Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

6INTERNATIONAL Samstag, 24. August 2019


Im roten Brandenburg ändern sich die Zeiten


Seit der Wende wird das ostdeutsche Bundesland von Sozialdemokraten regiert – nun versucht eine müde SPD, die AfD noch abzufangen


HANSJÖRG MÜLLER,HOHEN NEUENDORF


Ist esAbsicht,oder ist dieIronie nieman-
dem bewusst? Bevor DietmarWoidke
an diesem lauen Sommerabend Mitte
August in Hohen Neuendorf eintrifft,
einem Städtchen unmittelbar nördlich
von Berlin, spielt dieBand ausgerech-
net Bertolt Brechts «Lied von der Mol-
dau». «Das Grosse bleibt gross nicht und
klein nicht das Kleine», heisst es darin
und:«Es wechseln die Zeiten, da hilft
kein’ Gewalt.»Woidke ist hier, um da-
für zu sorgen, dass sich dieVerhältnisse
nicht ändern: Der Sozialdemokrat ist
Ministerpräsident desLandes Branden-
burg und befindet sich imWahlkampf.
«Es wechseln die Zeiten.Wie wahr»,
wiederholt die Sängerin, nachdem sie zu
singen aufgehört hat, und man meint,
ein kollektives Seufzen gehe durch den
Biergarten.Das Publikum ist mehrheit-
lich älter; es hat dieWende miterlebt
und daher mit Änderungen so seine Er-
fahrung. Dass in Brandenburg, wo die
SPD seit zehnJahren zusammen mit
der Linksparteiregiert, am1. Septem-
ber dierechte AfD stärkste Kraft wer-
denkönnte,gefällt hier kaum jeman-
dem. Draussen imLand mag dieLage
anders aussehen, doch hier im Biergar-
ten sind die Leute den Sozialdemokra-
ten freundlich gesinnt.


Personelle Glücksfälle


Von den drei ostdeutschen Bundes-
ländern, in denen diesesJahr gewählt
wird , ist Brandenburg das einzige, in
dem sich die SPD noch sicher sein kann,
ein zweistelliges Ergebnis einzufahren.
Allerdingskönnte sie ausser von der
AfD auch noch von der CDU überholt
werden. Seit derWende wird dasLand
von Sozialdemokratenregiert.Das ist
weniger selbstverständlich, als es mitt-
lerweile erscheinen mag,denn Bran-
denburg warimmer einkonservatives
Agrarland ohneBallungszentren.
Dass die SPD hierreüssierenkonnte,
hat sie vor allem personellen Glücks-
fällen zu verdanken: Nach derWende
regierte hier der populäre Ministerprä-
sident Manfred Stolpe. Dass sich vor
allem die westdeutsche Presse an Stol-
pes Stasi-Kontakten abarbeitete, löste
bei seinen brandenburgischen Anhän-
gern eher eineTrotzreaktion aus, als
dass sie ihm deswegen gram gewesen
wären. Ebenso wenig störten sich die
meisten Brandenburger daran, dassdie
SPD-ArbeitsministerinRegine Hilde-
brandt, die sich durch ihren Sozialpopu-
lismus denRuf einer Mutter Courage
des Ostens erwarb, einen eher sorglosen
Umgang mit Steuergeldern pflegte.
«Einen wunderschönen guten Abend
allerseits», ruft Woidke in die Menge,
dann ergreift ersteinmal Inka Goss-
mann-Reetz, die lokale SPD-Kandida-
tin, das Wort. Die Geschichte, die sie


erzählt,könnte auch von einem säch-
sischen CDU-Politiker stammen: Die
hübschrenovierten Städte. Die niedrige
Arbeitslosigkeit. Die gute Infrastruk-
tur. Und trotzdem werde dauernd alles
schlechtgemacht.Dass von den Erfolgs-
meldungen, die Gossmann-Reetz herun-
terbetet, sonderlich viel derLandespoli-
tik zu verdanken ist, erscheint zweifel-
haft: Im Bildungswesen, wo in Deutsch-
land dieTeilstaaten das Sagen haben,
steht Brandenburg deutlich schlechter
da als das CDU-regierte Sachsen.

