragwürdig.Auch diesesJahr sind viele
«Päckli» geschnürt worden,nicht alle sind logisch
erklärbar.Vor allem in der Mitte ist manreich-
lich flexibel: einmal CVP und GLP, dann CVP
und FDP, dann wieder GLP und SP. ZumTeil ver-
bünden sich bis zu sechsParteien. In solchenFäl-
len gibt es unschöneKonstellationen, in denen
die Sechsergruppe einer anderenPartei den Sitz
abjagt, auch wenn diese mehr Stimmen macht als
jede der sechsParteien.Wer innerhalb derAllianz
den Si tz holt,ist nicht vorhersehbar.Wer eine die-
ser Parteien wählt, spieltRoulette. Er weiss nicht,
welcherPartei er zum Sitz verhilft.
Klar, Listenverbindungen haben auchVorteile.
Zum Beispiel führen sie dazu, dass ein grösserer
Teil der Stimmen bei der Sitzverteilung tatsäch-
lich eineRolle spielt. Aber was ist schlimmer:
wenn eine Stimme nutzlos bleibt – oderwenn
sie an einePartei geht, die man gar nicht wählen
wollte?Je bunteres die Parteien treiben,umso
grösser ist die Gefahr, dass derWählerwille ver-
fälscht wird.WerCVP wählt, will nicht FDP wäh-
len, sonst würde er es tun. Listenverbindungen
schaden derTransparenz. Es ist falsch, wenn alle
das Kleingedruckte lesen müssen,um zu merken,
wo ihre Stimmen landen. EinVerbot überpartei-
licher Listenverbindungen drängt sich auf.

Übertriebene Erwartungen an die Geldpolitik


Rezessionen muss man zulassen können


Jackson Hole ist ein ziemlich entlegenes Nest
irgendwo in denRocky Mountains. DieserTage
ist der Ort indes der Nabel derFinanzwelt. Den
Grund dazu liefert das dort stattfindendeTreffen
der wichtigsten Notenbankvertreter. Rund um
den Globus lauschen Investoren auf Signale aus
dem abgelegenen Hochtal. Jedes Räuspern der
Geldpolitiker wird analysiert,um Rückschlüsse
auf denKurs der Notenbanken zu ziehen. Die
überhöhteAufmerksamkeit ist heikel. In norma-
len Zeiten überliesseman Jackson Hole getrost
den Wapiti-Hirschen, die sich dort sehr wohl füh-
len. Doch von Normalitätkann schonlangenicht
mehr dieRede sein.
Die Wirtschaftswelt ist im Zuge derFinanz-
krise aus denFugen geraten. Seither ruhen fast
alle Hoffnungen auf den Notenbanken.Von ihnen
wirderwartet, dass sie mit ständig neuer Stimu-
lierung dieFinanzmärkte in Schwung und die
Anleger beiLaune halten. In den vergangenen


Jahren sind diese Erwartungen selten enttäuscht
worden.Daran hat man sich gewöhnt. Also ver-
langendie Investoren stets noch mehr vom Glei-
chen.Derzeit bedeutet das:Amerikas Notenbank
soll – trotz faktischerVollbeschäftigung – bereits
im September die Zinsen weiter senken.Und von
der Europäischen Zentralbank (EZB)wird gefor-
dert, dass sie ebenfalls im September ein neues
Stimulierungspaket ankündigen wird.
Das Problem: Die Notenbanken verfügen
kaum noch über Munition.Das gilt vor allem für
die EZB. Im Euro-Raumrächt es sich, dass der
jüngsteKonjunkturaufschwung nicht für eine
Zinswende genutzt wurde. Gelegenheiten dazu
hätte es durchaus gegeben. Doch stets fand man
Ausreden, um die unpopuläreVerteuerung des
Geldes auf die langeBank zu schieben. Die EZB
hat daher kaum noch zinspolitischen Spielraum,
da die Sätze – anders als in den USA – schon im
negativen Bereich liegen. Um dennoch auf die
eingetrübteKonjunkturreagieren zukönnen,
werden immer extremere Massnahmen nötig.
DasTabu von gestern wird zur Norm von heute.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist der un-
längst von Philipp Hildebrand gemachteVor-
schlag, das Notenbankgeld künftig direkt dem
Sta at für gewisseAufgaben zurVerfügung zu

stellen. Die Idee stützt sich auf eine Studie des
weltgrösstenVermögensverwalters Blackrock,wo
der frühere Präsident der Schweizerischen Natio-
nalbank im Solde steht.Dabei macht sich Hilde-
brand für eine engereVerflechtung von Geld-
politik undFinanzpolitik stark. All dies erinnert
nicht nur an die Idee von «Helikoptergeld».Wenn
Notenbanken mehr oder weniger direkt den Staat
finanzieren, tastet man sich auch in die Nähe der
«Modern MonetaryTheory», die unter Amerikas
Linken grossePopularität geniesst.
Den vielen Ideen zur geldpolitischen Stimu-
lierung liegt meist der Gedanke zugrunde, dass
selbst mildeRezessionen zwingend zu verhin-
dern seien.Das mag löblich sein, da Abschwünge
schmerzvoll sind.Rezessionen sind alsTeil des
Wirtschaftszyklus aber unvermeidbar – und bis-
weilen auch heilsam.SiekorrigierenFehlentwick-
lungen und brechenVerkrustungen auf. Über-
schuldete «Zombie-Firmen», die nur dank Null-
zinsen überleben, verschwinden vom Markt und
machen Platz für produktivere Akteure. Gewiss,
solche Bereinigungen sind mit Leid undKosten
verbunden. Doch je länger und teurer man sie zu
vermeiden versucht und hiezu den Markt ausser
Kraft setzt, desto schmerzvoller fällt dieKorrek-
tur später aus. Langfristig dient dies niemandem.

