Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1

Panorama


Wieeine Therapeutin


ihre eigene Patientin


missbrauchte 8


Feuilleton


Angestellte von Google


rebellieren gegen Projekte


des Konzerns 9


Sport


„Dumm angestellt“:


DortmundsNiederlage


bei Union Berlin 23


Schule undHochschule


Warum der 100. Geburtstag


der Waldorfschule auch


in Japan gefeiert wird 12


Wissen


Hormontherapie kann offenbar


das Brustkrebs-Risiko


erhöhen 14


Medien, TV-/Radioprogramm 20,
Das Politische Buch 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 20
Traueranzeigen 18,


Im SüdostenBayerns fällt noch längere
Zeit Regen. Bis zum Abend lässt der Regen
von Nordwesten allmählich nach. Sonst ist
es wechselnd bewölkt mit einzelnen Regen-
schauern oder Gewittern. Temperaturen
17 bis 23 Grad.  Seite 13 und Bayern

Spa-Francorchamps– Der Ferrari-Pilot
Charles Leclerc hat am Sonntag in Belgien
sein erstes Formel-1-Rennen gewonnen.
Nur 24 Stunden nach dem tödlichen Unfall
seines guten Freundes Anthoine Hubert in
der Formel 2, ebenfalls auf dem Kurs in
Spa-Francorchamps, verzichtete Leclerc
auf Jubel. „Es ist schwer, so ein Wochenen-
de zu genießen“, sagte Leclerc. Der Mone-
gasse gewann vor dem WM-Spitzenreiter
Lewis Hamilton (Mercedes). sz  Sport

von robert probst

München –DieAlternative für Deutsch-
land (AfD) hat bei den beiden Landtagswah-
len am Sonntag kräftige Gewinne erzielt.
In Sachsen holte sie laut einer ZDF-Hoch-
rechnung sogar ein Rekordergebnis von
27,5 Prozent (2014: 9,7) der Zweitstimmen.
Trotzdem reichte es in keinem Land,
stärkste Kraft zu werden. In Brandenburg
kam die AfD nach dem vorläufigen amtli-
chen Endergebnis auf 23,5 Prozent (2014:
12,2 Prozent); sie liegt hinter der SPD. Auch
in Sachsen blieb nur der zweite Platz hinter
der CDU. Obwohl keine Partei mit der AfD
koalieren will, nannte Parteichef Jörg
Meuthen das Ergebnis „ein Stück weit eine
Zeitenwende“.
Das Ergebnis ist zugleich eine Schlappe
für die seit 29 Jahren in Sachsen regieren-
de CDU und für die ebenfalls seit 29 Jahren
in Brandenburg regierende SPD, wenn
auch deren Verluste nicht ganz so hoch aus-
fielen wie befürchtet. In Dresden sagte Mi-
nisterpräsident Michael Kretschmer: „Wir
haben es geschafft. Das freundliche Sach-
sen hat gewonnen.“ Laut der Hochrech-
nung landete die CDU bei 32,2 Prozent
(2014: 39,4 Prozent) – das ist das schlech-
teste CDU-Ergebnis in Sachsen jemals. Der
bisherige Koalitionspartner SPD kam auf
7,7 Prozent, ebenfalls ein historischer Tief-
stand, die Linke auf 10,3 Prozent. In Pots-
dam sprach Ministerpräsident Dietmar
Woidke (SPD) angesichts der lange Zeit ver-
heerenden Umfragen von einem „sehr,
sehr guten Ergebnis“. Und fuhr fort: „Ich
bin erstmal froh, dass das Gesicht Branden-
burgs auch in Zukunft ein freundliches
bleiben wird.“ Die SPD konnte 26,2 Prozent
(2014: 31,9) verbuchen, das ist das schlech-
teste SPD-Ergebnis im Land; die Linke –
der bisherige Koalitionspartner – kam auf
10,7 und die CDU 15,6 Prozent.
Zweiter Gewinner des Abends sind die
Grünen, die in beiden Ländern zulegen
konnten, allerdings weniger, als sich die
Partei erhofft hatte. In Brandenburg ka-
men sie auf 10,8 Prozent (2014: 6,2), in

