Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

16 SCHWEIZ Samsta g, 24. August 2019


Kriegführung ohne Kampfpanzer


Der Expertenbericht zur Zukunft der Schweizer Bodentruppen greift zu kurz.Von Bruno Lezzi


Der Mitte Mai veröffentliche Grund-
lagenbericht einer Expertengruppe zur
Zukunft der Bodentruppen der Schwei-
zer Armee hatkeine grossenWellen ge-
worfen. Das ist in zweifacher Hinsicht
erstaunlich: Denn erstens ist der Haupt-
harst der Milizangehörigen nach wie vor
in Formationen der Bodentruppen ein-
geteilt; und zweitens werden für deren
Modernisierung in denJahren 2023 bis
2032 Investitionen in der Höhe von rund
si eben MilliardenFranken veranschlagt.
Allein schon deshalb müsste dieses
Dokument eigentlich eingehend disku-
tiert werden.


Mittenin derBevölkerung


Dass eine solche Debatte bis jetzt aus-
geblieben ist, liegt wohl auch an der
mangelnden Leserfreundlichkeit der
rund 150 Seiten starken Broschüre.
Neben Doppelspurigkeiten und Selbst-
verständlichkeiten erschweren vor
allem nicht weitererl äutertesprach-
liche Anleihen aus den Glossaren von
Nato und EU die Lektüre. So hätte bei-
spielsweise der hierzulande kaum ge-
bräuchliche Begriff«Ambitionsniveau»
(«level of ambition») problemlos um-
schrieben werdenkönnen als «strategi-
sche Zielsetzung für das künftige mili-
tärische Leistungsprofil und die dafür
erforderlichen Modernisierungsvorha-
ben». Im Gegensatz dazukommen etwa
die dreiThes enpapiere des Heeres der
deutschen Bundeswehr ohne Gelehr-
samkeiten undWiederholungen längst
bekannter Sachverhalte aus.
Im neusten Expertenbericht der
Schweizer Armee werden – auf einen
einfachen Nenner gebracht – mögliche
Optionen für die künftigekonzeptio-
nelle und materielleAusrichtung der
Bodentruppen untersucht. Die dem
Bundesrat zur Entscheidung unterbrei-
teten dreiVarianten sind dasResultat
einer detailreichen Analyse der strate-
gischenLage und der gegenwärtig herr-
schendenKonflikte sowie der eigenen
Mittel und Möglichkeiten.
Auf dieserBasis hat sich dieLandes-
regierung dazu entschlossen,die Boden-
truppen schwergewichtig auf soge-
nannte hybride Bedrohungen auszurich-
ten und den Hauptakzent nicht auf die
konventionelle Kriegführung zu setzen.
Militärische Einsätze, so gibt sich das
Bundesratskollegium überzeugt, seien
in Agglomerationen, also «mitten in der
Bevölkerung», zu erwarten, wie diesim
Übrigen der frühere britische General
Rupert Smith in seinem oft zitierten
Buch«The Utility ofForce» schon vor
vierzehnJahren genauso geschrieben
hat («war amongst the people»).
DieserRichtungsentscheid bedeutet,
dass in Zukunft für den Ersatz über-
alterter schwererWaffensysteme zwar
immer noch gepanzerte, aber leich-
tere Kampffahrzeuge beschafft werden
sollen. Angestrebt wird überdies eine
modulare Armeestruktur, welche eine
rasche Bildung mobiler situations- und
auftragsgerecht zugeschnittener Ein-
satzkräfte erlauben soll.


Facettenreiches Konfliktbild


Diese Begründungskett e zeigt, dass der
Bundesrat aus der Lektüre der Exper-
tenstudie offenbar den Eindruck gewon-
nen hat, dass hybrideKonflikte haupt-
sächlich durch Operationen geringerer
Intensität charakterisiert werden. Doch
das stimmt nicht.Worauf der amerika-
nische Strategie- und Militärfachmann
Frank Hoffman, der sich seit vielenJah-
ren in grundlegenden Studien und zahl-
reichenFachartikeln mit dem Phäno-
men des hybriden Krieges auseinander-
setzt, nämlich immer wieder hinweist,
ist, dassjenach Lage und entsprechen-
der strategischer Absicht unterschied-
liche Mittel und Einsatzformen zumTra-
gen kommen – also die gesamtePalette
militärischen Gewaltpotenzials.
Das war früher – nur nebenbei be-
merkt – nicht anders: So spurte vor
80 Jahren, am 31.August1939, einevon
SS-Angehörigen als polnischer Über-
fall auf denRadiosender Gleiwitz ge-
tarnteKommandoaktion den Zweiten


