Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 SCHWEIZ


Es harzt in der Mitte


Die Listenverbindungen für die Nationalratswahlen stehen grösstenteils fest


Das Ansinnen von CVP, GLP,
BDP und EVP, ihre Listen
bei den Nationalratswahlen
flächendeckend zu verbinden,
zeitigt bescheideneWirkung.
Die Kantonalsektionen halten
sich nicht immer an die
Strategien der Mutterparteien.

LUKAS LEUZINGER (TEXT) UND
BALZ RITTMEYER (GRAFIK)

DerPlanklanghoffnungsfroh:ImJanuar
kündigten die Mitte-Parteien CVP, GLP,
BDP und EVP via «NZZ am Sonntag»
an, bei den Nationalratswahlen «mög-
lichstflächendeckend»Listenverbindun-
geneinzugehen.Voneiner«Stärkungder
konstruktiven Kräfte» war dieRede.
Inzwischen steht der Grossteil der
Listenverbindungen fest. Zwar läuft die
Frist in einigen Kantonen noch bis An-
fang September, doch am Gesamtbild
dürfte sich nichts ändern. Die Bilanz
der Mitte-Allianz fällt zwiespältig aus.
In fünf Kantonen (St. Gallen,Baselland,
Freiburg,SchwyzundSchaffhausen)sind
neu Mitte-Verbindungen zustande ge-
kommen.Sie ergänzenjene in Kantonen
wieZürich,BernoderSolothurn,wosich
die vier Parteien schon 2015 unterstütz-
ten.DemgegenüberscheiterteeineNeu-
auflage der Allianz etwa in derWaadt
und in Neuenburg. Unter dem Strich
haben CVP, GLP, BDP und EVP (be-
ziehungsweise jene unter ihnen, die im
entsprechenden Kanton antraten) ihre
Listen in neun Kantonen verbunden
(siehe Grafik).Das sind zwei mehr als
vor vierJahren.

Schielen nach links undrechts


Dass das Mitte-Bündnis nicht in mehr
Wahlkreisenzum Fliegengekommenist,
hat unterschiedliche Gründe. In Grau-
bünden, imThurgau und in Luzern
haben sich die Grünliberalen einerlin-
ken Verbindung angeschlossen,im Wal-
lis spannen sie mit der FDP zusammen,
ebenso imTessin, wo die CVP mit im
Boot ist.In Luzern, Zug und Genfver-
binden die Christlichdemokraten ihre
Listen exklusiv mit denFreisinnigen. In

derWaadtwiederumfanddieGLPkeine
Aufnahme im Mitte-Bündnis, während
imAargaustatteinergrossenzweikleine
Mitte-Listenverbindungen abgeschlos-
sen wurden. In beiden Kantonen würde
der Mitte dadurch ein Sitz durch die
Lappen gehen, wennman die Stimmen-
anteile von 2015 zum Massstab nimmt.
Die Vertreter der vierParteien ge-
ben sich dennoch zufrieden mit dem
Ergebnis ihrer Zusammenarbeit. Ihm
sei diekommunikativeWirkung wich-
tige r als die arithmetische, sagt BDP-
Präsident MartinLandolt auf Anfrage.
«Und diesbezüglich haben wir von den
nationalenParteien her wohl das Mög-
liche getan.» SeinKollege Gerhard Pfis-
ter von der CVP dämpft die Erwartun-
gen retrospektiv und betont, es habe
keine Vereinbarung zwischen denPar-
teien gegeben. «Es wurden lediglich je
nach Kanton verschiedene Ziele disku-
tiert mit wechselndenKonstellationen.»

Welche Listenverbindungen eine
Partei bei den Nationalratswahlen ein-
geht,kann denWahlerfolg entscheidend
beeinflussen. So verdankte die GLP vor
acht Jahren die Hälfte ihrer 12 gewon-
nenen Mandate Allianzen mit anderen
Parteien.Dass Listenverbindungen so
in teressant seinkönnen, hat mit dem
Wahlsystem zu tun. Dieses bevorteilt
tendenziell grössereParteien. Bei Lis-
tenverbindungen zählen die beteiligten
Parteien in der erstenVerteilung als eine
Partei. Erst danach werden die gewon-
nenen Sitze innerhalb derVerbindung
verteilt – wobei wiederum der grösste
der beteiligtenPartner imVorteil ist.
Bei Listenverbindungen geht es aber
nicht nur um Arithmetik, wie jüngst die
FDPerfahren musste. Nachdem dieSVP
in ihrer jüngsten Plakatkampagne die
anderenParteien alsWürmer darstellte,
die einen Apfel zerfressen,reagierten
die Freisinnigen sauer – und mussten
sich ihrerseits Kritik anhören, weil sie
mit der Urheberin des geschmacklosen