Sachsen auf 8,6 (2014: 5,7). Für die FDP
reichte es in beiden Ländern nicht. In Bran-
denburg werden zudem die Freien Wähler
(5,0 Prozent) in den Landtag einziehen.
Die kommissarische SPD-Vorsitzende
Manuela Schwesig sagte: „Es ist erschre-
ckend, dass eine Partei, die keine klare
Trennlinie zum Rechtsextremismus zieht,
von rund einem Viertel der Wählerinnen
und Wähler unterstützt wird.“ Auch Vertre-
ter der Wirtschaft, der Kirchen und von NS-
Opferverbänden reagierten am Abend mit
Sorge auf das starke Abschneiden der AfD.
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-
Karrenbauer gratulierte Michael Kretsch-
mer per Twitter. Er habe die Wahl „mit po-
sitiver Kraft“ gewonnen. Der frühere Ver-
fassungsschutzpräsident Hans-Georg
Maaßen, der einige Zeit CDU-Wahlkampf
in Sachsen gemacht hatte und wegen sei-
ner rechtslastigen Thesen extrem polari-

siert hatte, nannte das CDU-Ergebnis dage-
gen ein „Desaster“.
Die beiden Wahlen gelten – zusammen
mit der Thüringen-Wahl im Oktober – als
Abstimmung einer Großzahl der Ostdeut-
schen über den Zustand der Einheit 30 Jah-
re nach dem Mauerfall. Von der teils realen
und oft nur gefühlten Kluft zwischen Ost
und West hat die AfD dabei in hohem Maße
profitiert. Starke Wahlergebnisse für die
AfD sind aber seit der Flüchtlingskrise von
2015 und der immer deutlicheren Orientie-
rung der Partei nach rechtsaußen keine Sel-
tenheit mehr. Bei der Wahl in Sachsen-An-
halt holte sie 2016 24,3 Prozent, in Meck-
lenburg-Vorpommern 20,8 Prozent der
Zweitstimmen. Bei der Europawahl im Mai
errang die AfD deutschlandweit zwar nur
knapp elf Prozent, wurde aber in Sachsen
(25,3 Prozent) stärkste Partei, ebenso in
Brandenburg (19,9 Prozent), jeweils vor

der CDU. Auch bei der Bundestagswahl
2017 hatte die AfD schon in Sachsen die
meisten Stimmen geholt.
Beide Ministerpräsidenten kündigten
an, bald Sondierungsgespräche führen zu
wollen. Jeder braucht einen dritten Koaliti-
onspartner. In Frage käme in Brandenburg
ein rot-rot-grünes Bündnis oder eine Koali-
tion aus SPD, CDU und Grünen. Sowohl
Grüne als auch CDU signalisierten am
Abend Gesprächsbereitschaft für diese
„Kenia-Koalition“. Diese Konstellation hät-
te auch in Sachsen eine Mehrheit. Da
Kretschmer mit den Linken kein Bündnis
eingehen will, dürfte „Kenia“ seine einzige
Option sein.
Weil die Landesliste der AfD in Sachsen
wegen Formfehlern auf 30 Kandidaten ge-
kürzt wurde, könnte die Partei Probleme
bekommen, alle ihr voraussichtlich zuste-
henden 39 Mandate zu besetzen. AfD-Lan-
deschef Jörg Urban erklärte, wegen dieser
Benachteiligung vor dem „Verfassungsge-
richt eine Neuwahl erstreiten“ zu wollen.
Die Wahlbeteiligung war höher als vor
fünf Jahren. Sie lag in Sachsen bei 65 Pro-
zent (2014: 49,2 Prozent), in Brandenburg
bei 61,3 Prozent (47,9 Prozent). Die starke
Polarisierung im Wahlkampf mobilisierte
vor allem bisherige Nichtwähler, die aller-
meisten von ihnen stimmten für die AfD.

Warschau– Bundespräsident Frank-Wal-
ter Steinmeier hat sich zur „bleibenden Ver-
antwortung“ Deutschlands für die natio-
nalsozialistische Vergangenheit, Krieg
und Vernichtung bekannt. Bei der zentra-
len Gedenkveranstaltung aus Anlass des
deutschen Überfalls auf Polen, mit dem
vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg be-
gann, sagte Steinmeier in Warschau: „Die-
ser Krieg war ein deutsches Verbrechen.“
Er bat um „Vergebung für Deutschlands
historische Schuld“. Man könne das Leiden
der Opfer nicht ermessen, so der Bundes-
präsident, der auf Einladung seines Amts-
kollegen Andrzej Duda an den Feierlichkei-
ten teilnahm. Aber Unermesslichkeit be-
deute „nicht, dass wir von dem Bemühen
befreit sind, das Leiden der Opfer mitzu-
fühlen“.

