Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 ZÜRICH UNDREGION 19


ZÜRICH, 2000 METER ÜBER MEER


«Alle, die ankommen, sind verschwitzt»


Majestätisch thront die SAC-Hütte Martinsmad auf einer Felsnase mitten im Weltnaturerbe Sardona


STEFANHOTZ (TEXT), KARINHOFER (BILDER)


Von der Matt aus, einer grünenTer-
rasse mit weidenden Schafen im sonst
stark abfallenden Gelände, erkennt man
sie bereits:Fast majestätisch thront die
SAC-Hütte Martinsmad auf einerFels-
nase über mehrerenWasserfällen des
Tschingelbachs. Bevor man sie erreicht,
wird es noch einmal gäch. In engen
Kehren windet sich derWeg densteilen
Hang hinauf. Stellenweise bieten von
guten Geistern fest verankerte Holzträ-
mel den Schuhen sicheren Stand,oft bil-
det das Schiefergestein natürlicheTritte,
aber nicht immer. Dort ist man dankbar
für dieam Fels angebrachtenKetten,die
zusätzlich Halt bieten.
Wenn man sich schon schwer atmend
wundert, ob denn die 500 Meter Höhen-
di fferenz ab der Niderenalp nicht längst
überwunden seien, steht nach einer
Biegung desWegs das massive Stein-
haus mit denroten Fensterläden plötz-
lich direkt vor einem. Oberhalb der
Hütte bilden das Gletscherhorn und die
Zwölfihörner den Horizont.


An derVia Glaralpina


Jetzt einen sauren Most, denkt sich der
Schreibende.Theres und Geri Meier be-
warten, wie es so schön heisst, die Hütte
in der vierten Saison, die jeweils vonJuni
bis September dauert. Beide sind begeis-
terte Berggänger.Geri bestieg alle 48
Viertausender der Schweiz, seineFrau
war oft mit dabei.In derMartinsmad ist
diese Erfahrung wichtig. Die Hütte auf
fast genau 2000 Metern über Meer an
der Grenze zu Graubünden istAusgangs-
punkt für Bergtouren im Sardona-Geo-
park, durch das Martinsloch nach Flims
oder über den Gletscher desVorab, so-
lange es ihn noch gibt.
«Zu unserenAufgaben gehört auch,
den GästenAuskunft über dieRouten
zu geben», sagt Geri. Die Hütte istRast-
platzan der kürzlicheröffnetenVia Gla-
ralpina , auf derWeitwanderer in19 Etap-
pen das ganze Glarnerland über zahlrei-
che Gipfel um-rundenkönnen.
Von der Herkunft her sindTheres
und Gerikeine Bergler, sondern woh-
nen, wennsie nichtauf der Hütte sind,
in Dürnten. Geri war 27Jahrelang Be-
triebsleiter des Pflegezentrums Seeblick,
das die Stadt Zürich bis 2017 in Stäfa be-
trieb und das er zu einemKompetenz-
zentrum fürMenschen mit Demenz ent-
wick elte. Seine Frau sorgte für die vier
Kinder, den grossen Garten undkochte
häufig in Jugend+Sport-Lagern. Als
Zürich den Seeblick aufgab,sollte der
heute 64-jährige Geri eine neueAuf-
gabe im städtischen Heimwesen über-
nehmen.Doch der lange, gemeinsam ge-
hegteWunsch, eineSAC-Hütte zu über-
nehmen, war stärker.
Die beiden Umsteiger, nichtAusstei-
ger, absolvierten hintereinander auf der
Etzlihütte im Maderanertal ein Prakti-
kum.Das ist wichtig.Sie haben erlebt,
wie ein befreundeter Bergsteiger danach
den Traum vom Hüttenwart begrub.An
einem schönenWochenende sei man
permanent aufTrab, da könne man Pri-
vatsphäre vergessen,sagt Theres. Dann
wieder müsse man es aushalten, wenn
es tagelangregne und niemand hoch-
komme. Sie entschlossensich, dasAben-
teuer einzugehen, Geri liess sich früh-
pensionieren.
«Es war die beste Entscheidung, die
wir je getroffen haben.»Das ist auch


daran spürbar, wie herzlich sie mit den
Gästenumgehen. «Als Hüttenwart muss
man dieMenschen gern haben»,sagt
Geri.Nicht nur die überwältigendeLand-
schaft macht denReiz dieserAufgabe
aus. Dazu gehört,dass dieAbgeschieden-
heit gesellschaftliche Unterschiede ein-
ebnet.«Alle, die hier oben ankommen,
sind verschwitzt», sagt Theres lakonisch.
Die beiden geniessen die interessan-
ten Begegnungen. Übernachten weni-
ger als zehn Gäste, setzen sie sich beim
Nachtessen zu ihnen, nachdem sie ge-
fragt haben, ob das in Ordnung sei. Sie
erzählen, wie sie einmal mit zwei Pfar-
rerinnen und drei Zahnärzten, die sich
nicht gekannt hätten, einen spannen-
den Abend verbrachthätten. Schwierige
Gäste gibt es selbst in dieser Höhenlage


  • aber selten.Am Essen kann es nicht lie-
    gen. Theres zauberte beim Besuch eine
    vorzügliche Glarner Spezialität, Netz-
    und Jägerbraten, auf denTisch.