Sujets in drei Kantonen eine Listenver-
bindung eingegangen sind. Eine weitere
solcheVerbindung im Kanton Schaff-
hausen steht auf der Kippe.
Weil Sitzzahl undParteistärken von
Kanton zu Kanton verschieden sind,
sind es auch die Erfolgsaussichten einer
Listenverbindung: Ein Bündnis kann
einerPartei in einem Kanton nützen,
während sie anderswo lediglich als Steig-
bügelhalterin für eine andere Liste fun-
giert. Die Allianz von CVP, GLP, BDP
und EVP solltenicht zuletzt helfen,sich
kantonsübergreifend so abzusprechen,
dass alleParteien irgendwo profitieren.
DasProblemdabei:Listenverbindun-
gen werden von den Kantonalsektionen
abgeschlossen, und diese halten sich
nicht immer an dieWünsche ihrer Mut-
terparteien. So sorgte dieVerbindung
der GLP mit Links-Grün in Graubün-
den demVernehmen nach fürVerstim-
mungenin den nationalenParteizentra-
len. Um die Kantonalparteien für natio-
nale Strategien zu erwärmen, setzen die
Parteien auf intensivenAustausch – und
zuw eilen auf sanften Druck. Die BDP
knüpftihrefinanzielleUnterstützungfür
die Sektionen unter anderem an die Be-
dingung, dass diese die nationale Stra-
tegie für Listenverbindungen mittragen.

Unterlistenverbindung als Pfand


Zusätzlich verkompliziert werden die
Überlegungen durch Unterlistenverbin-
dungen. Diese erlauben es Listen, sich
innerhalb einer Listenverbindung noch-
mals zusammenzuschliessen. Sie sind
nicht nur innerhalb vonParteien (zum
Beispiel zwischen einer Hauptliste und
ihrer Jungpartei) verbreitet, sondern
finden auch zwischen unterschiedlichen
Parteien Anwendung. Diese setzen das
Instrument teilweise alsVerhandlungs-
pfand ein, wie das Beispiel der Grünen
zeigt: DiePartei geht traditionell Lis-
tenverbindungen mit der SP ein (dieses
Jahr einzig imJura nicht).Von diesen
profitieren aber in derRegel vor allem
die Sozialdemokraten als grössererPart-
ner. Die Grünen forderten deshalb dort,
wo noch weitereParteien an derVerbin-
dung teilnehmen, oftmals eine Unter-
listenverbindung – um ihre Chancen auf
einen Sitzgewinn zu verbessern.

QUELLEN: KANTONE, PARTEIEN, MEDIENBERICHTE

Listenverbindungen nach politischen Lagern und Kantonen (mit mehr als einem Nationalratssitz)

Listenverbindungen der Linken: 19

Listenverbindungen der Mitte: 21

Listenverbindungen der Rechten: 9

DieLinke nutzt Listenverbindungen amkonsequentesten


BS BL SH TG

JU SO AG ZH AR AI

NE BE LU ZG SZ SG

VD FR OW NW UR GL GR

GE VS TI

FR und VS: mit CSP

BS BL SH TG

JU SO AG ZH AR AI

NE BE LU ZG SZ SG

VD FR OW NW UR GL GR

GE VS TI

AG: Verbindung aus CVP und GLP
sowieVerbindung aus BDP und EVP

NE: GLP und CVP

VS: FDP
und GLP

SZ: nur GLP und CVP

GR: ausserdem mit BDP

BS: ausserdem mit FDP und LDP

GE: Verbindung aus GLP
und EVP sowieVerbindung
aus CVP und FDP

BS BL SH TG

JU SO AG ZH AR AI

NE BE LU ZG SZ SG

VD FR OW NW UR GL GR

GE VS TI

SP +GPS +Linksaussen


SP +GPS


SP +GPS +GLP


9× 2× 5×
CVP +BDP +GLP +EVP CVP+BDP +EVP FDP+CVP

andere Mitte-Verbindungen

3× 6×
SVP +FDP (+ EDU) SVP +EDU/Lega/MCG
in Verhandlung

Die Kantone AR, AI, OW,NW, UR
und GL haben je nur einen
Nationalratssitz, womit Listen-
verbindungen obsolet sind.

G

des sechsspännigen Bierwagens voller
Fässerattrappen lässt einen Bollen fal-
len.Die Herren der Gesellschaft Grosser
Allmächtiger und UnüberwindlicherRat
vonZuginKostümenausdemMittelalter
hängen ihre Hellebarden an das mitWer-
bung überkleisterte Gerüst des Stadions
undstrebendenFressbudenzu.Zwischen
Ländler undJodel bringen dieLatein-
amerikanischeTrachtengruppe,der Tür-
kisch-IslamischeVerein und dieRadici di
Calabriainih renTrachtenfremdeRhyth-
men hinein;sie stehen für Offenheit und
ToleranzderSchweizundernte nApplaus.
Die Fahnenschwinger werfenroutiniert
ihreTücher in den Himmel. Eine Sech-
serstaffelroterPilatus-Porterschletzteine
Runde über demFestgelände.