Kurzfristig war offenbar auf nachdrück-
lichen Wunsch der polnischen Regierung
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach
Warschau geflogen. Steinmeier sagte in
beider Namen: „Wir werden nicht verges-
sen. Wir vergessen die Wunden nicht, die
Deutsche Polen zugefügt haben.“ Sechs
Millionen Polen fielen dem Krieg zwischen
1939 und 1945 zum Opfer, etwa drei Millio-
nen von ihnen polnische Juden. Am frühen
Morgen hatte Steinmeier bereits in Wieluń
gemeinsam mit Duda des Angriffs auf die
südpolnische Stadt gedacht. Am 1. Septem-
ber 1939 hatten deutsche Sturzkampfbom-
ber von 4.40 Uhr an die strategisch unbe-
deutende Kleinstadt bombardiert, dabei
waren 1200 Menschen getötet worden.
Steinmeier nannte es ein „lebendiges
Wunder der Versöhnung“, dass ein deut-

scher Bundespräsident zum Gedenken an
den Kriegsbeginn in Warschau sprechen
dürfe. Er ging nicht direkt auf die polni-
schen Forderungen nach Reparationen
ein, sagte aber in Wieluń, Unrecht könne
man nicht ungeschehen machen und
„nicht aufrechnen“. Er definierte stattdes-
sen den Zusammenhalt Europas als beson-
dere Aufgabe. „Weil Deutschland – trotz
seiner Geschichte – zu neuer Stärke in Eu-
ropa wachsen durfte, deshalb müssen wir
Deutsche mehr tun für Europa.“
Polens Präsident Andrzej Duda erinner-
te an Millionen Tote, die der Krieg gefor-
dert habe, aber auch an den Widerstand,
den Polen im eigenen Land und in anderen
Staaten geleistet hätten. Sein Land habe
sich „niemals ergeben“, sagte Duda. Der
Präsident verzichtete darauf, die Forde-

rung Polens nach deutschen Reparations-
zahlungen zu wiederholen. Die Bundesre-
gierung betrachtet diese Frage juristisch
als abgeschlossen. Duda forderte hingegen
als Konsequenz aus den Ereignissen vor
80 Jahren, Aggressionen in der Gegenwart
entschlossen entgegenzutreten. Ausdrück-
lich nannte er dabei die militärischen Akti-
onen Russlands in Georgien und der Ukrai-
ne. Auch sagte der Präsident, die Geschich-
te des Kriegs habe für Polen erst mit dem
Fall des Eisernen Vorhangs 1989 geendet.
Vertreter Russlands waren zu den Feierlich-
keiten nicht eingeladen worden.
US-Vizepräsident Mike Pence, der Do-
nald Trump vertrat, würdigte die polni-
schen Opfer, aber auch die US-Soldaten,
die ihr Leben für Europas Befreiung gege-
ben hätten.nico fried  Seiten 4 und 6

München– DieTaliban haben am Wochen-
ende zwei Städte in Afghanistan angegrif-
fen. Beim Überfall auf Kundus wurden am
Samstag laut Regierungsmitteilung min-
destens 25 Menschen getötet; unter den To-
ten seien 20 Sicherheitskräfte. Am Sonn-
tag folgte eine Attacke auf die Stadt Puli
Khumri, 100 Kilometer südlich von Kun-
dus. Zurzeit laufen Gespräche zwischen
den Taliban und den USA über eine Lösung
des Konflikts. sz  Seiten 4 und 6

München– Nach einer Verkehrskontrolle
hat am Samstag ein etwa 30-jähriger
Mann im US-Bundesstaat Texas sieben
Menschen erschossen und viele weitere
verletzt. Der Schütze flüchtete und wurde
wenig später auf einem Parkplatz getötet,
wie die Polizei mitteilte. Über das Motiv
wurde zunächst nichts bekannt. Wie nach
solchen Vorfällen üblich, entbrannte in
den USA wieder die Debatte um schärfere
Waffengesetze. sz  Panorama