1907 von Schaffhausernerbaut


Die Martinsmadhütte ist gut in Schuss,
aberrelativ einfach eingerichtet. Die
Solaranlage liefert Strom für denTief-
kühler und das Licht. Die Wasch-
maschine braucht den Generator,und
wenn der läuft,wird auch gestaubsaugt.
Die modernenToiletten befinden sich
in der Hütte, aber eineDusche gibt es
nur ausnahmsweise. Die Unterkunft
mit 40 Plätzen besteht aus Massen-
lagern, abermit vielRaum, esgibt so-
gar eine Kinder-Lounge.

Die Martinsmad gehört der Schaff-
hauserSAC-SektionRanden.Dass sie
1907 als hundertsteSAC-Hütte genau
hier entstand,liegt an höherer Gewalt.
Die Gründer hatten einen zweiten Stand-
ort im urnerischen Brunnital imAuge.
Doch als sie ihn1905 besichtigten, wur-
den sie von einem Steinhagel derart er-
schreckt, dass sich die Sektion einstim-
mig für die Martinsmad entschied, wie
aus derJubiläumsschrift zum hundert-
jährigen Bestehen hervorgeht.
Die erste Hütte war ein geschindelter
Holzbau.1938 wurde sie erweitert, indem
man rings um das Holzhaus steinerne
Mauern hochzog. Seither ist es wohl die
einzigeSAC-Hütte geblieben, die im
Innern beim Eingang einen Brunnen hat.
Der Umbau fand in nur zehnWochen
statt, in denen 45Tonnen Material vom
Tal 10 00 Meter hochgebuckelt wurden.
Die grösste Herausforderung im Hüt-
tenbetrieb seien dieTagesgäste, sagt The-
res, denn ihre Zahl sei schwer abschätzbar.
Manchmal zeigt am Sonntag der Blick
hinunter auf die Matt, ob sie noch einen
Kuchen backen muss.Angestellte hat das
Hüttenwartpaar nicht.Dann würde gar
nichts herausschauen, sagt Geri.
Doch an denWochenenden haben sie
freiwillige Helfer. Diese erhalten zwar
einen Betrag, aber die meisten wollen ihn
gar nicht. Geri undTheres spenden das
Geld – derzeit an die Stiftung Lebens-
freude inFrauenfeld,die humorvolle Be-
suche bei Menschen mit Demenz ermög-
licht.Während unseres Besuchs half ein
alter Bekannter aus Solingen beiDüssel-

dorf mit einem Begleiter aus. Hartmut, in
lei tenderPosition in der Diakonie tätig,
und Bernd, pensionierter Beamter des
deutschenLandwirtschaftsministeriums,
besorgten einWochenende lang den Ab-
wasch. Sie hätten sich dafür fast bewer-
ben müssen,sagen beide lachend.
Die Gäste stammen vor allem aus der
Nordostschweiz,viele aus Zürich.Im ver-
gangenenJahr waren es, begünstigt durch
das schöneWetter, 904 Übernachtun-
gen und1799 Tagesgäste.Wichtig ist das
Verhältnis zu den Elmern. Die Martins-
mad ist dieeinzige SAC-Hütte auf Ge-
meindegebiet, und dieVorgängerin als
Wartin war während15 Jahren eine Ein-
hei mische.Theres und Geri habenvon
An fang an alles, was verfügbar war, in
der Region eingekauft, was im Dorf mit
Freuderegistriert wurde. Mittlerweile
gibt es Elmerinnen und Elmer, die im
spätenFrühling zur Hütte hochsteigen,
einfach, um «die Zürcher» zur neuen
Saison zu begrüssen.

2,5 Kilometer NZZ Visuals/cke.

Martinsmadhütte

Elm

Glarus

ZÜRICH,
2000 METER ÜBER MEER
Wir haben 5von insgesamt 15 3 Hütten
des Schweizerischen Alpenclubs (SAC) be-
sucht, die entweder einer der elf Zürcher
SAC-Sektionen gehören odervon Zürcher
Hüttenwarten betreutwerden. Mit dieser
Folge schliessen wir die Serie ab.

nzz.ch/zuerich

Werden anspruchsvollenAufstieg aus Elm im Glarnerland schafft, den begrüsst das Hüttenwartehepaar Theres und Geri Meier.