Boomtown amRandeBerlins


Brandenburg ist ein geteiltes Land:
AbgelegeneRegionen bluten aus; der
Speckgürtel um Berlin profitiert vom
Boom der Bundeshauptstadt.1990 hatte
Hohen Neuendorf etwa 8000 Einwoh-
ner; heute sind es 26000. Längst seien
die Alteingesessenen in der Minderheit,
klagt eine ältereFrau im Publikum. Die
Hauspreise stiegen,und auf den Stras-
sen staue sich derVerkehr.Am einen
Ort Niedergang, am anderenWachs-
tumsschmerzen – zu jammern gebe es
in Brandenburg immer etwas,meint
die Frau und lacht, als wollte sie durch
Selbstironie das Klischee vom ewig un-
zufriedenen Ostdeutschen entkräften.
Woidke schlägt in seinerRede den
ganz grossen historischen Bogen. Am
Wahltag, dem1. September, jährt sich

der Ausbruch des ZweitenWeltkriegs
zum 80.Mal. «Nationalismus, Rechts-
extremismus und Hetze haben dieses
Land immer in den Abgrund geführt»,
ruft der 57-Jährige. Dass seineWorte auf
di eAfD gemünzt sind, muss er nicht er-
klären.Vor zweieinhalb Monaten sei er
mit dem russischen Botschafter inBad
Freienwalde gewesen. «3500 sowjeti-
sche Soldaten liegen dort begraben,
blickt man auf die Grabsteine, liest man
Namen wie Sergei, Iwan undWolodja,
17, 18 oder 19 Jahre alt», sagtWoidke.
«25 MillionenTote alleinin d er So-
wjetunion, und daredet einePartei von
einemVogelschiss.»
Von den Schrecken der Geschichte
geht der Ministerpräsident nahtlos über
zu den Mühen der Ebene: Kindergar-
tenplätze, innere Sicherheit, ehren-
amtliches Engagement. «Ichkönnte
Ihnen drei Stunden von jedem einzel-
nen Thema erzählen», so unterstreicht
er seine Sachkompetenz und fasst sich
dann doch kurz. Pflege, Gesundheitsver-
sorgung, Rente, Spitäler:Je längerWoid-
kes Rede dauert, desto mehr sind es die
Themen einer überaltertenGesellschaft,
die er anschneidet.Kein einziges Spital
werde man in Brandenburg schliessen,
erklärt er, und eine Angleichung der ost-
deutschenRenten an westdeutscheVer-
hältnisse müssekommen, «und zwar so
schnell wie möglich». Da ertönt warmer
Applaus von denBänken.

Anders als seine vergleichsweise cha-
rismatischen Amtsvorgänger Manfred
Stolpe und MatthiasPlatzeck istWoidke
ein Ministerpräsident, der sich eher im
Hintergrund hält. Nach denWaldbrän-
den der letztenJahre, da hätten ihm die
erleichterten Einwohner der betroffe-
nen OrteihrenDank abstatten wollen,
berichtet er. «Dankt den Feuerwehr-
leuten», habe er ihnen gesagt.

Die Kunstdes Delegierens


Solch demonstrative Bescheidenheit hat
den Vorteil, dass sie Zurückhaltung auf
anderen, unangenehmeren Gebieten
umso glaubwürdiger wirken lässt.Was
den Flughafen Berlin-Brandenburg an-
geht, der 2011 eröffnet werdensollte
und an dem immer noch gebaut wird,
scheintWoidke für sich selbst eher die
Rolle eines Beobachtersreserviert zu
haben.Während seinVorgänger Mat-
thias Platzeck dasLand imAufsichtsrat
der Flughafengesellschaft vertrat, über-
lässtWoidke dies zwei Staatssekretären.
Platzeckregierte Brandenburg von
2002 bis 2013. Es sei nicht das erste Mal,
dass die SPD um ihre Macht bangen
müsse, erklärt der 65-Jährige amTelefon:
«2004, da war auf gut Deutsch gesagt die
KackeamDampfen.»Damals hatte die
SPD-geführte Bundesregierung gerade
die Hartz-Reformen verkündet.«Armut
per Gesetz»,stand auf den Plakaten der