Hongkong– Tausende Demonstranten ha-
ben am Sonntag den internationalen Flug-
hafen von Hongkong blockiert. Zugfahrten
wurden ausgesetzt, Starts und Landungen
verzögerten sich. Tags zuvor war es in der
Stadt zu heftigen Zusammenstößen zwi-
schen Polizei und Demonstranten gekom-
men. Es war das 13. Wochenende in Folge,
an dem die autonom verwaltete chinesi-
schen Sonderverwaltungsregion im Zei-
chen des Protests stand. Er richtet sich ge-
gen die Regierung, gegen Polizeigewalt,
aber auch gegen Chinas Führung. Mit neu-
en Truppenverlegungen an die Grenze und
Übungen von Spezialkräften erhöhte Pe-
king den Druck auf Hongkong, nachdem
am Samstag eine zunächst friedlich verlau-
fene Kundgebung eskaliert war. Radikale
Aktivisten blockierten in der Nähe des
Regierungssitzes Verkehrsadern, warfen
Steine, Brandsätze und legten Feuer an
Straßenblockaden. Die Polizei ging mit
Tränengas und Wasserwerfern vor. In das
Wasser wurde blaue Farbe gemischt, offen-
bar mit dem Ziel, Protestierende später
leichter identifizieren zu können. Zweimal
gaben Polizisten auch Warnschüsse in die
Luft ab. sz  Seite 7

23 °/5°


Der zweitwichtigste Mann:Die CDU ver-
liert weniger als befürchtet.  Seite 2
Der Triumph der AfD: Interner Streit
trübt die Stimmung.  Seite 2
Reportage aus Meißen:Wie alte Gewiss-
heiten verloren gingen.  Seite 3
Leitartikel:Die Radikalisierung der AfD
schreckt Wähler nicht ab.  Seite 4
Leitartikel:Eine Chance für die regieren-
den Parteien.  Seite 4
Wahlausgang in den Ländern:Die Zeit
der Blöcke ist vorbei.  Seite 5

HEUTE


Die SZ gibt es als App
fürTablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Tödliche Schüsse


in Texas


Schwere Krawalle


in Hongkong


Die chinesische Regierung reagiert
mit neuen Truppenverlegungen


NACHTS

Beatrix von Storch, Jörg Urban und Jörg Meuthen von der AfD feiern in Dresden.
Ihre Partei ist in Sachsen und Brandenburg zweitstärkste Kraft. FOTO: RATTAY/REUTERS

Ferrari-Pilot Leclerc


siegt inBelgien


Hohe Gewinne für AfD im Osten


Bei denWahlen in Sachsen und Brandenburg erleiden die Regierungsparteien CDU und SPD Verluste.


Die bisherigen Koalitionen können nicht weitermachen. Die Grünen legen zu, die Linke verliert


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Außerdem in


dieser Ausgabe


Steinmeier: „Dieser Krieg war ein deutsches Verbrechen“


Der Bundespräsident bittet um Vergebung für den Überfall auf Polen – auf Reparationsforderungen geht er nicht ein


Taliban greifen


zwei Städte an


DAS WETTER



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MÜNCHNER NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019 75. JAHRGANG/ 36. WOCHE / NR. 202 / 3,00 EURO


FOTO: DPA

BRANDENBURG


SACHSEN


SZ-Grafik: Mainka;
Quellen: Forschungsgruppe Wahlen, Landeswahlleiter

SPD

26,
(-5,7)

AfD

23,
(+11,3)

CDU

15,
(-7,4)

Grüne

10,
(+4,6)

Linke

10,
(-7,9)

FDP

4,
(+2,6)

BVB/FW

5,
(+2,3)

Sonstige

4,
(± 0 )

CDU

32,
(-7,2)

AfD

27,
(+17,8)

Linke

10,
(-8,6)

Grüne

8,
(+2,9)

FDP

4,
(+0,7)

FW

3,
(+1,7))

SPD

7,
(-4,7)

5,
(-2,6)

Vorläufiges amtliches Endergebnis; Wahlbeteiligung: 61,3 % (2014: 47,9%)

Hochrechnung von 22.39 Uhr; Wahlbeteiligung: 66,5 % (2014: 49,1%) *können eventuell nicht alle besetzt werden, da nur 30 Kandidaten auf der Landesliste zugelassen wurden

