FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 13
Das russische Kulturministerium und
die mit ihm alliierte Russische Militär-
historische Gesellschaft arbeiten hart-
näckig daran, Gedenkstätten für die
Opfer der sowjetischen Geheimpoli-
zei patriotisch und staatstragend um-
zudeuten. Die gegenwärtige Ausstel-
lung an der Gedenkstätte von Katyn,
östlich von Smolensk, wo 1940 mehr
als viertausend polnische Militärange-
hörige vom Geheimdienst NKWD um-
gebracht wurden, präsentiert dieses
Verbrechen als Rache Stalins für die
in den Bürgerkriegsjahren 1919 bis
1921 von Polen gefangen genomme-
nen Rotarmisten. Die von der Militär-
historischen Gesellschaft konzipierte
Schau erwähnt das Geheimprotokoll
des Molotow-Ribbentrop-Paktes
nicht, ebenso wenig wie den War-
schauer Aufstand. Bei einer anderen
Gedenkstätte in Mednoje nahe Twer,
wo ebenfalls polnische Kriegsgefange-
ne, aber auch sowjetische Terroropfer
begraben liegen, wollen patriotische
Kriegsarchäologen unterdessen Über-
reste von Rotarmisten gefunden ha-
ben, die im Zweiten Weltkrieg dort in
einem Militärhospital starben. Das
Staatsfernsehen brachte unlängst
eine Reportage über die Weltkriegs-
soldaten Sergej Kuwajew und Fjodor
Bespalow, die angeblich im Boden
der Gedenkstätte von Mednoje ru-
hen. Freilich befindet sich zwei Kilo-
meter von der Gedenkstätte entfernt
ein offizielles Soldatengrab, wo laut
der Akten des Verteidigungsministeri-
ums auch Kuwajew und Bespalow lie-
gen, merkt die Zeitung „Nowaja gase-
ta“ an. Doch das Ziel der Kampagne
ist offensichtlich, dem Terroropfer-
denkmal eine andere Bedeutung un-
terzuschieben.
Auch in der karelischen Gedenk-
stätte Sandarmoch, einem Massen-
grab von Opfern der Terrorjahre 1938
bis 1939, fanden im August zum wie-
derholten Mal Grabungen der Militär-
historischen Gesellschaft statt, die be-
weisen will, dass dort bis zu fünfhun-
dert Rotarmisten begraben liegen, die
im Zweiten Weltkrieg von Finnen
gefangen genommen und erschossen
wurden. Die Militärhistorische Gesell-
schaft war der Bitte des geschäftsfüh-
renden Kulturministers von Karelien,
Sergej Solowjow, gefolgt, der sich be-
sorgt gab, die „Spekulationen“ um die
Ereignisse von Sandarmoch fügten
dem internationalen Image Russlands
Schaden zu und impften dem Bewusst-
sein seiner Bürger ein unbegründetes
Schuldgefühl gegenüber angeblich um-
gebrachten Vertretern anderer Staa-
ten ein. In Sandarmoch wurden Kare-
lier, Arbeiter des Weißmeerkanals
und Häftlinge des Solowezki-Lagers,
darunter auch ukrainische Intellektu-
elle, hingerichtet, insgesamt etwa
10 000 Menschen. Die von der sowjeti-
schen Staatssicherheit geheim gehalte-
ne Grabstätte war Ende der neunziger
Jahre von dem Historiker Juri Dmi-
triew entdeckt worden. Regelmäßig
finden dort Gedenkveranstaltungen
statt. Nachkommen der Opfer haben
Denkmäler und Namenstafeln aufge-
stellt. Dmitriew wies mehrfach darauf
hin, dass die Kriegsverbrechen, die
Finnen an gefangenen Sowjets verüb-
ten, erforscht und die finnischen Ar-
chive offen seien. Doch die Militärhis-
torische Gesellschaft lässt die von ihr
ausgegrabenen Überreste von sech-
zehn Menschen jetzt von Kriminal-
fahndern untersuchen. Gegen den in-
haftierten Dmitriew läuft ein offen-
sichtlich inszeniertes Kriminalverfah-
ren wegen sexueller Gewalthandlun-
gen an seiner Adoptivtochter. kho
Besseres
Image
Russland deutet seine
Gedenkstätten um
V
or hundert Jahren änderten sich
die Zeiten. Wie Franz Baermann
Steiner es so pointiert ausdrück-
te: „Meine Italienreise müßte
nach Indien gehen.“ Ende des neunzehn-
ten Jahrhunderts machten sich deutsche
Aristokraten und Diplomaten, die über ge-
nügend Reisegeld verfügten, zu Abenteu-
ern nach Osten auf. Anfang des zwanzigs-
ten Jahrhunderts folgten viele Schrift-
steller der Verlockung. Vorbei die Zeiten,
als man sich erlauben konnte, etwa über
Indien zu schreiben, ohne, wie noch die
Romantiker, je einen Fuß in das Land zu
setzen.