Weltkrieg vor, der dann – wenige Stun-
den später – am1. September unter dem
Feuer von Schiffsgeschützen inDanzig
begann.
Im Sinne von Hoffmans Beurteilung
der militärischenVerhältnisse in Afgha-
nistan und im Irak nach 2001 sowie des
Libanonkrieges zwischen den israeli-
schen Streitkräften und dem Hizbul-
lah 2006kennzeichnen Kampfformen,
die konventionelleWaffen und Struk-
turen mit Guerillataktik,Terror und
kriminellen Praktiken unter Nutzung
modernster Informationstechnologie
kombinieren, das hybride Kriegsbild;
asymmetrische Kampfverfahren ge-
hören zwangsläufig dazu. In einem be-
reits 2005 publizierten Artikel mit dem

Titel «The Rise of HybridWars» erin-
nernFrank Hoffman und der frühere
General und ehemaligeVerteidigungs-
ministerJames Mattis an Überlegungen
des einstigenKommandanten des US
Marine Corps General Charles Krulak.
Dieser hat den Sinn für Kampfeinsätze
unterschiedlicher Intensität geschärft,
die gleichzeitig im gleichen Operations-
raum stattfinden.
Auf solche Überlegungen amerikani-
scherFachleute stützte sichder russische
GeneralstabschefWaleri Gerassimow in
seinen 2013 veröffentlichten Überlegun-
gen zu modernen Methoden der Krieg-
führung.Auch wenn in den Operatio-
nen auf der Krim und in der Ukraine
Einsatztaktiken angewandt wurden,
die ins Spektrum der hybriden Krieg-
führung gehören, kann nicht von einer
Gerassimow-Doktrin gesprochen wer-
den. Hybride Bedrohungs- und Kriegs-
formen sind zu facettenreich, als dass
ein facheRezepte für deren Bekämp-
fung genügenkönnten. Undso sollte
nicht übersehen werden, dass gerade
dem forciertenAufbaukonventioneller
Kräfte ein besonderesAugenmerk ge-
schenkt wird.
Ausdruck dieser Entwicklungsind
beispielsweise die feuerstarken,kom-
biniertenTaktischenBataillonskampf-
gruppen, die zwar an die Operativen
Manövergruppen des Kalten Krieges
erinnern, die aber nicht mehr fürrasche

Durchbrüche imRahmen staffelweise
vorgetragener Grossangriffe vorgesehen
sind.Sie dienen,wie dieAuswertung von
Gefechten in der Ukraine durch ame-
rikanische Experten zeigt, vielmehr der
raschen Bereinigung schwierigerLagen
in NachbarregionenRusslands. Und im
amerikanischen Heergeniessen Schutz-
undFeuerwirkungvon Panzern und
Schützenpanzern erneut eine hohe Be-
deutung.

Wenig plausible Szenarien


Natürlich sind auf absehbare Zeitkeine
Szenarien zu skizzieren, in denen die
Schweiz mit schwer gepanzertenFor-
mationen operieren müsste. Darum
handelt es sich aber auch nicht. Es geht
um die intellektuelleRedlichkeit bei
der Begründung der jetzt gewählten
Modernisierungsoption.Wenn ausge-
wieseneKenner der Materie wie Her-
bert McMaster, der Panzertruppen auf
Kompanie- undRegimentsstufe in bei-
den Irak-Kriegen erfolgreich geführt
hat, die Bedeutung von Kampfpanzern
in überbautem Gebiet bekräftigen und
auch bezüglich des Einsatzes in Städ-
ten zu gegenteiligenSchlüssenkom-
men, scheinen sich dieVorbehalte der
Schweizer Experten wohl eher an den
begrenzten finanziellen Möglichkeiten
als an den strategischen und militäri-
schenRealitäten zu orientieren.Jeden-
falls ist es wenig sinnvoll und überdies
zu schematisch, den hybriden Krieg mit
Gewichtsklassen vonPanzerfahrzeugen
zu kategorisieren.
Dieses schematische Denken in
sicherheitspolitischen und militäri-
schen Angelegenheiten zeigt sich be-
sonders deutlich in den Schilderungen
eines möglichen Kriegsverlaufs. Die im
Bericht skizziertenKriegsbildererin-
nern in manchenTeilen an den Kalten
Krieg. Und wie damals wird die schwei-
zerische Sicherheits- undVerteidigungs-
politik auch jetzt quasi unter einer Käse-
glocke betrachtet.
So entsprechen Szenarien mit klar
etappierten Eskalationsstufen nicht
mehr denKonzepten moderner Krieg-
führungin einem breiten Spektrum
von Gewaltmitteln und -möglichkeiten.
Es fehlen ausserdemkonkrete Hin-
weise, wie solche Szenarien beirea-
listischer Betrachtung überhaupt ent-
stehenkönnen. Die noch auf längere
Sicht zurVerfügung stehenden auslän-
dischen Streitkräftepotenzialeerla u-
ben keine in dieTiefe führenden, staf-
felweise vorgetragenen Angriffe bis an
die Schweizer Grenze. Kriegerische
Handlungen würden sich hauptsäch-
lich in den Krisenregionen an derPeri-
ph erie Europas abspielen.

