Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Emissionsfrei und ziemlich leise –


elektrobet rieben e Boote erober n den ZürichseeSEITE 18


In der SAC-Hütte Martinsmad im Glarnerland


bewirtet ein Zürcher Umsteiger-Paar die Berggänger SEITE 19


Zürcher Affären mit der kühlsten Versuchung


Glacemanufakturen erobern in der Stadt Zürich mehr und mehr Terrain – eine kleine Geschichte der Eiskunst


URS BÜHLER


Mousse au Chocolat ist immer eine
Sünde wert,Weihnachtsguetzli führen
uns direkt zurück in die Kindheit, ge-
lungeneTiramisu insParadies.Aber für
den Sommer kann nur diese Schlecke-
rei stehen, und ihre Sortenvielfalt ver-
eint alle diese Aromen: Glace bietet den
angenehmstenWeg, sich dieVielfalt die-
ses Lebens auf der Zunge zergehen zu
lassen, von mürbe bis süss. Kein anderes
Genussmittel verknüpfen wir derart mit
der Vorstellung von ewigenFerien,kei-
nes schafft es, beim blossen Anblick ent-
sprechende Gefühle zu wecken.


In Passion vereint


Man beobachte nur, wie Touristen und
Einheimische in Zürich an warmenTa-
gen einträchtig schleckend auf den
Mäuerchen und Bänkchen sitzen, in
einerPassion vereint. Sie betrachten
versonnen dieVerheissung, die sich im
Becher oderCornet vor ihnen auftürmt,
schliessen dieAugen und tauchen die
Lippen ein. Man wird wieder Kind.
Dabei frönten wir als Dreikäsehochs
eher billigem Eis am Stiel mit Namen
wie Rakete, Vampir oderWinnetou,
manche Sorten machten blaue Lippen
wie Heidelbeeren und alle einen Hei-
denspass. Zu besonders feierlichen Ge-
legenheiten nur gab’s die Sprüngli-Chü-
beli, Himbeer,Vanille, Schokolade, die
in uns die Ahnung einpflanzten, dass
der Eishimmel nochVerheissungsvolle-
res bereit hielt als Stängeli-Glace. Die-
sen Faden nahmen wir in der Studenten-
zeit auf, als wir für den Glace-Garten im
Steinfels-Areal und dessen hinreissendes
«FruszenDanzapfen»-Eis aus Kleinpro-
dukt ion schwärmten.Kurz darauf kam
Mitte der neunzigerJahre auch Sorbetto
ins Spiel,das eineReferenz geblieben ist:
Was Heinz Entzeroth nochheutean der
Neptunstrasse fertigt und in gelb-weiss
gestreifte Becherchen füllt,brachte gött-
licheFrische und mitKombinationen
wie Ingwer-Limette einen SchussKühn-
heit ins Spiel. Ein Anfang war gemacht.


DerVorsprungder Italiener


Schon die altenRömer mögen zwar auf
die Idee gekommen sein,sich mit aroma-
tisiertem Gletschereis zu erfrischen; und
das findet in Sizilien inForm der Gra-
nita, die wir in Zürich leider bis heute
nicht in gewünschter Qualität gefunden
haben, nochimmer seinen unvergleich-
lich erfrischenden Nachhall.Die Idee der
gefrorenen Desserts auf Milchbasis aber
wurde vor rund 750Jahren von Marco
Polo aus dem Orient ins Abendland ge-
bracht und danach von den Zucker-
bäckern seiner Heimat weiterentwickelt.
So stiegen die Italiener zu den Meistern
der Eiskunst auf, die ja gewissermassen
Heiss und Kalt vermählt, Süd und Nord.
Auch in derMutter aller Gelaterien,dem
Pariser «Café Procope», war vor gut 350
Jahren ein Italiener tonangebend, ein
Hofkoch des Sonnenkönigs.
Natürlich gibt es nicht nur die italieni-
sche Tradition (die allerbeste Pistazien-
Glace,handgerührt im Metalltopf auf
Eiswürfeln, hatten wir beispielsweise
kürzlich in einem kleinen afghanischen
Lokal beim Limmatplatz). Aber auch
für das neuzeitliche Zürich gilt: Erst als
mit der sogenannten Mediterranisierung
dieser Stadt auch glacetechnisch die Ita-
lianità Einzug hielt,schmolzen die Her-
zen dahin.Dass dieser Sprungrelativ
spät geschah, mag mit dem beachtlichen
Standard der hiesigen Glace-Industrie
zu tun haben: Die Mövenpick-Doppel-
rahmbomben galten allzu lange als In-
begriff der hiesigen Eiskultur. Zu den
Ersten,die diesem Platzhirsch vor genau
zwanzigJahren mit italienisch geprägter
Manufaktur die Stirn boten, zählte der