Deren ideales Indien war ein Gegenent-
wurf zum realen Leben in Europa gewe-
sen, aus der Frustration über abbröckeln-
de Traditionen und verblassende Welt-
bilder geboren. Mit der Eröffnung des Su-
ezkanals wurde plötzlich die Schiffsreise
drastisch abgekürzt. Stefan Zweig, Max
Dauthendey, Waldemar Bonsels, Her-
mann Keyserling, René Schickele und
Karl Wolfskehl mit dem Künstler Mel-
chior Lechter waren in Indien unterwegs.
Der berühmteste literarische Reisende
war Hermann Hesse. Er brach 1911 auf
und besuchte nur Sri Lanka und das dama-
lige „Hinterindien“, dann kehrte er krank
zurück. Alle Autoren schrieben über ihre
Eindrücke, manche enttäuscht wie Hesse,
einige sogar abgestoßen wie Zweig, ande-
re hellauf begeistert. Was ist von ihren
Werken über Indien heute noch leben-
dig? Der süffisant-herablassende Erleb-
nisbericht „Indienfahrt“ von Waldemar
Bonsels ist nach dem Zweiten Weltkrieg
neu aufgelegt worden. Hesses „Siddhar-
tha“ wurde zum Kultbuch und sein Tage-
buch „Aus Indien“ mehrfach aufgelegt.
Doch was ist mit Hermann Keyserlings
„Reisetagebuch eines Philosophen“, 1919
erschienen, das in der Zwischenkriegszeit
eine erstaunliche Resonanz fand und den
jungen baltischen Grafen berühmt mach-
te? Im Jahr 1880 in Estland geboren,
wuchs Keyserling auf dem Landgut seiner
aristokratischen Familie auf. Nach einem
bewegten Studentenleben in den Metro-
polen Europas machte er sich im Oktober
1911 zu einer einjährigen Weltumrun-
dung auf. Seine Begründung war die aller
Weltreisenden jener Jahre: „Europa för-
dert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir
schon diese Welt, um meine Seele zu neu-
en Gestaltungen zu zwingen.... Ich will
in Breiten hinaus, woselbst mein Leben
ganz anders werden muß, um zu bestehen,
wo das Verständnis eine radikale Erneue-
rung der Begriffsmittel verlangt.“ Ent-
sprechend ist das Motto seines Reisetage-
buchs das sprichwörtlich gewordene „Der
kürzeste Weg zu sich selbst führt um die
Welt herum“.
Keyserling reiste zunächst nach Sri Lan-
ka und Indien, fuhr weiter nach China
und Japan, dann quer durch die Vereinig-
ten Staaten, bevor er nach Europa zurück-
kehrte. Indien erlebte er so intensiv, dass
er nach drei Monaten befürchtete, für Chi-
na und Japan nicht mehr aufnahmefähig
zu sein. Immer wieder nahm er auch im
Fernen Osten sein Indien-Erlebnis als
Ausgangspunkt für Vergleiche und
Maßstäbe. Bleiben wir darum bei seinem
Indien-Kapitel, dem weitaus längsten des
Buches.