PDS, der Vorgängerin der Linkspartei.
«Wir standen unterPolizeischutz, und
wenn ich abends heimkam, hatte ich oft
Spuren von Eiern undTomaten auf dem
Jackett», so erinnert sich Platzeck.
Vier Wochen vor derWahl lag die
SPDauch damals in den Umfragen auf
Platz drei. Und doch sei etwasanders ge-
wesen als heute. 2004 habe man gegen
die schlechte Stimmung noch argu-
mentierenkönnen,sagt Platzeck. Eine
Woche vorher habe man gespürt, dass
man gewinnen werde. Heute sei alles viel
diffuser:«Es ist, als würden wirin eine
Glaskugel schauen.»Für die AfDgebe
es imWahlkampf nur einThema: «Am
schlechtenWetter ist für sie einSyrer
schuld, an denWaldbränden ein Ira-
ker.» Die tieferen Gründe für den Um-
schwung sieht Platzeck in den unbewäl-
tigtenFolgender Wende. «1990 hatten
wir keinen Umbruch, sondern einen Zu-
sammenbruch», sagt er.Anfang der nul-
ler Jahre hätten die Ostdeutschen end-
lich wieder Boden unter denFüssen ge-
spürt, doch 2008 sei bereits dieFinanz-
krise gekommen. «Dakonnten sich die
Leute, die ja in der DDR Marxismus
gelernt hatten,bestätigt fühlen, dass der
Kapitalismus nicht funktioniert.»

Verdrängte Kränkungen


Und 2015 kam die Flüchtlingskrise. Er
habe darüber mit einer Psychologin ge-
redet, sagt Platzeck:«Sie meinte,Verlet-
zungen aus der Kindheit würden ver-
drängt, und 20 bis 30Jahre später kämen
sie dann auf einmal wieder hoch.» Der
Auslöser dafür, dass dieVerletzungen
bei den Ostdeutschen wieder aufgebro-
chen seien, sei das vermeintliche Staats-
versagen von 2015 gewesen. «Damals
blieb der Eindruck zurück, der Staat
könne die Leute nicht schützen.»
Im Biergarten von Hohen Neuendorf
versuchtWoidke, dem dauerndenWan-
del ein wenigKontinuität entgegenzu-
setzen. Zwar schleppt sich seineRede
eher dahin, als dass sie irgendjemanden
mitreissen würde, doch die Stimmung ist
aufgeräumt. Der Ministerpräsident tritt
hierals grosser Beruhigerauf.«Machen
Sie sichkeine Sorgen», so könnte man
seine Botschaft zusammenfassen, und
seine sonore Stimme passt gut dazu.
Wer sich umhört, vernimmt an die-
sem Abend nichts Schlechtes über Diet-
marWoidke. Tatsächlich liegen seine
persönlichen Zustimmungswerte weit
vor denen seiner Mitbewerber.Mit den
20 P rozent, die Demoskopen der SPD
prophezeien, müsste die Partei zwar
schwere Verluste hinnehmen, doch
würde sie damit noch immer deutlich
besser abschneiden als die Bundes-SPD
in den Umfragen.AmWahlabend dürfte
sich dies als schwacherTrost erweisen,
dochWoidke wird sich dann immerhin
guten Gewissens sagenkönnen, dass es
an ihm nicht gelegen habe.

SPD-MinisterpräsidentDietmarWoidke setzt in seinemWahlkampf aufKonstanz undpersönlicheBescheidenheit. CARSTEN KOALL / GETTY

JosefHöger, «Blick vomGartenauf Burg undSchlossLiechtensteinbei Mödling»,
©LIECHTENSTEIN.ThePrincel yCollections,Vaduz–Vienna

lgt.ch/values

«U nsereFamil ie investi ert

langfristig–seit1136.»

S.D. PrinzPhilipp vonund zu Liechtenstein, LGTChairmanseit

VALUES WORTHSHARING
Free download pdf