Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 WIRTSCHAFT 27


Traditionelle Reiseanbieter gehen baden


Für den internationalen Tourismussektor endet ein schwieriger Sommer – das Reiseverhaltender Kundenändert sich


DANIEL IMWINKELRIED


Es war ein schöner Sommer, allerdings
bloss für dieTouristen und nicht für die
klassischenReiseveranstalter. In den
vergangenen Monaten bekamen sie
mit vollerWucht zu spüren, welchem
Wandel ihre Branche unterworfen ist.
Das Nachfrageverhalten derReisenden
lässt sich immer schwieriger prognosti-
zieren, und dann fordern die Newcomer
aus der Internetwelt die etablierten
Anbieter mit viel Selbstvertrauen her-
aus. «Wir wollenReiseveranstaltern wie
TUI undThomas Cook Marktanteile
wegnehmen», sagt Marco Corradino,
CEO des in Chiasso ansässigen Online-
Reiseanbieters (OTA) Lastminute.com.
FriedrichJoussen, der Chef von Euro-
pas grösstemReiseveranstalter TUI, hat
jüngst seinerseits betont, dass er aufkei-
nenFall Terrain preisgeben wolle.
Gerade diesen und vergangenen Som-
mer war das allerdings ein schwieriges
Unterfangen. Die klassischenReisever-
anstalter taten sich schwer wie kaum je
zuvor. Sie hatten Hotel- und Flugkon-
tingente für Spanien erworben,konnten
diese dann aber nicht zu den von ihnen
erwarteten Preisen absetzen. Spanien
war aus der Sicht vieler sonnenhungriger
Nordeuropäer zu teuer geworden,was sie
davon abhielt, dort ihreFerien zu ver-
bringen.Stattdessen buchten sie inÄgyp-
ten,Tunesien und derTürkei – also aus-
gerechnet inLändern, die sie seit Mitte
diesesJahrzehnts ausAngst vorAnschlä-
gen gemieden hatten.Erstaunlich ist,wie
heftig dieser Richtungswechsel vonstat-
tenging.DerSchweizerReiseveranstalter
Hotelplan hat diesen Sommer 40% mehr
Türkei-Trips verkauft als 2018. Im Fall
vonTunesien lag der Anstieg bei 20%.


Ferien im Herbst stattSommer


Solche Bewegungen machen es für die
Reiseanbieter schwierig, die Aktivi-
täten zu planen – zumal das Sommer-
geschäft ohnehin harzte. DieVeranstal-
ter konnten in den vergangenen Mona-
ten nicht so vieleBadeferien absetzen
wie erhofft. Und nunrätseln sie darüber,
warumdas sogewesen ist. Oft heisst es,
dass im Sommer 2018 schönesWetter
geherrscht habe und das habe dieKun-
den schon immer davon abgehalten, im
Jahr darauf weit imVoraus die Sommer-
ferien zu planen.


Daneben gibt es imReisegeschäft
aber strukturelleVeränderungen. Die
Sommerferien verlieren an Bedeutung,
das Herbstgeschäft wird gewichtiger.
Hotelplan Schweiz macht derzeit rund
30% desUmsatzes im Sommer und 25%
im Herbst.Vor fünfJahren lautete dieses
Verhältnis noch 35 zu 20%.
Wie es scheint, tun sich die klassi-
schen Reiseveranstalter sehr schwer,
sich auf solche Neuerungen einzustellen.
DERTouristik Suisse (ehemalsKuoni)
etwa durchlief ein einschneidendesRe-
strukturierungsprogramm und wird nach
mehrerenVerlustjahren erst Ende 20 19
wieder ein mehr oder weniger ausgegli-
chenes Ergebnis (Ebita) erzielen.Hotel-
plan zeichnet sich auch nicht durch eine
hohe Profitabilität aus.Am schlimmsten
erwischt hat es allerdings den britischen
KonzernThomas Cook. Er kämpft mit
einer hohenVerschuldung, die teilweise

