Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 24. August 2019


Im Eidgenössischen Schwingerverband sind Funktionäre erwünscht, die schon einmal Sägemehl im Mund oderind en Augen hatten. DOMINIC STEINMANN / NZZ


Der Kommerz stellt das


Schwingen auf eine Probe


Das Schwingen boomt wie nie. Doch mit dieser En twicklun g gehen Gefahren einher.


Es ist wichtig, dass der Sport nicht komplett dem Mammon verfällt, sondern seine


Traditionen pflegt.Von Marco Ackermann


Wer im Emmental vor dem prunklosen Gemeinde-
gebäude von Ersigen steht,würde dakein Zentrum
der Macht vermuten.Hier, in einem Nebeneingang,
hat der Eidgenössische Schwingerverband (ESV)
denSitz.ImBüro,dasdenCharmeeinesBaucontai-
ners hat, arbeiten zwei Leute. Der Geschäftsführer
Rolf Gasser ist als einziger zu 100 Prozent ange-
stellt.DerVerband zelebriert Bescheidenheit – und
hat an diesemWochenende die Schirmherrschaft
über das mit 37 MillionenFranken budgetierte Eid-
genössische Schwingfest. 2010 führte derVerband
einWerbereglementein,unddieseserschütterteden
folkloristischen Sport in den Grundfesten. Schwin-
ger konnten fortan Sponsoringangebote annehmen
und mit ihrem HosenlupfJahreseinkünfte im sechs-
stelligen Bereich verbuchen. DerVerband wollte
darüber dieKontrolle behalten und forderte an die-
sen Einkünften einen Obolus von zehn Prozent,zu-
gunstenseinesNachwuchses.Alsobrauchteeseinen
Verwalter für administrative Arbeiten–also kam
Gasser, ein eidgenössisch diplomierter Käsermeis-
ter,tiefverwurzeltineinerBernerSchwingerfamilie.


Schützen vor Eindringlingen


In den achtJahren als Chef der Operative hat sich
GassermitstarkenVeränderungeninderSzeneaus-
einandersetzen müssen. Die Spannungsfelder zwi-
schenTradition und Moderne, zwischenSwissness
und Weltoffenheit, zwischenEhrenamtlichkeit und
ProfessionalisierunghabenimmerneueExtremeer-
fahren.Derzeit gibt es hundert Schwinger, die über
mindestens einen Sponsoringvertrag verfügen. Be-
trugendieWerbeabgaben,diedieSchwingerfürdas
Jahr 2011 an den ESV entrichteten, rund 70 000
Franken,lagen sie im vergangenenJahr bei 228 000
Franken. Mit anderenWorten: 2018 haben Schwin-
gerdurchPartnerschafteninsgesamtknapp2,28Mil-
lionenFranken verdient, unter der Annahme, dass
sie alle Einkünfte auch ehrlich deklariert haben.
Denn die Abrechnung erfolgt nach dem gleichen
Prinzip wie die Steuererklärung. Anzugeben sind
auch Sachleistungen wie Gas und Heizöl. Einige
Traditionalistensindaufgebrachtobderfinanziellen
Auswüchse. Für sie sind es letztlich nur wenige, die