NACHTFALTER


Die Gesichter


der Nac ht


Urs Bühler∙Noch eineWoche, dann
droht es ganz zu kippen: Der September
naht und mit ihm dasEndedes meteo-
rologischen Sommers.Hat dieser seinen
schrittweisenRückzug nicht sogar schon
begonnen?Wenn derFalter in den letz-
tenTagen nach halb durchwachten Näch-
ten den späten Morgen begrüssen wollte,
raubte ihm Hochnebel die Sicht auf die
Sonne. «Es herbstelt», wisperte er dann
gutschweizerisch und schaute sich nervös
nacheinemWinterlager um.
Das war vielleicht etwas übertrie-
ben, zumal die Hitze diesesWochenende
noch einmal zurückkehren soll.Aber die
Melancholie verschattet einem mitunter
den Blick, selbst wenn man überFacet-
tenaugen verfügt. Noch einmal schaut
der Falter zurück auf einen Sommer, der
so gross war, dass selbst Rilke kein Wort
dafür gefunden hätte. Und während die
scheidendeJahreszeit bereits in ihreTeile
zerfällt, fragmentiert durch die Erinne-
rung , pickt er einzelne Stücke auf und
versucht, aus den Scherben ein Puzzle
zusammenzufügen.Das Mosaik gelingt
nicht, aber einige Bilder der vergangenen
Monate zucken auf und bleiben haften.
Da war zunächst dieser magische
Moment am Zürcher Bürkliplatz. Zuerst
hatte das Insekt auf dem «Bauschänzli»,
dieser Sommerinsel par excellence,an
einemPoulet von erschütternderTro-
ckenheit genagt. DerKellner brachte
nach kurzer Begutachtung und entschul-
digendenWorten ein anderes Hühnchen
(eine längere Geschichte, die man in
einer anderenRubrik etwas ausbreiten
müsste), und rundherum herrschteFest-
stimmung:DieTanzbühne war bevölkert,
die Hüften wackelten zu Hits von Abba
und anderen Evergreens, man schunkelte
auf denBänken.Kurz: Es war genau so
betriebsam, fröhlich und voll, wie es sich
für einen Biergarten gehört.
Der eigentliche Zauber aber fand auf
dem Nachhauseweg statt, beimDurch-
queren der Stadthausanlage kurz nach
Mitternacht: Leise wehte es von deren
erleuchtetem Musikpavillon her jazzige
Rhythmen herüber, knapp einDutzend
Paare flogen im gedämpften Licht über
den Boden, einReigen zwischen Lindy-
Hop undSwing. Es war ein Bild voller
Anmut undPoesie, in dem sich das ganze
Leben zu spiegeln schien. Ein anderes,
weit düstereres Gesicht der Nacht indes
prägt die zweite Erinnerung.
Ihre Spur führt zum Idaplatz, diesem
Sommerplatz schlechthin: Kies knirscht,
Pétanquekugelnkollern, und wie an der
Perlenschnur aufgereiht buhlen die Lo-
kale um die Gunst der Nachtschwärmer
in diesemViertel, das man leicht mit
einen hippen BerlinerAusgehviertel ver-
wechselnkönnte.
Der Falter aber schwebte weit über
dieser Szenerie, er war auf einer schma-
len DachterrassezueinerprivatenFilm-
vorführung unter freiem Himmel ge-
laden. Es lief «Nightcrawler», diese
ebenso brillante wie bedrückende Studie
eines Charakters und eines Metiers, die
an Journalistenschulen zum abschrecken-
den Pflichtstoff erklärt werdenkönnte:
Jake Gyllenhaal steigertsich in derRolle
einesrasenden Möchtegernreporters in
eine Gier nach Sensationen.
Ab und zu hielt derFalter inne, lehnte
sich übers Geländer und schaute hinab
in den Abgrund, auf die Schirme des
Idaplatzes, von dem ein Gemurmel und
Geklapper aufstieg, gelegentlich auch
ein Ruf oder Schrei.Realität undFik-
tion vermengten sich in dieser kleinen
Dachgesellschaft, und als sich der wirk-
liche Nachthimmel über dieFilmszenen
senkte, stellte sichein erhabenes Ge-
fühl ein, fast wie auf der Piazza Grande
(nur mit etwas kleinerer Leinwand). Der
Sommer war hier wie dort mit Händen
zu greifen.Daran denkt derFalter zu-
rück, ehe er sich lamentierend aufWin-
ter einstellt.Dabei ist doch dieTagund-
nachtgleiche und damit der astronomi-
sche Herbstanfang noch genaueinen
Monat entfernt.
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