auch auf die Übernahme einesRetail-
Tour-Operatorszurückgeht.Das Unter-
nehmen schliesst derzeitFilialen und
baut eigene Hotels, um einen höheren
Anteil derWertschöpfung selber ver-
buchen zukönnen.
Mit dieser Strategie folgtThomas
Cook dem grossenKonkurrenten TUI,
der massiv in eigeneResorts und vor
allem Kreuzfahrtschiffe investiert.Aller-
dingsfehlt den finanziell schwer ange-
schlagenen Briten derzeit die Kapital-
kraft, um mit derselbenKonsequenz
vorzugehen wie TUI, und völlig risikolos
ist die Strategie des deutschen Unter-
nehmens ohnehin nicht.Falls derTou-
rismus wegen Anschlägen, Seuchenoder
Kriegenin eine Krise geriete, sässe TUI
auf einem riesigen Kapitalbestand, der
sich nicht mehr amortisieren liesse.
WelcheLast ein grosser Maschinen-
park sein kann, erfuhr das TUI-Manage-

ment diesen Sommer. Laut demFir-
menchefJoussen ist das jüngste Quar-
talsergebnis seinerFirma auch deshalb
schlecht ausgefallen, weil es Überkapa-
zitäten im Fluggeschäft mit Spanien gab.
Air Berlin ist zwar vor zweiJahrenunter
anderem aus diesem GrundKonkurs ge-
gangen, die Flugzeuge sind in der Mehr-
zahl aber weiterhin in Betrieb – einfach
für andereAirlines.
Das TUI-Management beruft sich in
diesem schwierigen Umfeld auf seine
«Trichter-Strategie». Die deutsche Ge-
sellschaft weist rund 21 Mio.Kunden
auf, die Kapazitäten in den Hotels und
auf den Schiffen sind dagegen um eini-
ges niedriger. Der Maschinenpark lässt
sich daher gut auslasten, wenn es ge-
lingt, die Kunden möglichst in die
eigene Infrastruktur zu lotsen.Dabei
laufen die Geschäfte desto besser, je
grösser derTrichter ist. Um den Ab-

satz weiter zu skalieren, wirdTUI die
Online-Plattformen ausbauen.

Auf die IT kommt es an


Sorgen, dass sie auf Überkapazitäten
sitzenbleiben,kennenOTA wieLast-
minute.com oder Expedia nicht.Für die
Nutzer stellen sie gleichsam in Echtzeit
Pakete aus Flug und Übernachtung zu-
sammen.Auch verkaufen sie nicht ein-
fach Wochenarrangements,stattdes-
sen können dieKunden dieReisedaten
selber bestimmen. Im Branchenjargon
nennt man dieses Schnüren vonReisen
«dynamic packaging». Dabei kommt es
ganz auf den Preis und die Geschwindig-
keit der IT an; hier scheinen die New-
comer den meisten Etablierten überle-
gen zu sein. Und diese wissen mittler-
weile ganz genau, was unter dem viel-
zitierten Schlagwort «Disruption» im
Tourismusgeschäft zu verstehen ist.
Im ersten Semester 2019 ist denn
auch derVerkauf vonPaketen beiLast-
minute.com besondersrasch gewachsen.
Nach einem völlig missglückten Börsen-
gang im April 2014 gibt das derFirma
Auftrieb, was sichauch im Börsenkurs
spiegelt (vgl. Grafik). Und das Unter-
nehmen setzt darauf, dass sich das Inter-
net beiReisen noch mehr durchsetzen
wird.Auffallend ist nämlich, wie unter-
schiedlich dasReiseverhalten in Europa
ist. In den skandinavischenLändern bu-
chenTouristen Badeferien fast aus-
schliesslich über das Internet;in Gross-
britannien liegt der Anteil diesesVer-
triebskanals bei rund 60%, anderswo in
Europa noch weit darunter.

ANZEIGE

Gen- und Zelltherapien sind extrem teuer –


wer soll das bezahlen? SEITE 29


Südtirol boomt, der Landeshauptmann


sieht darin Gefahren – aber auch viele Chancen SEITE 31


DerVerkauf vonBadeferien ist ein schwieriges Geschäft geworden. GLEB GARANICH/REUTERS

QUELLE: BLOOMBERG NZZ Visuals/cke.