vom Boom profitieren: die besten Schwinger, ein-
zelneManager,einp aarFestorganisatoren.Gehees
soweiter,verkaufedasSchwingenseineSeele,lautet
die Kritik. Ein Schwingerkönig aus dem vergange-
nen Jahrtausend sagt, es werde ihm schlecht, wenn
er höre, was ein gut vermarkteter Schwinger ver-
dienenkönne, selbst wenn erkein Seriensieger sei.
DerVerband hat zwar durch Investitionen in die
Öffentlichkeitsarbeit Scharen von Schwingfans ge-
wonnen, aber es dürfte noch mehr Geld zurück in
den Breitensport und die technische Entwicklung
des Schwingens fliessen. Bei den aktiven Mitglie-
dern schlägtsich der Boom kaum nieder. Der Ver-
band kämpft darum, die Zahl von 6000 Schwingern
zu halten.ImVergleich zu1980 konnte die Zahl nur
um etwa zehn Prozent gesteigert werden,dieAktiv-
schwinger sind sogar weniger geworden. Immerhin
nimmt die Zahl derJungschwingerkonstant zu. In
den grössten Städten desLandes sind die Schwinger
nach wie vor schwach vertreten. In derRomandie
harztes,unddasTessin istkeinFaktor.Daswichtigste
PR-InstrumentfürdenVerbandistdiehoheTV-Ab-
deckung. Der Verband hat dieFernsehrechte SRF
vergleichsweise günstig verkauft. Die attraktivste
Zielgruppe? Gasser, für dieSVP im Gemeinderat
von Ersigen, sagt bestimmt: «Die Secondos.»
Aber was macht derVerband, damit derKom-
merz fürs Schwingen nicht zur Gefahr wird?Wie
viel Innovation ist nötig? DerVerband sieht es
als seine wichtigsteAufgabe an, die Mitglieder im
Sinne der guten alten Schwingertradition zu len-
ken. Wer innerhalb dieser Leitplanken ausschert,
bekommt diesrasch zu spüren: in Form von Bussen,
Sperren oderRügen durch die Schwingerkollegen.
Noch funktioniert diesesSystem der Selbstregulie-
rung, auch dank Hebelwirkungen. Ein Schwinger
kann währendder Aktivzeit nicht so viel Geld im
Sägemehl verdienen, dass er nach demRücktritt
ausgesorgt hätte.Esgehört zum gutenTon, dass er
mindestens die halbeWoche einem Beruf nach-
geht. Und will ein Schwinger Erfolg haben, wird er
die Verankerung in derBasis nichtaufs Spiel set-
zen. Ein Einzelkämpfer stünde an einem grossen
Fest auf verlorenemPosten. Und doch sagt Gasser:
«Wir müssen uns schützen vor Gurus, die eine uns
fremde Mentalität in den Sport tragen wollen.» Er

wünscht sichFunktionäre, die «schon einmal Säge-
mehl im Mund oder in denAugen hatten».
In Wahrheiterscheintdie Gefahr von uner-
wünschten Eindringlingen als gering – und das hat
mit dem klugenSystem zu tun, auf dem das Schwin-
gen immer noch aufgebaut ist.In seiner Kaste ist es
niemandem möglich, die Rangordnung über Nacht
über den Haufen zu werfen. Die Privilegien für die
fünf Teilverbände wechseln sich imTurnus ab.Wer
irgendetwas zu sagen haben will, muss sich über
Jahrzehnte in diesem Sport hochdienen und in sei-
ner Region starkenRückhalthaben.Über wichtige
Beschlüssestimmenan einer jährlichenVersamm-
lung die rund 220Abgeordneten ab, Männer imAl-
ter von 55 bis 90Jahren. Gasser nennt diese Sena-
toren «die Hüter des heiligen Schwingergra ls». Das
System mag veraltet wirken, aber es bürgt für Sta-
bilität undWehrhaftigkeit.
Je neumodischer undkommerzialisierter eine
Idee ist, desto schwerer hat sie es, im Zentralvor-
standundvondenAbgeordnetenakzeptiertzuwer-
den. Für das Eidgenössische 2016 hatte auch die
Stadt Genf eine Kandidatur eingereicht. Sie hätte
ein OK aus lauterFixangestellten gehabt und ihren
sehrurbangeprägtenAnlassimFussballstadionaus-
getragen – die Bewerbung scheiterte hochkant.Der
Medienkonzern Ringier hätte gerne ein «Schwing-
Masters»imZürcherHallenstadionveranstaltet,ein
Einladungsturnier,andemnurdiebestenSchwinger
des Landes hätten teilnehmen dürfen.Geschwun-
gen worden wäre wohl mit Gruppen- und K.-o.-
Phase, wie an einerFussball-Endrunde – das Be-
gehren hatte nicht den Hauch einer Chance. Rolf
Gasser sagt: «Unser Einladungssystem und unser
Wettkampfformat sind nicht verhandelbar.»
Immer wieder gibt es Manager, die öffentlich
darauf hinweisen, dass die Schwinger sich unter
Marktwertverkaufen würden. Diese Promoto-
ren wollen denKommerz beschleunigen. Doch
just jene Manager, die Millionen versprechen und
jedenFranken ausreizen wollen,tun sich schwer, an
Verträge mit Spitzenschwingern heranzukommen.
Die Selbstregulierung scheint auch hier zu funk-
tionieren. Und es gibt einen erstaunlichenKontra-
punkt.Der Manager Beni Knecht sagt von sich,das
Betreuen von Schwingern sei für ihn eine Neben-
beschäftigung, eigentlich ein Hobby, und doch hat
er gleich zweiKönige imPortfolio. KilianWenger
und Matthias Glarner hätten anderswo bestimmt
bessereVerdienstmöglichkeiten.