noch bestehendeFamilienbetrieb Leo-
nardo. Langsam schwante allen,die eini-
germassen beiSinnen waren: Vor Gelato
artigianale, haus- und handgemacht im
italienischen Stil mit viel Milch und ohne
künstliche Zutaten, muss die Industrie
die Waffen strecken.
An dieseVorarbeit anknüpfenkonnte
die 2010 gegründete Gelateria di Berna,
als sie am Zürcher Brupbacherplatz vor
zweiJahren ihren erstenLaden aus-
serhalb der Bundesstadt eröffnete. Er

schlug ein wieeine Eisbombe. Man steht
da noch heute Schlange.Allein schon das
schlichteFior diLatte, stets ein Grad-
messer für die Qualität des Angebots,
war und ist eineWucht. Darüber hinaus
aber sprengte dasTeam die Grenzen der
Sortenvielfalt:Es kombinierte Himbeere
mit Ingwer, Randen mitWasabi,Ananas
mit Basilikum.
Das ist fast schonrevolutionär in
einem auf Beständigkeit bedachten
Land, in dem noch immerVanille das

populärsteGlacearoma sein dürfte und
höchstens in Feinschmeckerkreisen
etwaTomatensorbet als wunderbarer
Zwischengang geschätzt wird.Wie viel
Potenzial da noch brachliegt, sieht übri-
gens, wer den Stand des Maître Glacier
«Fenocchio» in Nizza besucht:Da wird
von Jasmin überVeilchen und Olive bis
zu Avocado und Coca-Cola so ziemlich
alles zu Glace gemacht (wenn auch nicht
alles wirklich funktioniertimGaumen).
Opulente Coupes mögen aus ernäh-

rungstechnischen Gründen etwas aus
der Mode gekommen sein, die nack-
ten Kugeln jedoch sind in allen Mün-
der n od er Mäulern: Es ist sogar eine
Hunde-Glace erfunden worden (wobei
die Vierbeiner natürlich nicht als Ingre-
dienz, sondern alsKonsumenten vorge-
sehen sind).
Spätestens seit dem Siegeszug der
Gelateria di Berna, deren Erfolg gewiss
ein halbesDutzend weitere Anbieter an-
gezogenhat, wird Zürich von Gelato-Fie-
berschüben geschüttelt.Es ist der Eis ge-
wordene Widerstand gegen den Irrglau-
ben, man müsse uns im Dienst derVolks-
gesundheit den Zuckergenuss madig
machen. Erstklassige Glacen allerdings
punkten ohnehin nicht mit Übersüsse,
sondern mit unvergleichlichem Schmelz:
Das Geheimnis liegt mindestens so sehr
in derTextur wie im Aroma.

Selbstversucheerlaubt


Zahllose Kleinproduzenten, vonBau-
ernhöfen bis zur Dessert-Königin Miss
Marshall, liefern heute ihre Kreatio-
nen. In Zürich gehört das Eisschlecken
mittlerweile derart zum Lebensgefühl,
dass dieJungfreisinnigen allen Ernstes
dam it Politik machen:Aufgrund ihrer
Petition erhöht der Stadtrat nächs-
tes Jahr die Zahl der offiziellenVer-
kaufsstände am See von 13 auf16. Er
schreibt den Betreibern so manches
vor, nicht aber die Orthographie. Doch
sie sollen bitte «Glace» auf ihrenTafeln
nicht mit einemAccent aigu schreiben
(auch wenn dieAussprache im Dialekt
ihn nahelegt). DieKoryphäen auf die-
sem Gebiet, dasThuner Ehepaar Mari-
anne undJean-PierreDuboux,Verfas-
ser der nach ihnen benanntenWör-
terbücher der gastronomischen Be-
griffe, haben hierzu mitVerweis auf die
Sprachgeschichte eine klare Meinung:
Es kann nur«Glace» sein.
Die Eiskunst is t eine hoheKunst,das
weiss jeder, der in der heimischenKüche
selbst schonVersuche unternommen
hat, vom Semifreddo bis zum klassischen
Sorbet , mit oder ohne Eismaschine. Falls
eine solche fehlt, schwören experimen-
tierfreudige Anhänger der Molekular-
küche auf denTrick mit flüssigem Stick-
stoff, aber der ist nicht wirklich alltags-
tauglich.Da bewährt sich schon eher die
simp elste Methode: Man gibt gefrorene
Früchte mit einem SchussJoghurt und
beliebig viel Zucker in einen potenten
Mix er und erhält innert Sekunden ein
sehr passables Halbgefrorenes.Aber ein
Gelato artigianale vom Profi ersetzt es
natürlich nie und nimmer.