Disruptionim Reisemarkt


Lastminute.com Thomas Cook Tui

ProzentualeVeränderung der Aktienkurse
seit dem 22. 8. 2018

–100

–50

0

50

100

150




    1. 2018 22. 8. 2019




NACHRUF


Ein Vorkämpfer für die fr eie Marktwirtschaft


Der amerikanische Unternehmer David H. Kochist imAlter von 79 Jahren gestorben


RENZORUF, WASHINGTON


Er war derWiderspruch
in Person. Zum einen
frönte der weltläufige
David H.Koch seiner
Liebe zumBallett mit
grosszügigen Zuwen-
dungen an das Lincoln
Center for the Perfor-
ming Arts in NewYork; und seit eini-
gen Wochen drängeln sich buchstäblich
Zehntausende von Menschen durch die
neugestaltete Dinosaurier-Ausstellung
im National Museum of Natural His-
tory inWashington, die auch dankKochs
Spende in der Höhe von 35 Mio.$ der-
art spektakulär ausgefallen ist. Gleich-
zeitig aber war der Multimilliardär ein
Teil der «Koch Brothers» – des gerade
im linken Amerika verrufenen Brüder-
paars, das in den vergangenenJahrzehn-
ten alles daransetzte, dasregulatorische


Umfeld fürdas familieneigeneFirmen-
imperium zu verbessern.
David, geboren1940, stand dabei stets
im Schatten seines fünfJahre älteren
Bruders. Charles war es, der nach dem
Tod desVatersFred C. Koch imJahr 1967
die Leitung vonKoch Industries über-
nahm, wie dasKonglomerat heute heisst


  • und dafür verantwortlich war, dass
    der Betrieb zum zweitgrössten privaten
    Arbeitgeber Amerikas aufstieg. Charles
    aber zeigte sich selten in der Öffent-
    lichkeit und zog es vor, in der Provinz-
    stadtWichita (Kansas) zu leben, wo sich
    der Hauptsitz derFamilienholding be-
    findet.David liess sich nach Studien an
    der Eliteuniversität MIT in NewYork
    nieder, wurde Teil der High Society und
    war ein gerngesehenerPartygast; erst als
    er 1991 einen Flugzeugabsturz überlebte,
    wurde sein Privatleben etwas beständi-
    ger. Er heiratete1996 und wurdeVater
    von drei Kindern.


EinAusflug in diePolitik scheiterte
1980:Koch kandidierteauf demTicket
der staatskritischen LibertarianParty
für das Amt des amerikanischenVize-
präsidenten. Zusammen mit dem Prä-
sid entschaftskandidaten Ed Clark ge-
wann er nur 1 Prozent der Stimmen.
Auch später hieltDavid an einigen sei-
ner libertären Ansichten fest: So unter-
stützte er gleichgeschlechtliche Ehe-
schliessungen und eine isolationisti-
scheAussenpolitik.
Und obwohl diesePositionen von
Charlesnicht unterstützt wurden, waren
sich die Brüder einig darin, dass der
eigentlicheFeind «Big Government»
heisst: der angeblich übermächtigeRe-
gierungsapparat inWashington. Eine
möglichst freie Marktwirtschaft sei der
einzigeWeg, um die Prosperität Ameri-
kas zu garantieren.Dass sie aus eigen-
nützigen Motiven handelten, wiesen die
Koch Brothersstets zurück.

AlsVehikel diente denKochs da-
bei der 2004 gegründeteDachverband
Americans for Prosperity, der ihre poli-
tischen Aktivitätenkoordiniert. Direkt
oder indirekt unterstützten sierepubli-
kanischePolitiker und Gruppierungen
mit Spenden in Millionenhöhe;Figu-
renwie der amerikanischeAussenminis-
ter MikePompeo verdanken ihre Kar-
riere diesengrosszügigen Zuwendungen.
In jüngster Zeitallerdings verloren die
Kochs inWashington eher an Einfluss,
auch weil sie die Handelspolitik von Prä-
sident DonaldTrump scharf kritisierten.
So finanzierten dieKochs eine Kam-
pagne, die sich für denFreihandel und
gegen Strafzölle einsetzte.
2018 trat David Koch von seinenFunk-
tionen an der Spitze vonKoch Industries
zurück und zog sich auch aus dem öffent-
lichen Leben zurück.AmFreitagist er im
Altervon79 Jahren an denFolgen einer
Krebserkrankung gestorben.

WirhaltenWort.

Verlässliche Fakten schaffen,
statteinfach Marktkonsens
übernehmen.
Free download pdf