Sonstige

25 Sitze 23 15 10 10 5


45 Sitze 39* 14 12 10


Sturz in den Wahnsinn: Der „Joker“ im neuen Batman-Film Feuilleton


Gewinnzahlen vom Wochenende
Lotto(31.08.):2, 3, 5, 17, 25, 36
Superzahl: 4
Toto:0, 1, 0, 2, 1, 1, 1, 1, 1, 0, 1, 1, 0
Auswahlwette:3, 10, 13, 15, 25, 37
Zusatzspiel: 14
Spiel 77: 0814243
Super 6:0 1 5 6 7 4 (Ohne Gewähr)
 Weitere Gewinnzahlen:
Wirtschaft, Seite 17

(SZ) Vor ein paar Tagen veröffentlichte der
Nachrichtensender n-tv auf seiner Website
ein Interview mit dem hauseigenen Wetter-
experten. Es ging um den Sommer 2019,
seine Leistung, sein Vermächtnis. Der Wet-
terexperte sagte: „Der Sommer 2019 ist auf
dem besten Weg, den Sommer 2018 in Sa-
chen Temperaturen zu überholen. Selbst
der Sommer 2003 ist aufgrund des anste-
henden August-Finales noch in Schlagdis-
tanz.“ Schlagdistanz ist ein Begriff aus dem
Sport, ein Boxer versucht, in die richtige
Schlagdistanz zu kommen, ein Ruderboot
ist auf Schlagdistanz zum anderen. Weil
aber das Wetter inzwischen gern als Sport-
event verkauft wird, werden die Fachbegrif-
fe übernommen. Ende Juli, während der
heißesten Hitzephase, ging es im Netz zu
wie früher im Radio („Tor in Stuttgart!“) bei
der Bundesligakonferenz: 40,5 Grad in Gei-
lenkirchen! 40,6 Grad in Bonn-Roleber!
42,6 Grad in Lingen!
Inzwischen ist bekannt, dass der Som-
mer 2019 trotz des August-Finales doch
nur der drittwärmste aller Zeiten gewor-
den ist. „Der Sommer 2019 landet auf dem
Treppchen“ trösten dieStuttgarter Nach-
richten. „Bronze in allen Kategorien“,
schreibt das Portalwetteronline.de.Dawä-
re der Sommer also doch noch mit einer
Medaille um den Hals zurückgekommen.
Leider verfügt er über keinen Hals, wird
aber ständig als Wettbewerber beschrie-
ben, warum? Es könnte damit zusammen-
hängen, dass auch das Geschehen an der
Börse mit ähnlichen Begriffen dargestellt
wird, dort ist der Dax die handelnde Per-
son. Der Dax holt auf, der Dax holt
Schwung, der Dax gibt nach. Der Dax –
ganz oft sagen sie das im Fernsehen, bei
„Börse vor acht“ – tritt auf der Stelle. Was
problematisch genug wäre, wenn der Dax
ein Dachs wäre. Er ist aber der Dax.
Ein Kennzeichen der spätkapitalisti-
schen Welt: Vieles ist zu kompliziert, um
von allen durchdrungen zu werden. Nun
will aber der Mensch, das kommunikative
Wesen, auch gern über Themen reden, die
er nicht komplett durchblickt hat. Und
über Rekorde reden kann man immer. Die
Geldbewegungen im modernen Fußball
mögen schwer nachvollziehbar sein, aber
jeder kann es bewundern (oder sich dar-
über empören), wenn der Spieler Neymar
222 Millionen Euro kostet. Der Klimawan-
del ist ein Jahrhundertthema, da kommt et-
was vollkommen Unbekanntes auf die
Menschen zu, die Menschen aber brechen
ihn runter, auf einen Wettbewerb. Als Lin-
gen den neuen deutschen Hitzerekord auf-
gestellt hat, hieß es, der alte Rekord (Kitzin-
gen, 40,3 Grad) sei regelrecht pulverisiert
worden. So haben es die Leichtathletikre-
porter früher gesagt, wenn die Mittel-
strecklerin Jarmila Kratochvílová einen Re-
kord nach dem anderen pulverisierte, ihre
Bestzeit über 800 Meter steht seit 36 Jah-
ren. Es wäre kein schlechtes Zeichen, wenn
auch Lingens Hitzerekord die nächsten
36 Jahre halten würde.


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