Zehn empfehlenswerte kleinere Glace-Adressen in Zürich


„Sorbetto:Der Pionierbetrieb ist spe-
zialisiert auf Sorbets wie Ingwer-Limet-
ten, auch seine Sauerraum-Glace ist
zum Klassiker geworden. EinWipkin-
ger Ableger hat leider nicht langeüber-
lebt, aber nebst dem Produktionsstand-
ort an der Neptunstrasse 49 in Hottin-
gen dienen zahlreicheLäden und Lo-
kale alsVerkaufsorte.

„Leonardo:War vor genau zwanzig
Jahren in Zürich derVorreiter der ita-
lienischenTradition und bietet noch
immerkonstant gute Qualität. Die Pro-
duktionsstätte ist inzwischen vom Enge-
quartier in dieRegion verlegt worden,
der Hauptladen aber befindet sich wei-
terhin in der Sihlcity, und vor dem Glo-
bus am Bellevue hat es einen Stand.

„Tellhof: Diese Gelateria im Kreis
4 gibt den famosen Glacen derFirma
Amore Mio aus Oberhasli, seit zwanzig
Jahren bekannt durch das mobile Ange-

bot «Gelati am See», ein festes Zuhause.
Die breit e Palettereicht von Mohn bis
Ingwer/Zitrone, die Qualität gehört zum
Besten, was man in der Stadt erhält.

„Gelateria di Berna:Hat am Brupba-
cherplatz inWiedikon mit frischer Inter-
pretation von Italianità und hervor-
ragender Qualität zu vernünftigen Prei-
sen viel Leben in die Zürcher Glace-
Landschaft gebracht. Die Trefferquote
in derAuswahl ist sehr hoch, von Him-
beer-Ingwer überFior di Latte bis zu sai-
sonalen «Meertrübeli».

„Eisvogel:Die einstige «Alpenrose»-
KöchinTine Giacobbo belieferte mit
ihremLabel «Eisvogel» schon diverse
Betriebe und verkauft die Kreationen
auch in ihrer «Zentrale für Gutes» an
der Ottostrasse15 im Kreis 5. Sie be-
schränktsich auf ganz wenige, wech-
selnde Sorten, deren Aromen dafür
umso intensiver sind.

„Him u & Höll:Soeb en ersteröffnet,
vertreibt dieses Lokal an derKorn-
hausbrücke im Kreis 5 das Eis der Olt-
ner Firma Kalte Lust. DieAuswahl ist
breit und kreativ;die vom Verkäufer
empfohleneRaffaelo-Glaceschmeckt
prima, die Sorten Granatapfel undTirg-
gel überzeugen uns nicht ganz.

„Rosso Arancio:Eine starke Dosis
Italianità bietet diese Gelateria an der
Stauffacherstrasse 37 im Kreis 4. Die
Textur vieler Sortenist besondersge-
schmeidig, die Sortenviel falt wird kaum
von einem anderen Anbieter in der
Stadt erreicht.

„Vanini:Nebst all den Neueinsteigern
hat sich still auch einTessinerTradi-
tionsbetrieb eingenistet: Der1871 ge-
gründet Chocolatier aus Lugano ist
an derKuttelgasse17 eingezogen, wo
vorherLadurée eingemietet war.Von
der kleinen Gelato-Auswahl begeistert

uns Nocciole Piemonte ganz besonders,
aber auch das Sorbet ausdunkler Scho-
kolade gefällt.

„Sprüngli:Seine Glace-Becher ge-
hören noch immer zum Besten, was
man in der Stadt von grösseren An-
bietern erhält.Wunderbar erfrischend
ist etwa das Schokoladensorbet, schön
fruchtig das Himbeersorbet. EinParty-
Hit sind die entsprechend geformten
Glace-Früchte, und dasköstliche Man-
darinen-Eis in der Schale macht den
Winter zur Glace-Saison.

„Vollenweider: Der Winterthurer
Chocolatier hat sich in seiner Zürcher
Filiale beim Stadelhofen auch als Eis-
künstler einen sehr gutenRuf erarbeitet.
DasAngebot ist in Bechern und neuer-
dings auch als Cornets erhältlich, von
den zumTeil überraschendenKombi-
nationenkönnen wir etwaJoghurt/Sea-
berries empfehlen.

Kühle Kreationen aus kleinenBetrieben machen industriell hergestellten Glacen zunehmendKonkurrenz. SIMONTANNER / NZZ
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