Völkerverbindendes Kulturgut


Das gefällt dem Publikum, deshalb
kommt es her. Das gehöre einfach zu
einem Schwingfest, hört man von allen.
KatrinvonHünenbergistmitihremTöch-
terchen imTrachtenröcklein gekommen.
Das Schwingen sei ein wichtigesKultur-
gut der Schweiz. «Ich bin eine extreme
Verfechterindavon,altesschönesKultur-
gut zu pflegen und den Leuten nahezu-
bringen.» Der Sport mit dem Sägemehl
und den Brunnen habe eine langeTradi-
tion.Unddiegehejanichtverloren,wenn
man eineFoodstrasse mit Essen aus allen
möglichenLändern aufbaue.
Zug habe sich erschreckend verän-
dert mit all den internationalenFir-
men und den Expats,die neben der
Stadt her lebten.Da sei es gut und völ-
lig zeitgemäss, dass dasFest so gross
sei, so viel biete und mitten in der Stadt
stattfinde. «Da kommen die Expats gar
nicht darum herum, mitzumachen und
sich für unserKulturgut zu interessie-
ren.» Eigentlich sei es garkein Älpler-
fest mehr,sondern einVolksfest für alle
und jeden,findet Geri ausBaar. Es habe
Bänkeler undHandwerker und immer
mehr Leute aus der Stadt. Diese such-
ten dieTradition und das Heimatgefühl,
das hier vermittelt werde.
«Man setzt sich hin und sagt jedem
Du und kann einfach sein undreden,wie
man will», ergänztRoger aus dem Kan-
ton Schwyz.Da gebe eskeinenRösti-
graben,keinen Standesunterschied, alle
seien auf dem selben Level.Die Gemüt-
lichkeit, die Geselligkeit, die Stimmung,
der Zusammenhalt – das machedas Eid-
genössische aus. Die Schwingfeste, aus
dem alten Zeitvertreib auf den Alpen
entstanden, wurden in ihrer heutigen
Form im19.Jahrhundert etabliert. Man
zelebrierte denHeimatstil, den Alpen-
mythos, um die heterogene Bevölkerung
im Bundesstaat zu integrieren. Ähnlich
verbindend wirken die Spiele heute,
auch wenn sich das Publikum weit über
das Schwinger und Älplermilieuausge-
dehnt hat.


Verkleidete Hirten undSennen


«Bergler hat es schonnoch, bei den
Sportlern und Besuchern, und das
Volkstümliche ist auch noch da», sagt
Dani vomJodlerklub Schlossbrünneli
aus Möriken-Wildegg im Aargau, der
seit 30Jahren ansFest kommt. «Aber
das hier ist aufgebauscht.» Der Medien-
rummel mit der Direktübertragung am
Fernsehen habe zu diesemWachstum
geführt. Und die Sponsoren hätten die
Zus ammensetzung des Publikums ver-
ändert. «Es hat zu viele Leute, die mit
Schwingen nicht mehr viel zu tun haben.
Das ist keine gute Entwicklung», sagt
Dani. Ruedi aus Luzern lässt dieFaust
auf denTisch sausen:«Es ist zu einem
reinen Business geworden.»Das Ziel-
publikum sei ausgewechselt, und die
echten Schwingfans seien in die Min-
derheit versetzt worden. DieVeranstal-
ter hätten fast alleTickets an die Spon-
soren undVerbände gegeben und nur
5000Billetts in den freienVerkauf. «Das
macht mich richtig wütend! En huere
Haberkack ist das!»
Tatsächlich ist das Publikum bunt ge-
mischt.Leute mit Schlips und Kragen,in
Trachten, in Shorts und Hoodies, Junge,
solche mittleren Alters und Ältere,
Leutevom Land, offensichtliche Städter,
trendige Hipster und jungeFrauen in
modischen Kleidern. Die dominierende
Farbe ist Himmelblau: Hirtenhemden
mit Edelweissmotiv, wohin man blickt.
Auch Leute, die in ihrem Leben noch
nie eineKuh gemolken odereinen Käse-
laib gedreht haben,kostümieren sich für
dies eTage als Sennen und Hirten – ein-