Aufs indische Festland übergesetzt,
reiste Keyserling langsam Richtung Nor-
den. Die einzelnen Stationen waren
Rameshvaram, eine Tempelstadt auf der
dünnen Landzunge, die sich in die Benga-
lische Bucht hinausstreckt, dann Madurai
als alte Tempelstadt im Landesinnern;
weiter fuhr er nach Madras, dem heutigen
Chennai, schenkte dort der Theosophi-
schen Gesellschaft in Adyar besondere
Aufmerksamkeit und kommentierte aus-
führlich die Beziehungen der Theosophie
zur klassischen indischen Philosophie
und dem Yoga. Dabei ließ er es an deut-
licher Kritik an der Theosophie nicht feh-
len. Weiter fuhr er ins mittlere Indien
nach Maharashtra, und zwar zu den welt-
berühmten Höhlen von Ellora, die zusam-
men mit Ajanta bis heute touristische
Anziehungspunkte sind. In den Höhlen
befinden sich Hindu-, buddhistische und
jainistische Statuen aus vorchristlicher
Zeit. Als Nächstes wandte sich der Reisen-
de gen Westen, nach Rajasthan. Einzelne
Kapitel sind den Städten Udaipir, Chittor
und Jaipur gewidmet, die heute ebenfalls
noch zigtausendfach besucht werden.
Danach ging es nach Lahore und Pesha-
war, heute pakistanische Provinzhaupt-
städte, und von dort zurück nach Osten in
die Mitte des indischen Subkontinents,
nach Delhi, einer alten Stadt mit großarti-
gen Bauwerken der Mogul-Herrschaft, die
genau um diese Zeit zur Hauptstadt des
Kolonialreichs ernannt wurde. Südlich
von Delhi liegt Agra, wo der Autor über
die sinnliche Schönheit des Taj Mahal re-
flektieren konnte. Benares (oder mit ande-
rem Namen: Varanasi), die bedeutendste
Stätte alter hinduistischer und islamischer
Kultur am Gangesufer, durfte er nicht aus-
lassen. Dieser Wallfahrtsstadt widmete
Keyserling fast hundert Seiten; sie beflü-
gelte ihn zu weiten Gedankenbögen und
Ideenassoziationen wie kein anderer indi-
scher Ort. Ständig oszillierte er mit gewag-
tem Gedankenschwung vergleichend zwi-
schen Hindu- und europäischer Weltsicht.
B
enares war ihm der Höhepunkt
der Indien-Reise. Keyserling liebte
das Atmosphärische der Stadt,
ihre Heiligkeit, ihr Sonnenlicht.
Ihn faszinierten die Beter am Gangesufer,
die frühmorgens ihre heiligen Waschungen
vornahmen. Einer der sogenannten
„Schau-Heiligen“ imponierte ihm durch sei-
nen „wunderbar durchgeistigten Gesichts-
ausdruck“. Allerdings lernte Keyserling
auch die Gegenseite kennen: „Nirgends auf
der Welt bekommt man mehr Aberglauben
und mehr Unverständnis, mehr merkanti-
les Pfaffentum und wohlberechneten
Schwindel zu sehen.“
Noch drei Stationen blieben ihm in Rich-
tung Osten. In Buddh-Gaya hat Buddha
unter dem Bodhi-Baum seine Erleuchtung
empfangen. Dann der Himalaja. Keyser-
ling suchte Indiens höchsten Berg, den
Kanchanjunga, am Horizont zu entde-
cken, „wo nach an Alpenerfahrungen ge-
wonnenem Maßstabe ein über hundert
Meilen entfernter Berggipfel zu sichten
sein müßte; fand jedoch nichts“, bis er zu-
fällig seine Augen aufwärts wandte: „dort,
wo ich nur Himmelskörper vermutete, er-
glänzte sein Firn... Noch nie bin ich
gleich überwältigender Materie gegenüber-
gestanden.“
Die letzte Station, Kalkutta, gipfelte in
einer kaum eine Druckseite beanspru-
chenden, also für Keyserlings ausschwei-
fenden Stil gedrängten Darstellung seiner
Begegnung mit Rabindranath Tagore.
„Rabindranath, der Poet, beeindruckte
mich gar wie ein Gast aus einer höheren,
geistigeren Welt. Nie vielleicht habe ich
so viel vergeistigte Seelensubstanz in
einem Manne verdichtet gesehen.“ Tago-
re war 1911 in Europa unbekannt. Zwei
Jahre später wurde er durch den Nobel-
preis für Literatur schlagartig berühmt.