Dass die kritischen Infrastrukturen
der Schweiz jederzeit, das heisst:auch
schon unter den jetzigen weltpoliti-
schenVerhältnissen, ein Ziel möglicher
Aggression darstellen, liegt auf der
Hand. Und dafür gilt es auch die nöti-
gen Abwehrvorkehrungen noch schnel-
ler voranzutreiben, als dies bis jetzt der
Fall gewesen ist.Für Massnahmen zur
nachhaltigen Destabilisierung von Staat
und Gesellschaft, wie im Bericht ange-
nommen, braucht es aber trotz aus-
gefeiltesten Beeinflussungsmethoden
einen politischen,ethni schen undreli-
giösen Nährboden, der in der Schweiz
nicht oder nur sehr bedingtvorhanden
ist. Und wenigrealistisch ist auch das
Bild eines Gegners, der zur Einschüch-
terung der Schweiz vor einem Angriff
Bereitschaftsübungen grossen Stils über
die Bühne gehen lässt. So gesehen sind
auch die skizzierten Schilderungen und
Bebilderungen eines möglichenAb-
wehrkampfes – zumindest in der jetzi-
gen Arbeitsphase – überflüssig.

Milizkader gefordert


Angesichts derraschen Entwicklung
von Robotern und autonomenWaffen-
systemen wäre es hingegen nötig gewe-
sen,sich eingehender mit dieserThema-
tik zu befassen, auch mit Blick auf die
Zukunft der Rolle der Milizkader,die
bezüglich Führungsaufgaben künftig
wohl auf eine harteProbe gestellt wer-
den dürften.Schon unter den gegenwär-
tigen Bedingungen wird dieFührung der
angestrebten kleinen,flexiblen,aber eng
vernetztenFormationen besonders an-
forderungsreich sein, wie beispielsweise
in neuesten britischenKonzepten fest-
gehalten wird.
Unter diesenVorzeichen wäre es
wohl besser gewesen,wenn der Bun-
desrat dieses für die Zukunft derArmee
wichtige Dokument zur Überarbeitung
zurückgewiesen hätte. Nach sorgfältiger
Lektüre hätte sich ein solcher Schritt
aufgedrängt.An einer Schlüsselstelle in
seinem gegenwärtig wieder viel gelese-
nen Buch überFrankreichs Niederlage
1940 («L’étrange défaite») hält der 1944
von der Gestapo ermordete Historiker
Marc Bloch lapidar fest: «Unsere Chefs
bzw.diejenigen,die in ihrem Namen
handelten, waren unfähig, den Krieg zu
denken.» DiesemVorwurf dürfen sich
die politische und die militärischeFüh-
rung nicht aussetzen.

Bruno Lezziwar von 1984 bis Juni 2009
NZZ-Redaktor für Sic herheits- und Verteidi-
gungsp olitikund von 2010 bisEndede s Früh-
jahrssemesters 2019 Lehrbeauftragter am
Inst itutfürPolitikwissensc haftderUniversität
Zürich.