fach um zu zeigen:Auch wir gehören zu
dieserWelt.Die Hemden,Blusen undT-
Shirtsmit dem für Zug kreierten Kirsch-
blütenmotiv seien seitWochen derRen-
ner, sagt dieVerkäuferin am Merchan-
dising-Stand voller Gürtel, Käppis,
Schlüsselanhängerund Schnupftabak
im Schwingerstil – auch das ein Zeichen
der Modernisierung undKommerziali-
sierung des Schwingfestes. Die meisten
zögen die Hemden gleich an und fühlten
sich alsTeil einerTradition des Urchigen
und Bodenständigen mitWir-Gefühl. In
einem weiteren Shop an derFressmeile
geht die neuste Kleiderkollektion mit
Bodyware über denLadentisch. Hem-
den, T-Shirts,Pyjamas,Strampelanzüge
mit Motiven von Schwingern in Aktion
und Unterwäsche mit Sprüchen wie «Ich
bin ein Schwinger,Luscht uf en Hose-
lupf» oder «Ohni Hösli spielt da Dialekt
kei Rolle». Das Menschen verbindende
Schwingen ist offensichtlich auch schon
im Schlafzimmer angekommen.
«DieFrauen fahren extrem ab auf die
Schwingerposturen», sagt Geri, der sel-
ber lange geschwungen hat. Und Marta,
eine Kollegin amTisch, ergänzt,die breit-
schultrigen, stiernackigen 100-Kilo-Bro-
cken seien eben herzlich, lieb und be-
scheiden. Im Grunde ver körpern sie
einen Menschentypus, den der Arzt und
NaturforscherJohannJakob Scheuchzer
um 1700 beschrieb und Homo alpinus
helveticus nannte. Ein Menschenschlag,
der durch das Leben in den Bergen ge-

prägt sei und deshalb physiologisch und
charakterlich typisch für die Schweiz sei.
Unverdorben, rein undedel sei er, tüch-
tig, genügsam, fromm und zäh, geformt
durch ein ursprünglichesDasein im Ein-
klang mit der Natur und nahe am glück-
lichen Urzustand.In ihren Gestalten,
ihrer Kraft, Zähigkeit undWillensstärke,
in ihren archaischen Kämpfen zwischen
Mann und Mann und in der Geste der
Fairness und desRespekts,mit der der
Sieger dem Unterlegenenjeweils das
Sägemehl von den Schultern wischt, tritt
der Mythos des schweizerischen Alpen-
menschenin die Gegenwart des Stadions.

Der Muni und der Gabentempel


Der andereKoloss ist Muni «Kolin»,
auch er eineVerkörperung von Stärke
und Schönheit,die durch die Alpen-
natur geformt ist. 1200Kilo bringt das
vierjährigeVieh auf dieWaage. Mäch-
tige, blankpolierte Hörner, ein hoher,
gerader Rist und Masse, viel Masse. Das,
worauf es beim Muni ankommt, bau-
meltrosarot und schwer wie eineTrei-
chel zwischen den Beinen. 20 Kälber
habe er schon auf seinem Hof gezeugt


  • und viele mehr durch denVerkauf der
    Samen, sagt Otto Nussbaumer, auf des-
    sen Hof in Unterägeri «Kolin»gros s und
    stark geworden ist. Er mache auch den
    Natursprung, aber nicht mehr so oft,
    weil er schwer sei und bei derKuhVer-
    letzungsgefahr bestehe.Aber mit seinen
    Eigenschaften sei er sicher ein würdi-
    ger Preis für den Schwingerkönig. Zwei
    Mädchen in Hotpants und mit über dem
    Bauch verknoteten Hirtenhemden ent-
    fernen sich kichernd. Der Gabentempel
    ist dieses Mal entsprechend der Grösse
    des Festes ebenfalls wohlbestückt mit
    Preisen, die ganz der traditionellenVor-
    stellung entspringen, was ein Schwinger
    von heute sich wünschen mag. Eine Har-
    ley-Davidson,Töffs, Scooter, E-Bikes,
    landwirtschaftliche Maschinen, Werk-
    zeuge aller Art,Kompressoren, Hoch-
    druckreiniger, Grillstationen, währ-
    schafte Holzmöbel,einWhirlpool,Auto-
    reifen undTreichelnsonder Zahl– aus
    dem Rahmen fällt einzig eine Bügelsta-
    tion mitDampfbügeleisen.
    Bei den Fressbeizen neben dem
    Mega-Stadion heimelt es unverdrossen.
    Die Traditionalisten und die Moder-
    nisten hocken zusammen an denFest-
    bänken. Es gibt Gnagi mit Herdöpfels-
    alat, Bier und suure Moscht. Und des
    SchweizersWelt ist in Ordnung.


«Es hat zu viele Leute,
die mit Schwingern
nicht mehr viel zu tun
haben. Das ist keine
gute Entwicklung».

Danivom Jodlerklub Schlossbrünneli
aus Möriken-Wildegg (AG)

Roulette
im Wahlbüro
Kommentar auf Seite 11
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