Es verwundert, dass Keyserling nie-
mals von den Mühen der Tour schrieb,
von Geduldsproben und Erschöpfung, zu-
mal er in Europa als Mann mit einer gut
vernetzten aristokratischen Position be-
quemer hat reisen können. Wie anders
schilderten Hesse und Zweig ihre Befind-
lichkeit! Niemals werden bei Keyserling
Sprach- und Kommunikationsschwierig-
keiten genannt, obwohl gerade sie bis heu-
te Indien-Besucher nerven. Manche die-
ser Schwierigkeiten, etwa eine schwere
Darmerkrankung, stehen – wie Ute Gah-
lings in ihrer Biographie („Hermann Graf
Keyserling – Ein Lebensbild“. Darmstadt
1996) berichtet – nur in den Notizen, die
ihm zur Ausarbeitung dienten.
Das Verlangen, sein eigenes Wesen pro-
teisch in jeder neu erfahrenen Kultur des
Ostens zu entdecken, führte ihn weg von
der europäischen Kultur des „Könnens“.
Mit den Europäern ging er hart ins Ge-
richt, weil sie zu den überlegenen geisti-
gen Erkenntnissen der indischen Philoso-
phen nicht fähig seien: „Daß das Vorbild-
liche der indischen Kultur nicht früher er-
kannt worden ist und, wo dies geschah,
nicht immer zu gutem Ende, liegt an der
Unfähigkeit der meisten, einen Sinn unab-
hängig von der Erscheinung zu erfassen.“
Keyserling forderte, vor der Erscheinungs-
welt die Augen zu schließen, um nur
„Sinn“ oder Symbol oder innere Stim-
mung zu erfahren. Immer wieder hebt er
die „Konzentrationskultur“ als „das Be-
deutendste an Indien“ hervor. Durch Kon-
zentration sei es eben möglich, von den
Erscheinungen abgewandt, in der eige-
nen „Tiefe“ zu bleiben.
Selbst Goethe verschonte er nicht vor
Kritik: „Kein Geist des Westens war kon-
zentrationsfähig genug, um dauernd in sei-
nem tiefsten Selbst zu leben. Am deutlichs-
ten vielleicht tritt dieser Mangel bei Goe-
the in die Erscheinung. Dieser Mann hat
wohl mehr Blitze aus der Tiefe in Worte ge-
bannt, als irgendein neuzeitlicher Mensch;
aber zugleich ist er unfähiger als irgendein
Großer gewesen, in der Region, aus der sie
stammten, zu verweilen. Sein normales
Dasein verlief an der Oberfläche, und
tauchte er zur Tiefe hinab, so mußte er
sich desto länger auf jener erholen.“
Keyserling idealisierte und generalisier-
te, doch blieb er der eher kindlichen Indo-
manie der deutschen Romantiker fern.
Deren Idealisierung Indiens als „Wiege
der Menschheit“ war schon zu Zeiten Key-
serlings als märchenhaft-naiv abgetan.
Die Romantiker hatten nicht die Vorteile,
die Keyserling genoss, der zahlreiche indi-
sche Schriften in Übersetzung gelesen hat-
te und zudem nun Indien selbst erfuhr,
also kenntnisreich und anschauungsgesät-
tigt urteilen konnte. Keyserlings Idealisie-
rung entstammte seiner begeistert emp-
fundenen Affinität zu Indien. Mit sprach-
mächtiger Eloquenz evozierte er genau
beobachtete Bilder. Doch hielt er sich nie-
mals lang bei Schilderungen auf. Bereit-
willig erhob er sich über das konkret be-
schriebene Bild zu Gedankenassoziatio-
nen, die zu den erstaunlichsten spekulati-
ven Erkenntnissen führten.
Dieses Indien-Kapitel hat mir vor Jahr-
zehnten bei der Orientierung, welche Le-
benshaltung, welchen Fühl- und Denk-
kosmos Indien beherrscht, wegweisend
geholfen. Keyserlings Methode können
wir Perspektivismus nennen. Die Wirk-
lichkeit erscheint aus je geänderter Per-
spektive anders. Hermann Keyserling hat
dies souverän durchgespielt. Die Gefahr
ist: Je mehr von den unendlich vielen
Wirklichkeiten erscheinen, desto weniger
können sie konkrete Substanz vermitteln.
Keyserling hatte sich auf Indien vorbe-
reitet. So gründlich scheint er es getan zu
haben, dass er schon zu Beginn der Reise
„alles“ wusste und „alles“ beurteilen
konnte. War dies tatsächlich Vorberei-
tung oder eine Nachbereitung im An-
schluss der Reise? Jedenfalls fehlt im „Rei-
setagebuch“ das allmähliche Wachsen
und Reifen seiner Urteile. Von der Politik
des Landes und seinen sozialen Umstän-
den liest man überraschend wenig. Und
nichts darüber, dass Indien gerade im
Jahrzehnt vor Mahatma Gandhis Eintritt
in die dortige Politik unter der kolonialen
Herrschaft der Briten litt. Das Kasten-
wesen und die Erniedrigung durch die
Kolonialherren sind keine Themen.