Wiebegegnet die ArmeehybridenKonflikten? Grenadiere im Häuserkampf. CHRISTIAN BEUTLER/ KEYSTONE

Aufsicht rügt


SBB wegen hoher


Fehlerquote


Bund macht Auflagen, umsichere
Zugtüren zu gewährleisten

DAVIDVONPLON

Knapp dreiWochen ist es her seit dem
tragischen Unfalltod eines SBB-Zug-
begleiters. Nun nimmt der Bund die
SBB an die Kandare:Das Unterneh-
men muss umgehend Massnahmen er-
greifen, um die sichereFunktionsweise
der Türen zu gewährleisten, und eine
umfassende Prüfung durchführen.
Die Schweizerische Sicherheitsunter-
suchungsstelle (Sust) hat am Mittwoch in
einem Zwischenbericht festgestellt, dass
die bestehendeParallelschaltung bei den
Türen der Einheitswagen-IV (EW-IV)
fehlerhaft ist. Dies führe dazu, dass die
Türen dem Lokführer als geschlossen
angezeigt würden, obwohl dies nicht der
Fall sei. Die Sust schlug dem Bundesamt
für Verkehr (BAV) deshalb vor, bei den
SBBeineSystemanpassungeinzufordern.
Die Aufsichtsbehördekommt der Emp-
fehlung nach:Die SBB müssen ihre Züge
nunsoumrüsten,dassdieMeldelampeim
Führerstand erst dann erlischt, wenn die
Türen vollständig verriegelt sind.
Ebenfalls müssen die SBB einen Plan
vorlegen,indemsieaufzeigen,wiesiedie
Türsteuerung bei den EW-IV-Waggons
durch ein zuverlässigeres System erset-
zen wollen. Die Sust hat bei ihren Ab-
klärungenalsweiterenMangelentdeckt,
dass auch der Einklemmschutz bei den
Türen diesesWagentyps nicht zuverläs-
sig funktioniert. Bis die SBB die beiden
Massnahmen umgesetzt haben, müssen
siemitbetrieblichenErsatzmassnahmen
die Sicherheit gewährleisten.

512 Mängelan Türen entdeckt


Die SBB haben nach dem Unfall im
Zuge einer Sonderkontrolle gut 384
Zügekontrolliert. Dabei wurden bei ins-
gesamt1536Türennichtweniger als 512
Mängel festgestellt. 66 Mal war der Ein-
klemmschutz fehlerhaft, in sieben Fäl-
len war er gänzlich defekt.Auch wenn
die Fehler unterschiedlich sicherheits-
relevant sind, hält dasBAV dieFehler-
quote für (zu) hoch. Es stelle sich die
Frage, warum die SBB die Mängel nicht
imRahmenderordentlichenInstandhal-
tungundKontrollenentdeckthabe,kriti-
siert dieAufsichtsbehörde.Sie verlangt,
dassdie SBB die Organisation und die
Abläufe beimFahrzeugunterhalt durch
ein externes Unternehmen überprü-
fen lassen. Bis Ende Oktober mussdas
Unternehmen auch dazu ein Pflichten-
heft und einen Zeitplan vorlegen.
Die SBB halten derweil fest, dass die
Sonderkontrollen viel minuziöser durch-
geführt worden seien als normaleKon-
trollen und auch kleinste Mängel–etwa
ein spröder Gummi an derTüre – mit-
gezählt worden seien.Trotzdem sei man
überrascht, dass so vieleFehler ent-
deckt worden seien,räumte SBB-Chef
Andreas Meyer am Freitag an einer
Pressekonferenz ein.

SBB plantSond erkontrolle


Das Bahnunternehmen kündigte an,
sämtlicheAuflagen desBAV fristgerecht
zu erfüllen – und auch die festgestellten
Mängel umgehend zu beheben.Man sei
derzeit daran, betriebliche Ersatzmass-
nahmen zu prüfen, um die Sicherheit
bis zum Einbau der neuen technischen
Komponenten zu gewährleisten.Auch
werde man fristgerecht aufzeigen, wie
der pneumatische Einklemmschutz er-
setzt werdenkönne. Laut ersten Schät-
zungen der SBB wird es rund vier Jahre
dauern,bis sämtliche Einheitswagen-IV,
die aus den1980erJahren stammen,
überein Türsystem verfügen, das dem-
jenigen modernerer Züge entspricht.
Die SBB führen derzeit ebenfalls
eine Risikobeurteilung der ganzen Flotte
durch, wie es zusätzlich vomBAV gefor-
dert wird. Eine erste Grobeinschätzung
hat e rgeben, dass auch 90 Intercity- und
232 Eurocity-Wagen einer Sonderkon-
trolle unterzogen werden müssen, da sie
über ähnlicheTürsysteme verfügen. Die
restliche Flotte verfüge über modernere
Türsysteme mit zusätzlichen Sicherheits-
elementen, so dasBahnunternehmen.

Die im Bericht
skizzierten Kriegsbilder
erinnern in manchen
Teilen an
den Kalten Krieg.
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