FABIAN SCHÄFER

SCHWARZ UND WIRZ


Grosse Kinder –


kleine Erwachsene


von Claudia Wirz

EinePädagogik und einVerständnis von
Kindheit, wie Hermann Hesse in seiner
beklemmenden Erzählung «UntermRad» sie
schildert, wünscht sich niemand zurück, der Herz
und Verstand hat. Lieblose Zucht,harter Drill
und kompromisslose Unterordnung – das sind
schulischeKonzepte, die schon beim Lesen
schmerzen und in einer wahrhaft aufgeklärten
und liberalen Gesellschaft so inakzeptabel sind
wie dieVerweigerung des Stimm- und
Wahlrechts für dieFrauen.
Aus gutem Grund hat sich in derPädagogik
eine grundlegendeWende vollzogen. Und nicht
nur dort; der Stellenwert des Kindes ist heute ein
komplett anderer als noch vor gut hundertJahren,
als HessesWerk erschien. Kinder haben heute
verbriefteRechte, über die staatliche und
nichtstaatliche Institutionen mit Argusaugen
wachen. Die persönliche Entfaltung jedes
einzelnen Kindes steht im Zentrum der moder-
nen Pädagogik.Dank Digitalisierung und neuen
pädagogischenKonzepten werden Kinder im
Schulzimmer immer mehr zu selbstbestimmten
Akteuren, jaAuftraggebern, und Lehrer immer
mehr zu partnerschaftlichen Lernbegleitern.
Kinderanwälte sorgen dafür, dass Kinder in
familienrechtlichen Belangen Gehör bekommen.
Kindertagesstätten werden im Namen der
Partizipation und Inklusion zu kleinen demokrati-
schen und sozial gerechtenRepubliken. Dem
Wohl des Kindeskommt einVorrang zu. So steht
es in der Uno-Kinderrechtskonvention, die es seit
dreissigJahren gibt und die – glaubt man einem
von Erwachsenen speziell für Kinder gemachten
Instruktionsfilmchen des SchweizerFernsehens


  • dafür sorgt, dass es den Kindern gutgeht.Das
    Kind, das bisher glaubte, seine Eltern seien
    primär für seinWohl zuständig, sieht sich also
    eines Besseren belehrt; es ist die Uno.
    Die von oben verordnete Emanzipation des
    Kindes bleibt natürlich nicht ohneWirkung auf
    die Kinder selber.Ausgestattet mit neuem
    Selbstbewusstsein haben Kinder längstFührungs-
    funktionen inFamilie und Gesellschaft übernom-
    men. Und was in der Schule beginnt, setzt sich
    später fort.Wie in der Schule die Kinder sollen
    sich an der Universität die Studenten wohl fühlen
    und bestmöglich entfalten. Und so wird auch hier
    zunehmend «von unten» bestimmt, wie an der
    Universität gesprochen und geschrieben werden
    darf, wie viele Geschlechter es gibt und wer an
    der Universität – immerhin eine von allen
    Steuerzahlern finanzierte Bildungsstätte –reden
    darf und wer nicht.
    Während die Kinder immer mehrRechte
    erhalten sollen, werden die Erwachsenen durch
    Verbote undVorschriften zunehmend infantili-
    siert. Den Erwachsenen ist offenbar nicht
    zuzutrauen, dass sie eigenverantwortlich über
    ihren Salz-, Fett-, Zucker- oder Nikotinkonsum
    bestimmen oder eigenständig einen vernünftigen
    Znüni für ihre Kinder zubereitenkönnen.
    Deshalb braucht es staatliche Belehrung und
    Präventionsprogramme. Das moderneAuto wird
    unter dem Aspekt der Sicherheit zunehmend zu
    einer Art Kindersitz für Erwachsene mit
    Totalüberwachung, und die moderneVerhaltens-
    ökonomie geht schon im Grundansatz davon
    aus, dass Menschen die falschen Entscheide
    treffen und von einer Instanz,die es dank
    teurem Expertenwissen besser weiss, gelenkt
    und lebenslang erzogen werden müssen.
    Dafür, dass Kinder und Erwachsene nichtdie
    genau gleichenRechte (und Pflichten) haben,
    gibt es gute Gründe. Es gehört zum Erwachsen-
    werden, von den Alten abzuschauen und von
    ihnen zu lernen.Wer Kinder wie Erwachsene
    behandelt, tut ihnen deshalb nicht unbedingt
    einen Gefallen. Mit sklavischer Gefolgschaft hat
    dies allerdings nichts zu tun.Jugendliche
    Auflehnung gegen dasSystem der Alten gehört
    zum Erwachsenwerden dazu. Und es ist zu
    hoffen,dass sich dieser jugendliche Elan auch im
    Erwachsenenalter erhalte, um sich dann nicht
    nur von den Eltern, sondern auch von der
    neumodischen Bemutterung durch den Staat
    wirkungsvoll zu emanzipieren.


Claudia Wirzist freie Journalistin und Autorin.
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