W
ie Ute Gahlings berichtet, ist
das „Reisetagebuch“ mit
50 000 verkauften Exempla-
ren in sieben Auflagen „ein
philosophischer Bestseller der Weimarer
Republik“, das in mehrere europäische
Sprachen übersetzt wurde. Sie bezeichnet
Hermann Keyserling als „den wohl popu-
lärsten Nachkriegsphilosophen“ – bezo-
gen auf den Ersten Weltkrieg. In Estland
als Folge der Umstürze enteignet, siedelte
er auf Einladung des mäzenatisch gesinn-
ten Großherzogs Ernst Ludwig mit seiner
Familie nach Darmstadt um. Seitdem war
dort sein Lebensmittelpunkt. Er gründete
die „Schule der Weisheit“, die er bis zu Be-
ginn der Naziherrschaft führen konnte.
Unentwegt schrieb Keyserling, trug vor
und veröffentlichte. Doch heute bleibt er
im Wesentlichen als Autor des „Reisetage-
buchs“ bekannt. Das Buch ist weiterhin
greifbar (Reichl Verlag, St. Goar, 8. Aufla-
ge von 2009).
Dessen tiefe Wirkung zeigt sich an dem
Lob, das ihm sogar Dichter wie Rilke,
Benn, Klaus Mann oder Hesse gezollt ha-
ben. Gottfried Benn ist hin- und hergeris-
sen zwischen Anerkennung und Zweifel:
„Welche unermeßliche Beweglichkeit des
Urteils,... welche nie sich wiederholen-
den Variationen über seine Grundthe-
men“. Und doch: „Wenn ich aber genau
über ihn nachdenke, erscheint mir das Selt-
samste an ihm zu sein, daß auch die äußers-
ten Entscheidungen, die er trifft, Vorschlä-
ge bleiben, Andeutungen, eher Möglichkei-
ten als Wirklichkeit.“ Klaus Mann bewun-
dert „die verführerische Gedankenfülle
dieses Schriftstellers, sein fast bravouröses
Kombinationsvermögen, ich meine: sein
Talent, anläßlich eines Phänomens auf
fünfundzwanzig andere zu kommen.. .“
Hesse hat sich besonders differenziert
ausgedrückt. Zuerst harsche Kritik: „Key-
serling ist ohne dichterische Begabung
und sein sprachlicher Ausdruck wird
schwach und feuilletonistisch, sobald er
andres als Gedanken und intellektuelle Er-
lebnisse dazustellen versucht.“ Dann aber:
„dies Reisebuch im Ganzen ist aber eine
so außerordentliche Leistung, daß diese
Schwächen nichts bedeuten. Als Ganzes
ist dies Buch das bedeutendste, das in
Deutschland seit Jahren erschienen ist.
Keyserling ist der erste europäische Ge-
lehrte und Philosoph, der Indien wirklich
verstanden hat.“ Und weiter: „Als erster
unter all den europäischen Gelehrten hat
er das Einfache, längst Bekannte gesehen
und einfach ausgesprochen, daß der indi-
sche Weg zum Wissen nicht eine Wissen-
schaft ist, sondern eine psychische Tech-
nik, daß es sich um eine Änderung des Be-
wußseinszustandes handelt.. .“ Keyser-
ling habe „als Europäer und kritisch ge-
schulter Denker die tiefe Naivität des Hin-
du erreicht und erlebt“. Hesse prophezeite
1920 dem „Reisetagebuch“ eine „ungeheu-
re Wirkung“. Hundert Jahre später mag
sie nicht mehr ungeheuer sein, aber groß
ist sie immer noch. MARTIN KÄMPCHEN
Naivität als
höchstes
Lob verstanden
Hermann Keyserling 1919, im Jahr der Publikation seines „Reisetagebuchs“ Foto akg
Hermann Keyserlings „Reisetagebuch
eines Philosophen“ begeisterte eine ganze
intellektuelle Generation für Indien.