Der Nerv der Zeit


Es gibt sie also, die Zeichen, die belegen, dass die
Schwinger nichtkomplett dem Mammon verfallen
sind und dem Charme ihrer Sportart Sorge tragen


  • und das ist wichtig und richtig so.Die Schwinger
    treffen mit ihrer vorsichtigen Bereitschaft zur Öff-
    nung den Nerv der Zeit. Sie stillen mit ihrer Hal-
    tung die Sehnsucht der Leute, sich anWerten, Ein-
    fachheit und nostalgischen Gefühlen festhalten zu
    können. Es wäre fahrlässig, würden die Schwinger
    ihre Prinzipien über Bord werfen.Da aus demAus-
    landkeine Konkurrenz droht, besteht dafürauch
    keine Not. Esreicht, dass es dem Schwingengut-
    geht – es muss ihm nicht noch besser gehen.Begier-
    den, immer noch neuere Geldquellen zu erschlies-
    sen, sind gefährlich. Der Blick nachJapan muss
    Warnung genug sein. Dort ist das traditionsreiche
    Sumo-Ringen durchKommerzdenken und Inter-
    nationalisierung in eine Krise gefallen. Deshalb ist
    es mehr als sinnvoll, wenn der Schwingerverband
    eine Politik des Bewahrens pflegt. Diese Philoso-
    phie wird belohnt.Das Interesse am Schwingen
    prosperiert wie nie. Die Aufgabe, einen Organisa-
    tor zu finden für ein Eidgenössisches, ist ein Selbst-
    läufer. Laut demVerband sind dieAustragungen
    bis 2028 gesichert. Im Ringen um dieAustragung
    im Jahr 2025können sich Glarus und St. Gallen so-
    gar einenkostspieligenWahlkampf liefern.
    Die Motivation, ein Eidgenössisches auszurich-
    ten, ist aus Sicht des Einzelnen nicht monetär be-
    gründet.Dafür ist der finanzielle Anreiz zu gering,
    gemessen am horrendenAufwand für den kurzen
    Anlass.Aber die Leute wollen Projekte, die Iden-
    tität stiften.Das Motto lautet: «Einmal im Leben
    wollen wir gemeinsam etwasVerrücktes auf die
    Beine stellen.» Und doch müssen sich die Schwin-
    ger fragen,wie lange sie sich in der Professionalisie-
    rung den nächsten Schritten verschliessenkönnen,
    wie lange noch Ehrenamtlichkeit und Lokalkolo-
    rit dominieren sollen.Der Verband hat geprüft, ob
    sich ein Mega-Event wie das Eidgenössische zen-
    tral vermarkten liesse, nach demVorbild derFuss-
    ball-Champions-League. Das hätte bedeutet, dass
    der ESV die Bewirtschaftung der vier wichtigsten
    Sponsoren übernommen hätte. Und er hätte den
    Grossinvestoren nachhaltigerePerspektiven bieten
    können. Doch die Idee wurde 2017 von den Abge-
    ordneten abgeschmettert. Das Risiko für die Orga-
    nisatoren, ohne Grossbank oder Grossverteiler da-
    zustehen,war zu klein.Der Wille,sich auf heimi-
    schemTerritorium selbst zu verwirklichen,zu gross.
    Rolf Gasser sieht sich in seiner Arbeit manch-
    mal an seinenJob in der Käseindustrie erinnert.
    Jene, die dort «ihr Produkt und ihre Grundwerte
    mit Sturheit gegen die Geier verteidigt» hätten,
    hätten ihre Marke am längsten stärkenkönnen.
    «Das müssen wir Schwinger auch schaffen», sagt
    er. «Sonst haben wir verloren.»


Der Blick nach Japan


mussWarnung genug sein.


Dort ist das traditionsreiche


Sumo-Ringen


durch Kommerzdenken


und Internationalisierung


in eine Krise gefallen.

Free download pdf